32.

 


Alexandre DeChamp lag wieder auf einem Dach, von wo aus er einen guten Blick auf das Mondkalb hatte. Im Gegensatz zum letzten Mal war es diesmal wesentlich schwieriger gewesen, sich unbemerkt hinaufzuschleichen. Hernandez’ Truppe war viel aufmerksamer, als er gehofft hatte, doch schließlich war es ihm gelungen, unbeobachtet eine Stelle zu finden, die ihm einen guten Überblick ermöglichte. Er hatte ungefähr dreißig Frauen und Männer gezählt, die allmählich einen Ring um das Mondkalb zogen. Dann konnte er beobachten, wie zwei von Bellamys Männern aus einem Schweber stiegen und eine ältere Frau in das Gebäude führten. Dem Anschein nach kam sie nicht freiwillig mit. Die beiden hielten sie jeweils an einem Arm fest. Er wusste nicht, wer die Frau war und welche Rolle sie spielte, dies war jedoch für seine Pläne unerheblich. Über sein Kehlkopfmikrofon befahl er seinen Leuten, sich bereitzuhalten. Es musste gleich losgehen.

Tatsächlich schwankten nur wenige Minuten später drei junge Männer und eine Frau anscheinend völlig betrunken über den Parkplatz zum Eingang. Er konnte nicht genau beobachten, was in dem kleinen Vorraum hinter der Tür vor sich ging, doch ein zweimaliges kurzes Aufblitzen deutete darauf hin, dass dort eine Waffe abgefeuert worden war. Sein Verdacht bestätigte sich, als Sekunden später acht weitere Männer im Sturmschritt über den Platz eilten und in das Mondkalb eindrangen. Im gleichen Moment blitzte es auch hinter dem Gebäude mehrmals auf. Dort musste der Angriff ebenfalls begonnen haben. Jetzt konnte er nur noch abwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden.

Esteban Hernandez wartete noch ein paar Minuten, nachdem die ältere Dame von Bellamys Männern in das Mondkalb geführt worden war, bevor er den Befehl zum Angriff erteilte. Der Plan war recht einfach: Zunächst sollten vier seiner Leute die beiden Wachen am Eingang ausschalten. Dann würden acht weitere Kämpfer hinterherstürmen und sich um die im Innern postierten Wachen kümmern, während der Rest seiner Truppe sich in einem Zangenangriff von der Rückseite her Zutritt zum Gebäude verschaffen würde. Mit dem Überraschungsmoment auf ihrer Seite sollte der Plan aufgehen.

Zunächst lief alles glatt. Die Wächter an der Tür wurden problemlos ausgeschaltet und der Sturm auf das Mondkalb begann. Gleichzeitig brachen seine Leute eine Hintertür auf. Allerdings hatten sie auf dieser Seite des Hauses nicht mit einem derartigen Widerstand gerechnet. Es dauerte viel zu lange, bis der Durchbruch gelang und man den bereits im Mondkalb kämpfenden Frauen und Männer zu Hilfe eilen konnte. Während dieser Minuten waren sie dort in der Unterzahl und wurden niedergemacht. Das Zahlenverhältnis begann sich zu Hernandez’ Ungunsten zu verschieben.

Ziel der Aktion war der Trakt hinter dem Schankraum, wo sich Bellamys Räumlichkeiten und die Gästezimmer befanden. Dort mussten sich die Gesuchten aufhalten. Hernandez befürchtete, dass Thorensons Leute durch die verzögerte Unterstützung an der hinteren Front in Schwierigkeiten geraten könnten und letztlich gezwungen sein würden, den Angriff vorzeitig abzubrechen. Dies konnte er nicht zulassen. Er beschloss, selbst in den Kampf einzugreifen, stürmte aus seiner Deckung quer über den Parkplatz und betrat eilig das Innere des Mondkalbs.

DeChamp war überrascht, als Hernandez plötzlich losrannte und sich in das Schlachtgetümmel warf. Dies veränderte die Sachlage dramatisch. DeChamp war davon ausgegangen, dass man die Gesuchten aus dem Mondkalb bringen und sie Hernandez übergeben würde. Dann wäre es an der Zeit gewesen, sie ihm seinerseits abzujagen. Jetzt nahm Hernandez jedoch selbst an den Kämpfen teil, womit DeChamp nicht gerechnet hatte. Ein General blieb normalerweise hinter den Linien. Dadurch bestand die Gefahr, dass Hernandez Clark und seine Freunde nicht erst außerhalb des Gebäudes in Empfang nehmen würde, sondern bereits vorher Zugriff auf sie erhalten würde. Einen Zugriff, der DeChamp keine Möglichkeit zum Eingreifen bot. Eine Situation, bei der Hernandez mit einem sich wehrenden Clark aneinandergeraten konnte. Mit eventuell fatalen Folgen für den Sohn seines Bosses. Dies durfte er nicht zulassen! Es gab nur eine Lösung: Er musste ebenfalls hinein, um Clark gegebenenfalls vor Hernandez zu beschützen.

