In dem mehrere Hundert Quadratmeter großen Raum herrscht das nackte Chaos. Buchstäblich! Die gesamte linke Wand wurde von einer langen Theke beherrscht, an der Männer und Frauen – sowie einige Gestalten, deren Geschlecht auf den ersten Blick nicht zu bestimmen war – in mehreren Reihen das vielleicht halbe Dutzend Barkeeper auf Trab hielten. An der Stirnseite des Saales befand sich eine halbrunde Bühne, auf der ein Knäuel von nackten Körpern unter den anfeuernden Rufen der Zuschauer an den Tischen in einer orgiastischen Darbietung sämtliche Stellungen des Kamasutra in Szene zu setzen schien. An der rechten Wand waren gepolsterte Sitzgruppen aufgereiht, die von den 'Künstlern' angeregten Gäste dazu dienten, einzelne Stellungen der Bühnentruppe nachzuspielen. Cally verzog angewidert das Gesicht. Über all dem lag der wummernde Bass eines rhythmischen Instrumentalstückes, der noch in der Magengrube zu spüren war. Cindy stand mit offenem Mund neben ihr, lief puterrot an und war sichtlich schockiert. Clarks Gesichtsausdruck schwankte zwischen Belustigung und Abscheu, nur Jane schien von all dem unberührt und ging zielstrebig auf die Bar zu, ohne dem Geschehen rings um sie mehr als nur einen flüchtigen Blick zu gönnen. Cally ergriff Clarks Hand und Cindys Oberarm und zog die beiden einfach hinter Jane her.
Sie zwängten sich zwischen den an der Theke dicht gedrängt stehenden Besuchern des Etablissements hindurch. Die wummernde Musik wurde nur noch vom Radau der Gäste übertönt. Es war nicht leicht, bei diesem Lärm einen der Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen, doch endlich gelang es Jane, einen der jungen Männer herbeizuwinken.
»Wo finde ich Bellamy?«, schrie sie so laut sie konnte.
Unwillkürlich huschte der Blick des Mannes zu einer Seitentür am Ende der Bar huschte, bevor er scheinbar ratlos mit den Schultern zuckte und sich abwandte. Jane hatte gesehen, was sie sehen wollte. Sie bedeutete den anderen, ihr zu folgen.
Wieder schnappte sich Cally Clark und Cindy und zog sie durch die Menge. Auf den wenigen Metern bis zur Ecke des Raumes, wo sich die Tür zum restlichen Teil des Gebäudes befand, wurde sie wiederholt von betrunkenen Männern begrapscht und bekam eindeutige Angebote zu hören. Clarks Blick wurde immer wütender, doch sie drückte ihm besänftigend die Hand. Es war viel zu gefährlich, sich hier auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Endlich erreichten sie die Tür, vor der sie erneut auf einen der bulligen Typen trafen, die wohl Bellamys Schutztruppe und Leibwache bildeten.
»Kein Durchgang!«, rief er ihnen zu, was Cally eher an seinen Lippen ablesen, als in dem infernalischen Lärm verstehen konnte.
Wie von Zauberhand hielt Jane plötzlich eine Waffe in der Hand und drückte sie dem Muskelprotz auf den Bauchnabel. Sie nickte Clark zu, der an den beiden vorbeiging und die Tür öffnete. Jane schob den Leibwächter in den dahinter liegenden Gang. Cally und Cindy folgten ihr. Clark zog die Tür hinter sich zu und es herrschte himmlische Stille. Die Schalldämpfung war erstklassig.
Linker Hand führte eine Treppe nach oben, rechts endete der Gang vor einer Tür mit der Aufschrift 'Office'. Die einzige andere Tür an der Längsseite war als Toilette gekennzeichnet.
Jane drückte den Bodyguard an die Wand.
»Clark«, sagte sie. »Halte den Kerl in Schach, während ich Bellamy suche. Wenn er auch nur mit der Wimper zuckt, leg ihn um.«
Clark zog seinerseits eine Waffe unter seiner Jacke hervor und legte auf den Mann an. Er wusste zwar nicht, ob er den Mumm aufbringen würde, tatsächlich zu schießen, setzte aber ein grimmiges Gesicht auf, um bei dem Typen erst gar keine Zweifel aufkommen zu lassen. Jane trat einen Schritt zurück und gab Cally ihre Waffe.
