Unbemerkt voneinander versammelten sich drei Gruppierungen rings um das Mondkalb.
Direkt vor dem Gebäude hatte Bellamy seine übliche Wachtruppe von einem Dutzend Männer postiert; im Inneren waren noch einmal acht Wachen auf die verschiedenen Etagen verteilt. Es herrschte allgemeine Langeweile unter den Männern. Seit Jahren hatte es keine Auseinandersetzungen mit anderen Clans und Banden mehr gegeben und die tägliche Routine ging auf Kosten der Konzentration. Bellamys Position galt als gesichert, und seine Allianzen und Absprachen mit anderen Territorialfürsten der Stadt, so kompliziert sie teilweise auch sein mochten, hielten das fragile Machtgefüge in Halo-City seit geraumer Zeit stabil. Man war nachlässig geworden. Aus all diesen Gründen entging Bellamys Männern, was sich in der näheren Umgebung abspielte.
Chad Thorenson, Esteban Hernandez’ Gastgeber, hatte dreißig seiner Kämpfer aufgeboten. Er tat dies nicht nur aus Verbundenheit zu Hernandez’ Boss, Anatoly Solchoi, sondern erhoffte sich von den kommenden Stunden auch eine Machtverschiebung in Halo-City zu seinen Gunsten. Carpe Diem – nutze den Tag! Schon viel zu lange hatte Bellamy für Thorensons Geschmack seine Stellung genießen können. Der Dicke war ihm seit langer Zeit ein Dorn im Auge. Bisher war es Thorenson zu riskant erschienen, ihn anzugreifen, da Bellamy über nicht zu unterschätzende Bündnisse mit anderen Clanchefs verfügte. Das Verstecken einer geflohenen Sklavin verstieß jedoch gegen die ungeschriebenen Regeln sämtlicher Gruppierungen. Es würde selbst Bellamys engsten Verbündeten schwerfallen, Thorensons Angriff zu verurteilen, geschweige denn ihm deswegen den Krieg zu erklären. Bellamy hatte die Regeln verletzt und musste bestraft werden! Wenn danach Teile von Bellamys kleinem Imperium an Thorenson fielen, war dies eben die Konsequenz dieses Vergehens. Niemand würde Thorenson deswegen Schwierigkeiten bereiten. So oder so – Bellamy hatte einen Fehler begangen und war so gut wie erledigt.
Allerdings waren sich auch Thorensons Männer ihrer Sache zu sicher, und so entging ihnen, dass sich in den umliegenden Straßen und Gassen ein zweiter Ring immer enger um sie schloss. DeChamp hatte von seinem Gastgeber zwar nur fünfzehn Frauen und Männer zur Verfügung gestellt bekommen, aber dies sollte für seinen Plan ausreichen. Er hatte nicht vor, das Mondkalb zu stürmen. DeChamp wollte Hernandez die Drecksarbeit machen lassen. Sollten sie sich doch dabei aufreiben, die Flüchtigen aus ihrem Versteck zu holen. Alexandre DeChamp würde den Ausgang der Schlacht abwarten und erst dann zuschlagen. Er rechnete damit, dass Hernandez mindestens die Hälfte seiner Truppe bei dem Angriff verlieren würde. Wenn er zusätzlich das Überraschungsmoment nutzte, würde es ihm und seinen Leuten anschließend nicht schwerfallen, den Überlebenden die Beute zu entreißen. Falls es Hernandez wider Erwarten nicht gelingen sollte, das Mondkalb einzunehmen, würde er sich ungesehen zurückziehen und über einen Alternativplan nachdenken. Solange sich Clark und seine Freunde in dem Gebäude in Sicherheit befanden und dem Zugriff von Hernandez entzogen waren, bestand kein Grund für eine überhastete Aktion. Er musste nur abwarten, wie sich die Dinge in der nächsten Stunde entwickeln würden.
Im Mondkalb war die ehemalige Freundin von Clarks Mutter inzwischen eingetroffen.
»Hallo, Reina, lange nicht gesehen!«
Die Frau saß mit finsterem Gesichtsausdruck vor Bellamys ausladendem Schreibtisch und war sichtlich verärgert, wie ihre Antwort auf seine Begrüßung zeigte.
»Du bist noch fetter geworden, Bellamy.«
Cally, Clark, Cindy und Jane standen an die Seitenwand gelehnt und beobachteten die Szene schweigend. Kurz zuvor hatten zwei Männer die ältere Frau gewaltsam in Bellamys Büro geführt und sie in den Sessel gezwungen. Es war offensichtlich, dass sie nicht freiwillig hier war.
»Noch immer so charmant wie früher«, ging Bellamy lächelnd über ihre Beleidigung hinweg. »Du hast dich allerdings auch nicht gerade zu deinem Vorteil verändert, meine Liebe.«
»Was willst du von mir? Warum bin ich hier?«
»Und noch genauso direkt, wie ich es in Erinnerung habe.« Noch immer lächelte Bellamy freundlich. Nur wer genauer hinsah, konnte die Härte in seinem Blick erkennen. »Das habe ich immer an dir gemocht, Reina. Du kommst ohne Umschweife auf den Punkt. Na schön, dann halte ich es genauso. Wohin ist Kathy damals geflohen?«
Reina war sichtlich verwirrt. Sie blickte ihr Gegenüber völlig überrascht an. Ihre Verblüffung war sicher nicht gespielt.
