16.


Sie hatten Glück. Jane gelang es, ihre kleine Gruppe unerkannt durch den Silvestri-Sektor zu führen. Ein paar Mal wurde es knapp, doch sie konnten einer Entdeckung stets entgehen. Durch einen verborgenen Zugang schlüpften sie in einen der Versorgungsschächte. Auf Händen und Knien arbeiteten sie sich voran. Jane muss einen außerordentlichen Orientierungssinn besitzen , überlegte Cally. Bei keiner der vielen Verzweigungen zögerte sie auch nur eine Sekunde. In einem anscheinend unbewohnten Bereich verließen sie den Schacht durch eine Wartungsklappe. Der Boden war von einer fingerdicken Staubschicht bedeckt, in der jeder Fußabdruck zu sehen gewesen wäre. Hier war offensichtlich schon lange niemand mehr gewesen.

»Wo sind wir hier?«, fragte Cally.

»Dieser Sektor wurde vor einigen Jahren radioaktiv verseucht, als es ein Leck in einer Kühlmittelleitung des Reaktors gab«, antwortete Jane. »Keine Angst! Wenn wir uns hier nicht zu lange aufhalten, besteht keine Gefahr«, setzte sie hinzu, als sie die besorgten Gesichter ihrer beiden Schützlinge bemerkte.

»Wie lange ist zu lange?«, knurrte Clark.

»Wir sollten nicht länger als zehn Minuten in diesem Bereich bleiben. Andernfalls … nun ja, vielleicht wollt ihr ja irgendwann Kinder haben«, sagte Jane.

Cally war sich nicht sicher, ob das ernst gemeint oder nur ein schlechter Scherz war. Auf jeden Fall war es wahrscheinlich besser, sich zu beeilen.

Schon wenige Meter weiter öffnete Jane eine Klappe in der Wand. Dahinter hörte man Windgeräusche und Cally spürte einen starken Luftzug.

»Der Nebenluftschacht. Er führt direkt zum Hangar im Grange-Sektor«, erklärte die alte Dame.

Auch hier ging es wieder nur auf Händen und Knien vorwärts. Sie waren bereits fast eine Stunde unterwegs, als Jane plötzlich innehielt und einen Finger an die Lippen legte.

»Wir befinden uns nun direkt über dem Hangar«, flüsterte sie kaum hörbar. »Ab jetzt keine lauten Geräusche mehr!«

Vorsichtig schoben sie sich um eine Ecke. Von unten konnten sie Schritte und gedämpftes Gemurmel hören, ohne jedoch die Worte zu verstehen. Erneut signalisierte Jane, möglichst leise zu sein. Cally schob behutsam ein Knie vor das andere und setzte jede Hand so sachte wie möglich auf, während sie weiterkroch. Auf diese Art ging es nur noch erschreckend langsam vorwärts.

Weitere zehn Minuten verstrichen, bis sie wieder an eine Abzweigung kamen. Ein Stück voraus konnte Cally ein Gitter im Boden des Lüftungsschachts sehen, durch welches Licht zu ihnen nach oben drang. Jane robbte vorsichtig heran und spähte nach unten. Dann träufelte sie aus einer kleinen Flasche, die sie aus ihrer Umhängetasche holte, ein paar Tropfen Öl auf die vier Schrauben, die das Gitter hielten. Mit einem winzigen Schraubendreher löste sie die Befestigung, ohne dabei das geringste Geräusch zu verursachen. Sie ergriff das Gitter, hob es vorsichtig heraus und legte es behutsam neben sich auf den Boden des Lüftungsschachtes. Sie warf einen zweiten Blick nach unten und glitt mit den Füßen voran durch die Öffnung. Bevor sie ganz verschwand, winkte sie Cally und Clark, ihr zu folgen.

Sie kamen in einem Lagerraum heraus. An den Wänden waren in langen Regalreihen Ersatzteile für alle möglichen Raumschifftypen gestapelt. Direkt vor ihnen befand sich eine Tür.

»Diese Tür führt genau in den Hangar, in dem das Schiff steht, das wir kapern wollen«, erklärte sie im Flüsterton. »In fünfzehn Minuten sollte der Kerl mit seiner Sklavin kommen, wenn Theresa alles richtig organisiert hat. Die derzeitige Hangarwache wird für gewöhnlich zum gleichen Zeitpunkt abgelöst. Wenn alles klappt, wird die Ablösung allerdings diesmal ein paar Minuten zu spät hier erscheinen. Wir haben nur dieses kleine Zeitfenster, um den Kerl zu überwältigen, das Schiff zu schnappen und abzuhauen.«

Die fünfzehn Minuten vergingen quälend langsam. Niemand sprach ein Wort und die Anspannung lag spürbar im Raum. Jeder hing seinen Gedanken nach – von Angst oder von Hoffnung geprägt. Dann waren vor der Tür Schritte zu hören. Der stakkatoartige Gleichklang mehrerer schwerer Stiefel auf dem harten Boden rührte eindeutig von der abmarschierenden Wachtruppe her. Wieder herrschte eine Minute Stille, bis eine wütende Stimme zu vernehmen war.

»Stell dich nicht so an, sonst zieh ich dir eins über!«

Das leise Weinen einer Frau drang vom Hangar in den Raum. Jane blickte Cally und Clark an, nickte kurz und riss die Tür auf.

Mit gezogenen Waffen stürmten die drei aus ihrem Versteck. Direkt vor ihnen zerrte ein kräftiger Mann eine zierliche, an den Händen gefesselte Frau zu einem kleinen Raumschiff, das in wenigen Metern Entfernung startbereit wartete. Für Cally schien alles in Zeitlupe abzulaufen. Sie wunderte sich noch darüber, dass es sich bei ihrem Fluchtschiff um eine derart elegante und teure Luxusjacht handelte, und fragte sich, wie sich ein Pirat wohl ein solches Schiff leisten konnte. Vollkommen unbeteiligt beobachtete sie, wie der Mann herumfuhr, als er ihre Schritte hinter sich hörte, und sie entgeistert anstarrte. Ein Eisklumpen bildete sich in ihrem Magen – sie kannte den Kerl! Es war der etwa fünfzigjährige Mann, der vor ein paar Tagen Cindy ersteigert hatte. Es schien schon viel länger zurückzuliegen. Dann erkannte sie auch die Frau, die er hinter sich herzog. Mit dem geschwollenen Auge, der aufgerissenen, blutigen Lippe und dem großen blauen Fleck über dem Wangenknochen war sie fast nicht zu erkennen – doch es war eindeutig das junge Mädchen, das mit ihr zusammen entführt worden war. Der Pirat hatte Cindy im Schlepptau.