Aus dem Gang zischte ein hellgrüner Ionenstrahl in Bellamys Office und traf den zuletzt hereingekommenen Mann in den Hinterkopf. Der Strahl fuhr aus der Stirn wieder heraus und schlug Funken sprühend in der Wand neben Bellamy ein. Der Getroffene blickte für einen Sekundenbruchteil überrascht, bevor seine Augen brachen und er tot zusammensackte.

Wie hingezaubert erschien eine Waffe in Janes Hand. Bellamy, der direkt gegenüber der Tür saß, fuhr seinen Neutrograv-Rollstuhl blitzschnell zur Seite, um aus dem Schussfeld zu entkommen. Cindy schrie auf und klammerte sich an Clark. Cally hingegen warf sich todesmutig nach vorn, robbte über den Boden zu dem Erschossenen und schnappte sich seine Waffe. Reina saß wie gelähmt in ihrem Sessel und rührte sich nicht. Sie befand sich im direkten Schussfeld.

»Geh in Deckung!«, schrie Jane ihr zu, doch es war zu spät.

Wieder zischte ein Schuss durch die offene Tür und diesmal traf er die ältere Frau. Der Strahl durchschlug die Rückenlehne ihres Sessels und drang mit nahezu unverminderter Energie in ihren Rücken ein. Sie schrie auf und sank vornüber. Aus dem sichtbaren Einschussloch kräuselte sich Rauch nach oben. Sie musste sofort tot gewesen sein.

Cally lag immer noch auf dem Boden, den erbeuteten Strahler schussbereit in der Hand. Schon als kleines Mädchen war sie mit ihrem Vater und ihrem Bruder auf die Jagd gegangen. Schusswaffen waren ihr nicht fremd, auch wenn sich im Dorf hauptsächlich altertümliche Projektilwaffen befunden hatten. Da es keinen Nachschub mehr gegeben hatte, waren die Energiezellen für die wenigen Strahlwaffen allmählich zur Neige gegangen. Aber das Prinzip war das gleiche: Zielen und Abdrücken!

Clark sah mit Erstaunen, wie Cally aus ihrer liegenden Position, den Sessel mit der toten Reina als Deckung nutzend, in den Gang feuerte. Cindy wimmerte mit vor Angst geweiteten Augen und war weiß wie die Wand, an die sie sich pressten. Jane hechtete neben Cally und begann ebenfalls, den Vormarsch der Angreifer, wer immer sie sein mochten, aufzuhalten. Bellamy war inzwischen zu Clark und Cindy geschwebt; hier, dicht an der Seitenwand, befanden sie sich aus Sicht der Schützen in einem toten Winkel.

»Gibt es einen anderen Weg hier raus?«, fragte Clark durch den Lärm des Kampfgetümmels. Die Schreie von Frauen und Männern, das Zischen der Energiestrahler und das Donnern schwerkalibriger Projektilwaffen erfüllten das Gebäude.

»Ich fürchte, nein«, musste Bellamy zugeben.

»Verdammt! Wir können uns hier nicht ewig verbarrikadieren.«

»Meine Männer werden den Angriff zurückschlagen«, sagte Bellamy mit wenig Überzeugung in der Stimme.

Clark hatte ebenfalls seine Zweifel und überlegte, wie sie von hier entkommen konnten, falls es Bellamys Männern nicht gelingen sollte, den Überfall abzuwehren. Doch so sehr er sich den Kopf auch zermarterte, er fand keine Lösung. Der einzige Ausgang war die Tür und dahinter lauerten die Angreifer.

Jane und Cally nahmen die Türöffnung unter Dauerfeuer. Solange sie noch genug Energie in ihren Strahlern hatten, konnten die Angreifer nicht durch dieses Nadelöhr in Bellamys Büro vordringen. Cally und Jane hätten sie wie auf dem Schießstand einen nach dem anderen abschießen können. Aber irgendwann würden die Energiezellen leer sein. Dann gab es nichts mehr, was den Gegner noch aufhalten konnte.