17.

 

»Wo zum Teufel steckt er?«

Vincent Silvestris Gemütslage schwankte zwischen Verärgerung und Sorge. Es war schon spät in der Nacht und sein Sohn hätte sich eigentlich in seinen Wohnräumen aufhalten sollen, doch dort hatte er ihn nicht angetroffen. Er hatte nochmals den Versuch machen wollen, Clark die verzwickte Lage zu erklären. Vincent konnte den Jungen verstehen. Er hatte am eigenen Leib erfahren müssen, was es hieß, eine geliebte Person zu verlieren. Doch er musste ihm klarmachen, dass es in einer solchen Situation manchmal keine Alternative gab. Sich wegen einer unbedeutenden Sklavin gegen Anatoly Solchoi zu stellen hätte bedeutet, alles zu riskieren, was er in mehr als zwei Jahrzehnten aufgebaut hatte. Es hätte sogar ihren eigenen Tod bedeuten können, womit niemandem gedient wäre. Es galt, abzuwägen. Wie immer im Leben.

Doch er konnte Clark im Wohntrakt nicht finden. Sollte der Junge die Nacht – die letzte Nacht – mit seiner Sklavin verbracht haben, bevor sie an Solchoi übergeben werden musste? Einerseits konnte Vincent diese jugendliche Romantik verstehen, andererseits war es töricht, da es das Unvermeidliche nur noch schmerzhafter machen würde. Clark kannte die Kleine erst ein paar Tage und würde über die Trennung hinwegkommen. Vincent war über einen wesentlich schwerwiegenderen Verlust hinweggekommen. Dagegen verblasste die Bedeutung dieser kleinen Affäre. Er rief nach einem seiner Bediensteten.

»Geh zu Callys Zimmer und hole meinen Sohn dort raus«, befahl er. »Er sollte inzwischen genügend Zeit gehabt haben, um sich von ihr zu verabschieden. Bring ihn zu mir. Ich habe etwas mit ihm zu besprechen.«

»Sofort, Chef«, sagte der Mann und ging, um den Befehl auszuführen.

Nach zehn Minuten war klar, dass auch Cally nicht aufzufinden war. Vincent Silvestri verspürte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Er konnte nur hoffen, dass sein Sohn nicht dumm genug war, zu glauben, er könne sich mit Cally von Freistatt absetzen. Vincent ließ sich mit der Hangarwache seines Sektors verbinden.

»Ich erteile ein sofortiges Flugverbot für alle meine Schiffe«, ordnete er an. »Das gilt auch für meinen Sohn, sollte er bei euch auftauchen.«

Der Pirat am anderen Ende der Leitung teilte Vincent mit, dass im Hangarbereich des Silvestri-Clans derzeit alles ruhig sei und keine Flugbewegungen anstünden. Etwas beruhigter rief Vincent einen anderen Bediensteten zu sich.

»Bring Jane hierher. Ich muss sie sofort sprechen.«

Vielleicht würde sie ihm sagen können, was sein Junior vorhatte und wo er sich herumtrieb.

Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass auch Jane spurlos verschwunden war. Sie hatte seinen Hausarrest missachtet. Eine Befehlsverweigerung von ihrer Seite schien undenkbar. Aus dem unguten Gefühl wurde ernsthafte Besorgnis. Vincent konnte sich nicht vorstellen, dass seine langjährige Vertraute so dumm sein sollte, sich auf die Seite seines Sohnes und damit gegen ihn zu stellen. Sie musste wissen, in welche Lage sie die ganze Familie brachte, wenn sie Clark und Cally zur Flucht verhalf. Solchoi würde dies zum Anlass nehmen, die schon lange überfällige Auseinandersetzung mit dem Silvestri-Clan zu forcieren. Er würde dabei nicht nur Theresa Grange, sondern auch die Mehrheit aller Bewohner von Freistatt auf seiner Seite haben. Niemand würde Verständnis dafür aufbringen, wenn der Sohn eines Clanchefs sich über die Regeln in dem Piratenunterschlupf hinwegsetzte – und jeder würde annehmen, Vincent hätte ihm und seiner Sklavin bei der Flucht geholfen. Er verfluchte die jugendliche Unvernunft seines Sohnes.

Es war eine verzwickte Situation. Er konnte nicht von seinen Männern nach den Vermissten suchen lassen, da dies Solchoi sofort bekannt werden würde. Vincent war nicht so naiv, anzunehmen, es gäbe keine Spione unter seinen Leuten. Solchoi hatte, ebenso wie er selbst, mit Sicherheit bezahlte Informanten in den gegnerischen Reihen. Er konnte jedoch auch nicht einfach die Hände in den Schoß legen und überhaupt nichts unternehmen.