»Das fragst du mich jetzt? Nach fast fünfundzwanzig Jahren? Und deshalb holen mich deine Schergen gegen meinen Willen hierher? Was soll der Scheiß?«
Reina musste in etwa in Janes Alter sein, sah allerdings wesentlich älter aus. Sie wirkte verhärmt und schmächtig, nicht zäh und beinahe unverwüstlich wie die ehemalige Elitesoldatin. Ihre Haut war fahl und runzlig und ihre ganze Erscheinung wirkte beinahe mitleiderregend. Das graue Haar trug sie zu einem strengen Knoten aufgesteckt und ihre Kleidung machte den Eindruck, als ob sie jeden Credit zusammenhalten musste. Auch Bellamy hatte all dies bemerkt, wie seine nächsten Worte zeigten.
»Du bist damals einfach verschwunden, Reina. Es sieht so aus, als hättest du seitdem nicht gerade eine glänzende Karriere hingelegt.«
»Ich komme schon zurecht«, antwortete sie trotzig.
»Als Puffmutter in einem drittklassigen Bordell«, stellte Bellamy ungerührt fest. »Nicht gerade eine Erfolgsgeschichte.«
»Schwafele nicht rum! Sag mir, was du wirklich von mir willst!«
»Wie ich bereits gesagt habe: Ich will wissen, wohin Kathy damals verschwunden ist.«
»Du meinst diese Frage tatsächlich ernst«, wunderte sich Reina. »Woher das plötzliche Interesse an einer Sache, die so lange zurückliegt?«
»Dies ist ihr Sohn!« Bellamy deutete auf Clark. »Er hat Sehnsucht nach seiner Mutter.«
Nun war Reina wirklich überrascht. Sie sah den jungen Mann ein paar Sekunden prüfend an und nickte.
»Ja, ich kann die Ähnlichkeit sehen. Er hat ihre Augen und ihren Mund.«
»Also, Reina, wirst du ihm helfen?«
»Nein!«
»Kannst du nicht oder willst du nicht?«
Reina schwieg einige Sekunden. Immer noch hatte sie ihren Blick prüfend auf Clark gerichtet.
»Ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist«, sagte sie schließlich. »Sie hat es mir nie verraten. Sie befürchtete, Anatoly Solchoi könnte versuchen ihr zu folgen, um Rache zu üben, und mich deswegen unter Druck setzen. Was ich nicht weiß, kann man nicht aus mir herausprügeln.«
Cally konnte sehen, wie Clark die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand. Doch dann fuhr Reina fort.
»Aber nach so langer Zeit dürfte Solchoi das Interesse an Kathy verloren haben. Ich weiß zwar nicht, wohin sie von hier aus geflogen ist, aber ich glaube zu wissen, wo ihr endgültiges Ziel lag. Sie wollte höchstwahrscheinlich zur Erde.«
Bellamy sah sie ungläubig an.
»Das ist Unsinn! Dort hatte sie nichts Gutes zu erwarten. Sie war zwar ursprünglich eine Agentin der Föderation, aber in dem Moment, als sie ein Verhältnis mit Vincent Silvestri begann und auf ihre Befehle pfiff, galt sie dort als Verräterin. Warum hätte sie sich ausgerechnet in der Höhle des Löwen vor Solchoi verstecken sollen?«
»Weil man dort nichts von ihrem Verhältnis mit Silvestri wusste! Das hat sie mir jedenfalls so gesagt. Man hätte sie mit Kusshand wieder aufgenommen. Ihre Kenntnisse über die Strukturen der Raumpiraten waren Gold wert.«
»Warum hat dann die Föderation nie den Versuch unternommen, Freistatt anzugreifen? Wenn Kathy ihnen all unsere Geheimnisse verraten hätte, wäre es ein Leichtes gewesen, uns auszuräuchern?«, schaltete sich Jane in das Gespräch ein.
»Daran dürfte der junge Mann dort schuld sein«, lächelte Reina. »Sie hätte sicher nichts getan, was das Leben ihres Sohnes gefährden würde. Und bei einem solchen Angriff wäre das Nest der Raumpiraten sicherlich zerstört worden. Sie wird ihnen irgendeine tolle Geschichte erzählt haben – nur nicht die volle Wahrheit. Ganz sicher hat sie ihnen nicht die Koordinaten der Raumstation genannt.«
»Das sind alles nur Vermutungen«, knurrte Bellamy. »Spekulationen, Hirngespinste!«
»Mag sein.« Reina zuckte mit den Schultern. »Aber es ist alles, was ich Kathys Sohn sagen kann.«
»Ich glaube …«, begann Bellamy, als plötzlich Schüsse zu hören waren. »Was zum Teufel ist da draußen los!«
Mit einem lauten Krachen schlug die Tür hinter Reina nach innen auf. Ein blutüberströmter Mann taumelte einen Schritt in den Raum und brach zusammen. Dann warf sich ein weiterer von Bellamys Männern durch die offene Tür, rollte sich ab und feuerte hinter sich in den Gang.
»Boss, wir werden angegriffen«, keuchte er.