13.


Jane schlich durch Seitengänge und verborgene Schächte, die schon lange von niemandem mehr benutzt wurden. Sie hatte in all den Jahren Freistatt so gut erkundet wie niemand sonst auf der Raumstation. Die alte Frau kannte jeden Winkel und war in der Lage, sich ungesehen in der Station zu bewegen. Trotzdem hatte sie zusätzlich eine Verkleidung gewählt, die bei einer zufälligen Begegnung ausreichen sollte, ihre wahre Identität zu verbergen. Eine schwarze Perücke und geschickt aufgetragenes Make-up machten sie etliche Jahre jünger. Der Arbeitsoverall wies sie als Lüftungstechnikerin aus, was auch ihren Aufenthalt in den Luftschächten und Versorgungsgängen erklären würde, falls sie dort jemandem über den Weg lief.

Endlich kam sie an ihrem Ziel an. Für den Weg, der über offizielle Gänge, Treppen und Lifte höchstens eine halbe Stunde gedauert hätte, hatte sie mehr als drei Stunden gebraucht. Aber es hatte sich gelohnt – sie war niemandem begegnet. Clark hielt ihr inzwischen den Rücken in ihrem eigenen Sektor frei. Vincent hatte sie unter Zimmerarrest gestellt, würde aber nicht auf die Idee kommen, nachzuprüfen, ob sie sich tatsächlich dort aufhielt. Er war nichts anderes als absoluten Gehorsam von ihr gewohnt und sah sicherlich keinen Anlass, jetzt daran zu zweifeln. Im Fall der Fälle würde Clark behaupten, er habe sie auf eine wichtige Besorgung geschickt, die er niemand anderem anvertrauen konnte. Dies würde Vincent zwar nicht gefallen, aber er würde es zähneknirschend akzeptieren.

Vorsichtig drückte sie die Tür des Versorgungsschachtes auf. Dies war der kritischste Moment des ganzen Unternehmens. Wenn sie jemand dabei sah, würde sofort Alarm ausgelöst werden. Sie befand sich mitten in jenem Sektor, in dem Theresa Grange ihr Hauptquartier eingerichtet hatte. Ein Eindringen in diesen Bereich konnte schnell als Angriff aufgefasst werden. Alle Clanführer waren von Haus aus paranoid und lebten in ständiger Furcht vor einem Komplott. Nicht ganz zu Unrecht, wie Jane zugeben musste, hatte sie doch selbst über die Jahre vorsorglich mehrere Szenarien für mögliche Angriffe auf die beiden anderen Clans ausgearbeitet.

Als niemand zu sehen war, schlüpfte sie in den Gang. Der nächste Schritt war einerseits sehr einfach, andererseits mit einem hohen Risiko verbunden. Sie würde sich einem der Leibwächter der Clanchefin zu erkennen geben und um ein vertrauliches Gespräch mit Theresa bitten. Alles hing davon ab, wie der Mann reagieren würde. Sollte er sofort Alarm auslösen, wäre es um das geheime Treffen geschehen. Solchoi würde sofort von ihrer Anwesenheit erfahren. Auch Vincent würde herausfinden, dass sie ihn hintergangen hatte. Sie konnte nur hoffen, auf einen vernünftigen, abgeklärten Mann und nicht auf einen nervösen Anfänger zu treffen.

Die Entscheidung fiel bereits in der nächsten Sekunde. Ein Wachmann in Uniform kam um die nächste Ecke und blieb überrascht stehen, als er Jane sah. Ihr Gesicht kam ihm nicht bekannt vor und der Arbeitsoverall wies darauf hin, dass sie im privaten Sektor des Grange-Clans nichts zu suchen hatte.

»Was zum Teufel machen Sie hier«, rief er und zückte blitzschnell seine Waffe. »Keine Bewegung!«

Jane hob beide Hände und blieb unbeweglich stehen.

»Ich bin unbewaffnet und stelle keine Gefahr dar«, sagte sie ruhig. »Ich komme im Auftrag von Clark Silvestri und bitte um eine vertrauliche Unterredung mit Theresa Grange. Bitte informieren Sie Ihre Chefin, dass Jane sie zu sprechen wünscht. Und achten Sie unbedingt darauf, dass dies nicht nach außen dringt.«

Als der Wachmann ihren Namen hörte, zuckte er zusammen. Es war inzwischen allgemein bekannt, wie gefährlich diese unscheinbare alte Frau sein konnte.