»Du bewachst die Treppe. Wenn jemand herunterkommt, schieße direkt vor seine Füße.«
Cally nickte, obwohl ihr diese Vorstellung nicht behagte.
Jane ging zu der Tür am Ende des Ganges und öffnete sie, ohne vorher anzuklopfen. Ihr direkt gegenüber saß ein dicker Mann in ihrem Alter hinter einem ausladenden Schreibtisch. Er war allein in dem Raum und lächelte sie an.
»Hallo, Jane«, sagte er. »Beeindruckend! Viereinhalb Minuten vom Eingang bis zu mir.«
»Du solltest deine Mannschaft austauschen, Bellamy.«
Er lachte nur und schüttelte den Kopf.
»Ihr wurdet beobachtet, seit ihr aus dem Taxi gestiegen seid. Hier sind überall winzige Videokameras angebracht.« Er deutete auf eine Reihe von Monitoren an der Seitenwand. Auf einem waren Clark, Cally und Cindy im Gang hinter Jane zu sehen. Andere zeigten den Parkplatz, den Eingang mit dem Raum dahinter und aus verschiedenen Blickwinkeln den Schankraum. »Wenn ich dich nicht erkannt hätte, wärt ihr niemals lebend bis zu mir vorgedrungen. Ich wollte sehen, wie du es anstellst. Wäre ich der Meinung gewesen, du würdest eine Bedrohung darstellen, hätten meine Männer euch spätestens an der Bar ausgeschaltet. Bis zu mir hättet ihr es niemals geschafft!«
Jane grinste ihn an. »Schön dich wiederzusehen, Bellamy!«
»Wie die Zeit vergeht«, sagte er. »Hol deine Freunde rein und lass den armen Chris gehen. Er hatte Anweisung von mir, euch nicht allzu viel Widerstand entgegenzusetzen.«
Jane drehte sich um und wies Cally und Clark an, die Waffen wegzustecken und in das Büro zu kommen. Der Bodyguard grinste und zwinkerte Jane zu.
»Macht die Tür hinter euch zu«, sagte Bellamy, als die vier vor seinem Schreibtisch versammelt waren. »Es ist lange her, Jane.«
»Fast fünfundzwanzig Jahre«, antwortete sie. »Du hast Karriere gemacht.«
Bellamy zuckte lächelnd mit den Schultern. Er war klein gewachsen, aber kugelrund und sein kahler Schädel glänzte wie eine Billardkugel. Seine Augen versanken fast in dem feisten Gesicht und ein Mehrfachkinn schwabbelte bei jeder Bewegung des Kopfes. Er war mit einem lose hängenden Kaftan in psychedelischen Farben bekleidet und trug an jedem seiner Wurstfinger mindestens zwei Ringe.
»Ihr wisst, dass auf euch ein Kopfgeld ausgesetzt wurde.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
»Wir hatten es befürchtet«, antwortete Jane.
»Keine Angst! Ich brauche nicht noch mehr Geld«, lachte der kleine, dicke Mann.
»Ich hatte gehofft, du würdest aus alter Freundschaft darauf verzichten, uns zu verraten, und nicht, weil du schon reich genug bist«, erklärte Jane grinsend.
»Das auch, liebste Freundin, das natürlich auch. Wie kann ich euch helfen?«
»Wir sind auf der Suche nach Kathy.« Sie deutete auf Clark. »Das hier ist ihr Sohn.«
»Kathy. Ein Name, den ich schon lange nicht mehr gehört habe. Ein gefährlicher Name in dieser Stadt. Selbst nach so langer Zeit. Es gibt hier immer noch Leute, die ihn nicht vergessen haben.«
»Gefährlich? Kathy war nur eine Frau zwischen zwei Männern«, wunderte sich Jane.
Bellamy lachte. »Du warst ihre beste Freundin und hast es nicht gewusst? Kathy war eine Undercover-Agentin der Föderation und auf Anatoly Solchoi und Vincent Silvestri angesetzt. Beide galten schon lange als unzuverlässig. Zunächst waren sie lediglich ihre Zielpersonen, doch dann hat sie sich in Vincent verliebt. Irgendjemand in Halo-City kannte die Geschichte und hat geplaudert. Ich habe nie herausfinden können, wer es war. Agenten der Föderation haben hier eine sehr kurze Lebenserwartung. Ich fürchte, sie hätte nach ihrer Verbannung nicht hierherkommen sollen!«