Es war ihm nicht klar, wie Clark von Freistatt entkommen wollte. Seinen eigenen Schiffen hatte er Startverbot erteilt und an Schiffe der beiden anderen Clans heranzukommen war unmöglich. Andererseits durfte er Janes Einfallsreichtum nicht unterschätzen. Wenn sie sich wirklich gegen ihn gestellt hatte und entschlossen war, den beiden jungen Leuten bei der Flucht zu helfen, würde sie auch einen Weg finden.

Nach Lage der Dinge gab es nur eines, was er tun konnte, um mit heiler Haut aus der Sache herauszukommen: Er musste Solchoi informieren. Sollte sein Gegenspieler auf anderen Wegen vom Verschwinden der beiden erfahren, würde es fast unmöglich sein, ihn davon zu überzeugen, dass Vincent nichts damit zu tun hatte. Der Gedanke widerstrebte ihm, aber er sah keine andere Lösung, wenn er nicht eine Auseinandersetzung mit Solchoi riskieren wollte. Widerwillig griff er zum Interphone. Natürlich hatte er eine direkte Leitung zu seinem Erzfeind, ebenso wie umgekehrt. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie zum letzten Mal benutzt worden war. Die beiden Männer vermieden jeden direkten Kontakt und ließen ihre Botschaften von Emissären überbringen. Diesmal war ein persönliches Gespräch jedoch unumgänglich.

Auf dem kleinen Bildschirm erschien das übermüdete Gesicht von Anatoly Solchoi. Vincent musste ihn aus dem Schlaf gerissen haben.

»Was willst du, Vincent?«, knurrte er ohne jede Begrüßung. »Wenn du glaubst, du könntest …«

»Es gibt eine unerfreuliche Entwicklung«, unterbrach Vincent ihn. »Ich wollte, dass du es von mir persönlich erfährst. Mein Sohn und diese Frau sind spurlos verschwunden.«

Jetzt hatte er Solchois volle Aufmerksamkeit.

»Was soll das? Willst du mich verarschen?«

»Hör zu, Anatoly, ich weiß, was du jetzt denkst, aber ich versichere dir, dass ich damit nichts zu tun habe.«

»Du hältst mich wohl für vollkommen verblödet? Ausgerechnet ein paar Stunden bevor du mir die Frau übergeben musst, verschwindet sie gemeinsam mit deinem Bastard. Was für ein Zufall! Jeder weiß, dass niemand in deinem Sektor einen Schritt tun kann, ohne dass du Kenntnis davon hast.«

»Jane ist bei ihnen.«

Solchoi zog die Augenbrauen hoch.

»Ah, willst du mir sagen, dass die alte Hexe dich hintergangen hat?«

»Ich will dir sagen, was ich gesagt habe. Im Moment kann ich weder meinen Sohn noch Jane oder die Sklavin finden. Meine Männer werden meinen gesamten Bereich auf den Kopf stellen. Selbstverständlich wird dir die Frau übergeben, sobald wir sie gefunden haben. Ich wollte nur, dass du es zuerst von mir erfährst.«

»Wenn Jane bei ihnen ist, werdet ihr sie nicht so einfach finden. Ich sage dir eines, Silvestri: Wenn mir die Frau nicht morgen früh wie abgemacht überstellt wird, werde ich eine Triumviratssitzung einberufen. Ich bin sicher, Theresa wird es nicht gutheißen, wenn Abmachungen zwischen den Clans nicht eingehalten werden.«

»Ich habe meinen Schiffen Startverbot erteilt – du solltest für die nächsten paar Stunden das Gleiche tun!«

Solchoi lachte in die Kamera. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, die drei hätten eine Chance, eines meiner Schiffe zu kapern? Nein, mein Lieber, wenn sie von der Station entkommen sollten, dann nur mit einem deiner Kähne. Und dann weiß ich, woran ich bin! Ich warne dich: Sieh zu, dass du dieses Problem in den nächsten Stunden lösen kannst. Wenn ich die Frau nicht wie abgemacht erhalte, wird aus deinem derzeitigen Problem etwas weitaus Schwerwiegenderes!«

Ohne einen weiteren Kommentar legte Solchoi auf. Vincent atmete tief durch. Diese unangenehme Aufgabe wäre erledigt. Als Nächstes galt es, eine ungleich schwierigere Herausforderung zu meistern: Er musste die Flüchtige finden. Mit Jane an ihrer Seite würde das nicht ganz so einfach werden.

Er rief seine besten Leute zu sich ins Quartier und erteilte die entsprechenden Befehle. Die drei mussten gefunden werden. Ansonsten drohte eine offene Auseinandersetzung mit Solchoi, der in dieser Angelegenheit den Grange-Clan auf seiner Seite haben würde. Dies würde das Ende für die Silvestri-Familie bedeuten.