26.

 


Esteban Hernandez eilte sofort zu Anatoly Solchoi, als dieser ihn rufen ließ. Es konnte sich nur um die Nachricht handeln, die er seit drei Tagen sehnsüchtig erwartete. Er brannte darauf, hinter der kleinen Schlampe herzujagen, die ihn zum Gespött der eigenen Leute gemacht hatte. Nicht, dass man ihm dies offen ins Gesicht gesagt hätte, aber er wusste nur zu gut, wie hinter seinem Rücken getuschelt wurde. Die spöttischen Blicke, wenn er einen Raum betrat, sagten mehr als tausend Worte.

Solchoi erwartete ihn bereits ungeduldig.

»Ich weiß, wo sie sind!«, sagte er triumphierend. »Einer meiner Informanten hat vor wenigen Minuten eine Subraumnachricht geschickt. Sie sind in Halo-City auf Rotaron.«

Hernandez hatte bereits von dem Planeten und der Stadt gehört, war jedoch selbst noch nicht dort gewesen. Er wusste lediglich, dass Halo-City als Stadt galt, in der die Gesetze der Föderation keine Geltung mehr besaßen. Mehrere Banden und Gruppen hatten sie unter sich aufgeteilt, und ein falscher Schritt genügte, um zwischen die Fronten zu geraten.

»Ich fliege sofort los«, knurrte Hernandez mit kaum verhohlener Freude.

»Das Schiff ist startbereit«, bestätigte Solchoi. »Such dir einen Mann aus, der dich begleitet. Mit der schnellen Jacht kannst du in zwei Tagen dort sein.«

Hernandez dreht sich um und wollte aus dem Raum stürmen, als Solchoi ihn nochmals zurückhielt.

»Denk dran, Esteban, Clark und die Kleine müssen wohlbehalten zurückgebracht werden. Vermassele es nicht!«

»Keine Angst, Boss«, sagte Hernandez. »Ich werde mich zurückhalten. Vorerst!«

Solchoi nickte und sah Esteban Hernandez nach, als dieser den Raum verließ. Er hoffte, dass der hitzköpfige Mann sich wirklich zusammennahm. Sollte Clark Silvestri zu Schaden kommen, konnte dies unschöne Konsequenzen nach sich ziehen. Solange er nicht genau wusste, auf wessen Seite Theresa Grange stand, konnte er keine Auseinandersetzung mit dem Silvestri-Clan riskieren.

Vincent Silvestri saß in seinem Arbeitszimmer und brütete über einem Stapel Abrechnungen, als seine direkte Leitung zu Theresa Grange aufblinkte. Es kam sehr selten vor, dass sich die Chefin des verbündeten Clans persönlich bei ihm meldete. Wenn sie es tat, waren die Nachrichten in der Regel unerfreulich. Er nahm das Gespräch mit düsteren Vorahnungen an.

»Ja, Theresa!«

»Solchoi weiß, wo dein Sohn und seine Freunde sich aufhalten«, begann sie ohne Umschweife. »Sie sind in Halo-City auf Rotaron. Er schickt Esteban Hernandez hinterher.«

»Woher …?«, wollte er fragen, doch ihm war klar, dass Theresa ihm die Quelle ihrer Informationen nicht verraten würde. Es wurmte ihn, dass ihre Spione im Solchoi-Clan offensichtlich fähiger waren als seine eigenen.

»Warum sagst du mir das?«, fragte er stattdessen. Theresa musste etwas von ihm wollen, wenn sie ihn freiwillig mit Informationen versorgte.

»Es ist von Vorteil, wenn du in meiner Schuld stehst«, antwortete sie völlig offen. »Die Situation hier in Freistatt ist im Fluss, und wer weiß, wie die Dinge sich entwickeln. Eines Tages könnte ich diese Schuld einfordern.«

Verwundert fragte sich Vincent, ob sie ihm soeben eine Allianz gegen Anatoly Solchoi angeboten hatte. Aber es war nicht der rechte Moment, um über solche zukünftigen Möglichkeiten nachzudenken. Theresa Grange war eine ausgezeichnete Strategin, was ihre Entscheidungen im noch verdeckt geführten Machtkampf auf der Raumstation betraf. Unter einer Schale lag eine andere, darunter noch eine und dann eine weitere – wie bei einer Matrjoschka-Puppe. Was auch immer sie tat, es war niemals so offensichtlich, wie es den Anschein hatte. Sie war auf ihre Art nicht weniger gefährlich als Anatoly Solchoi.