»Knien Sie sich hin und verschränken Sie die Arme hinter dem Kopf«, befahl er.

Jane folgte seiner Anweisung, ohne zu zögern. Der Wachmann trat vorsichtig hinter sie und legte ihr Handschellen an. Jane musste unwillkürlich lächeln. Sie hätte den Mann mit Leichtigkeit innerhalb weniger Sekunden außer Gefecht setzen können – Handschellen oder nicht. Aber sie war nicht hier, um mit ihren Fähigkeiten zu protzen.

»Bitte achten Sie darauf, dass mich außer Ihnen niemand zu Gesicht bekommt«, drängte sie nochmals.

Der Wachmann sagte nichts, zog Jane jedoch auf die Beine und führte sie ein paar Meter weiter zu einer Tür, hinter der sich ein kleiner Vorratsraum befand.

»Gehen Sie da rein«, sagte er.

Jane betrat den winzigen Raum, der mit Putzmitteln und Reinigungsgeräten vollgestellt war. Der Wachmann nahm ein zweites Paar Handschellen und fesselte sie an die Streben einer Regalwand.

»Warten Sie hier!« Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Wieder musste Jane schmunzeln. Wenn sie gewollt hätte, wäre sie in weniger als zwanzig Sekunden von hier verschwunden.

Es verging etwa eine halbe Stunde, bevor sich die Tür wieder öffnete. Jane hatte sich inzwischen mit wenigen Handgriffen von den Fesseln befreien können. Nun saß sie mit untergeschlagenen Beinen bequem an eine Wand gelehnt auf dem Boden und blätterte in einer uralten Zeitschrift, die eine der Putzkräfte hier vergessen haben musste. Der Wachmann wurde blass, als er sie so sah, und griff nach seiner Waffe.

»Schon gut! Hätte Jane Sie töten wollen, wären Sie bereits nicht mehr am Leben«, sagte eine Stimme hinter dem Wachmann und eine Hand legte sich auf seinen Arm. Dann trat die Gestalt nach vorne.

»Hallo, Theresa«, sagte Jane zur Begrüßung.

»Hallo, Jane«, antwortete Theresa Grange.

Die Chefin des Grange-Clans war um die fünfzig, wirkte aber etliche Jahre jünger aus. Schlank und hochgewachsen, elegant gekleidet und mit halblangem, dunkelbraunem Haar erinnerte sie eher an eine erfolgreiche Geschäftsfrau als an die Chefin eines Piratenclans.

»Ich dachte mir, es wäre vielleicht keine gute Idee, dich noch weiter in meinem innersten Bereich herumschnüffeln zu lassen. Andererseits war ich neugierig zu erfahren, was dieser Auftritt zu bedeuten hat. Warum also das von dir gewünschte Treffen nicht gleich hier abhalten?«

»Wer weiß, dass ich hier bin?«

»Nur der Wachmann und ich. Und er wird schweigen, das kann ich garantieren. Also, Jane, was führt dich hierher?«

»Schicke ihn vor die Tür«, sagte Jane mit einer Kopfbewegung in Richtung des Wachmannes.

»Mylady, ich …«, wollte er protestieren, doch Theresa Grange unterbrach ihn.

»Schon gut, ich kann auf mich selbst aufpassen. Warten Sie draußen.«

Der Mann salutierte und verließ den Raum, Theresa zog die Tür hinter sich zu.

»Warum bist du hier?«, fragte sie nochmals.

»Weil ich deine Hilfe brauche. Im Gegenzug habe ich dir dafür etwas anzubieten, das du dir nicht entgehen lassen wirst«, lächelte Jane.

»Ich kann mir denken, wobei du meine Hilfe benötigst. Aber ich kann mir nichts vorstellen, das mich dazu bewegen könnte, sie dir zu gewähren.«

»Nicht so voreilig, Theresa«, sagte Jane. »Wie wäre es mit der völligen Kontrolle über Anatoly Solchoi – und damit über Freistatt?«