Jane saß in ihrem Zimmer und dachte angestrengt nach. Als sie Solchois Männer angegriffen hatte, war sie ihrem Instinkt gefolgt und hatte lange unterdrückte Gefühle zugelassen. In diesem Moment hatte sie über die Folgen ihrer Handlung nicht nachgedacht, was natürlich verantwortungslos gewesen war. Trotzdem würde sie in der gleichen Situation wieder genauso handeln. Sie hasste Anatoly Solchoi mit jeder Faser ihres Herzens. Cally hingegen hatte sie sofort gemocht. Die junge Frau erinnerte sie an ihre alte, verschollene Freundin. Kathy hatte ihr damals nicht gesagt, wohin sie sich wenden würde, um die Familie zu schützen. Was Jane nicht wusste, konnte Solchoi nicht aus ihr herauspressen. Als Jane bemerkte, welche Gefühle Clark, den sie wie einen eigenen Sohn liebte, für Cally entwickelt hatte, war es für sie selbstverständlich, das Mädchen gleichfalls unter ihren Schutz zu nehmen. Einer Vergewaltigung hätte sie niemals untätig zusehen können. Aus Prinzip nicht und in diesem besonderen Fall erst recht nicht.
Jane hatte Vincent angefleht, argumentiert und gebettelt, doch er war unerbittlich geblieben. Um den Frieden zu wahren, sollte sie die Raumstation, die all die Jahre ihr Zuhause gewesen war, verlassen. Und sie würde Clark verlassen müssen, was für Jane noch viel schwerwiegender war. Ohne ihren Schutz fürchtete sie um sein Leben. Clarks Vater war im Grunde viel zu weich und nicht in der Lage, sich gegen Solchoi zu behaupten. Gäbe es die fragile Allianz mit Theresa Grange nicht, hätte Solchoi schon längst versucht, sich der Familie Silvestri zu entledigen. Aber Vincent würde nicht ewig leben, und sobald Clark in seine Fußstapfen treten musste, würde Solchoi zuschlagen. Vincent war für ihre Argumente nicht empfänglich gewesen, er wollte den Frieden zwischen den drei Gruppierungen nicht aufs Spiel setzen. Eher würde er Cally opfern und seinen eigenen Sohn vor den Kopf stoßen. Jane schwor sich, es nicht so weit kommen zu lassen. Sie hatte Kathy versprochen, alles zu tun, um Clark zu beschützen und ihn glücklich zu machen. Dieser Schwur galt bis heute. Notfalls musste sie ihn auch gegen den eigenen Vater verteidigen.
Sie hatte Anatoly Solchoi nie wieder vertraut, nachdem er ihre Freundin vor jene unmögliche Wahl gestellt hatte. Er war abgrundtief böse und seine Methoden, die Vincent nie wirklich geschätzt hatte, zeugten von seinem Charakter. Doch das Oberhaupt der Familie war leider zu schwach gewesen, sich gegen die Brutalität und Skrupellosigkeit Solchois zur Wehr zu setzen, und hatte mitgemacht. Auch dies war sicherlich ein Zeichen einer Charakterschwäche. Clark hingegen war anders! Sobald er alt genug gewesen war, um zu verstehen, wie die Piraten unter Solchois Führung vorgingen, hatte er dagegen protestiert. Nur der Druck durch seinen Vater hatte ihn bisher daran gehindert, öffentlich aufzubegehren.
Nach zwei Stunden angestrengten Nachdenkens war Jane zu einem Entschluss gekommen. Wenn sie alle Faktoren abwog, alle Möglichkeiten bedachte und die Motivationen der Betroffenen ins Kalkül zog, so konnte es nur eine Erfolg versprechende Lösung geben: Clark und Cally mussten Freistatt verlassen. Heimlich, unbemerkt und ohne Clarks Vater vorher davon zu unterrichten. 'Plausible deniability' hatte man das zu ihrer Armeezeit genannt. 'Glaubwürdiges Bestreiten' . Wenn die beiden ohne Vincents Wissen und Unterstützung flohen, so konnte Solchoi ihn kaum dafür verantwortlich machen. Es blieb die Frage, wie man Vincents Unwissenheit glaubhaft vermitteln konnte. Doch auch hierfür gab es eine Lösung: Die Flucht musste nachweislich über den dritten der Piratenclans abgewickelt werden – über Theresa Grange!