»Ich zahle stets meine Schulden«, antwortete Vincent ausweichend und ging nicht weiter auf die Implikationen in Theresas Aussage ein.

»Das ist gut zu wissen«, lächelte sie von dem kleinen Bildschirm. »Und es mir auch lieber, sie nicht eintreiben zu müssen.« Sie beendete das Gespräch ohne ein weiteres Wort.

Ihre letzte Bemerkung konnte auch als Drohung verstanden werden, was wiederum eine verborgene Bedeutung haben konnte. Vincent seufzte. Es hatte keinen Sinn, jedes ihrer Worte analysieren und interpretieren zu wollen. Jetzt war es wesentlich dringender, die Information schnellstmöglich zum eigenen Vorteil zu nutzen. Er rief Alexandre DeChamp zu sich.

Nur wenige Minuten später summte es an der Tür. Ein Blick auf den Monitor zeigte Vincent, dass sein Leutnant eingetroffen war. Er betätigte den Türöffner und Alex trat ein.

»Es ist so weit, Alex«, sagte Vincent. »Solchoi weiß, wo sich Clark und Cally aufhalten.«

DeChamp nickte. Er musste selbstverständlich annehmen, dass sein Boss über seine Spione im feindlichen Lager an diese Information gekommen war. Vincent entschied, dass dies nicht der geeignete Zeitpunkt war, ihn über den ungewöhnlichen Anruf Theresas in Kenntnis zu setzen.

»Er wird Hernandez hinter ihnen herjagen. Sie sind in Halo-City«, fügte er hinzu.

»Ich war einmal dort, und es ist kein Ort, an den ich gerne zurückdenke«, sagte Alex. »Es ist für Clark und seine Freunde dort nicht ungefährlich.«

»Ich frage mich ebenfalls, warum Jane sie ausgerechnet dorthin gebracht hat«, wunderte sich Vincent. »Sie muss dort jemanden kennen, der in der Lage ist, sie alle von unserem Radar verschwinden zu lassen. Eine andere Erklärung habe ich nicht.«

»Dann sollte ich mich beeilen, bevor ihnen dies gelingt - oder bevor Hernandez sie findet.«

»Er ist noch nicht abgeflogen. Kein Schiff hat Freistatt in den letzten Stunden verlassen. Wenn du dich sofort auf den Weg machst, wirst du vor ihm auf Rotaron sein.«

Im Sektor des Grange-Clans saß Theresa nachdenklich in ihrem Arbeitszimmer. Sie war mit sich zufrieden. Der Deal mit Jane war Gold wert gewesen. Durch den geheimen Zugriff auf Solchois Datennetz hatte sie die Information über den Aufenthaltsort der Gesuchten im gleichen Moment erhalten wie ihr Konkurrent. Sie kam sich vor wie eine Spinne im Netz. Solchoi konnte keine Geheimnisse vor ihr haben und Silvestri war ihr zu Dank verpflichtet. Beide Männer würden früher oder später aufeinander losgehen. Wenn sie ihre Karten richtig ausspielte, konnte sie als Siegerin dieser Auseinandersetzung hervorgehen, ohne sich aktiv einmischen zu müssen. Nein, dachte sie, keine Spinne! Eher eine Puppenspielerin, die die beiden Männer wie Marionetten für sich tanzen lässt. . Mit etwas Glück und Geschick konnte ganz Freistatt schon bald ihr allein gehören. Doch es gab noch eine Facette in ihren Überlegungen, die nicht nur strategischer und taktischer Natur war, wie sie sich eingestehen musste.

Nur eine Stunde später verließen zwei Schiffe in kurzem Abstand die Raumstation. Eine Jacht des Solchoi-Clans flog, wie man sich unter der Hand erzählte, in einer Aufklärungsmission zu einem kürzlich entdeckten Kolonialplaneten, dessen Plünderung sich lohnen könnte. Ein schnelles Schiff des Silvestri-Clans hingegen, so das gezielt gestreute Gerücht, hatte den Auftrag, zum Rigel-System zu fliegen, wo die Flüchtlinge angeblich in einem den dortigen Gasriesen umkreisenden Habitat gesichtet worden waren.