Es blieb nur ein Problem: Wieso sollte Theresa den beiden helfen? Aber auch hier hatte Jane bereits eine Idee: All die Jahre hatte sie sich auf die unvermeidliche Auseinandersetzung mit Anatoly Solchoi vorbereitet. Sie würde zwangsläufig stattfinden müssen. Nur unter welchen Umständen es dazu kommen würde, hatte sie nicht gewusst. Nun kam alles zusammen. Solchoi bedrohte zum zweiten Mal die Familie, die Jane zu ihrer eigenen gemacht hatte. Jetzt mussten die Jahre der Planung und Spionage Früchte tragen.
Es war ihr gelungen, mit Bestechung, Drohungen und technischen Mitteln Zugang zu Solchois Datennetzwerk zu erlangen. Daran hatte sie geduldig und über einen langen Zeitraum gearbeitet. Sie hatte Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchen zusammengetragen und konnte nun Einblick in Solchois Geschäfte und Organisationsstruktur nehmen. Diese Informationen hatten ihr als Waffe in dem bevorstehenden Kampf dienen sollen – nun würde sie sie Theresa Grange als Preis für deren Hilfe anbieten. Theresa würde nicht widerstehen können, verschafften diese Informationen ihr doch einen entscheidenden Vorteil in dem von gegenseitigem Misstrauen geprägten Dreierbündnis.
Jemand klopfte an Janes Tür. Sie lächelte, da sie ahnte, wer es nur sein konnte. Er kam immer zu ihr, wenn er nicht weiterwusste.
»Komm rein, Clark!«, rief sie.
Ihr Schützling betrat das Zimmer und sie konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass er ebenfalls zu einer Entscheidung gekommen war. Wie sie ihn kannte, handelte es sich vermutlich um dieselbe, zu der sie gelangt war. Aber sie hatte bereits einen Plan!
»Setz dich, wir haben etwas zu besprechen«, wies sie ihn an.
»Jane, ich …«
»Ich weiß, mein Junge!«, unterbrach sie ihn. »Wir werden Cally nicht diesem Solchoi überlassen, keine Sorge.«
»Aber …«
»Du solltest mich doch kennen«, fiel sie ihm erneut ins Wort. »Vertraue mir, Clark. Ich war immer für dich da und werde dich auch jetzt nicht im Stich lassen.«
»Vater hat mir die Wahrheit über meine Mutter erzählt.«
Für einen Moment war Jane still. Sie blickte ihn überrascht an. Damit hatte sie nicht gerechnet.
»Oh, das kommt wirklich unerwartet«, sagte sie schließlich.
»Warum hast du mir nie etwas davon gesagt?«
»Weil dies nicht meine Aufgabe war. Ich hatte deiner Mutter und deinem Vater ein Versprechen gegeben. Damit hatte ich mich verpflichtet zu schweigen. Aber glaube mir, es ist mir nicht leichtgefallen, dich all die Jahre im Ungewissen zu lassen. Ich bin froh, dass du nun Bescheid weißt.«
Clark nickte. Er kannte Janes ausgeprägtes Ehrgefühl und ihren Sinn für Treue. Sie hätte das seiner Mutter gegebene Versprechen niemals brechen können.
»Was sollen wir bloß machen?«, fragte er verzweifelt.
Jane ging auf ihn zu und umarmte ihn.
»Ich sage dir, was wir nun machen! Hör mir genau zu …«