34.

 


Anatoly Solchoi war zufrieden. Vor Kurzem war eine Nachricht von Esteban Hernandez eingegangen. Er hatte die Gesuchten ausfindig gemacht und in diesem Moment musste der Angriff auf ihr Versteck stattfinden. Vielleicht war es an der Zeit, auch hier in Freistatt die Machtbalance zu seinen Gunsten zu verschieben. Er hatte Vincent Silvestri lange genug neben sich toleriert. Wenn Theresa Grange nicht so undurchschaubar wäre, hätte er schon viel früher zugeschlagen. Das Biest ließ einfach nicht erkennen, auf wessen Seite sie im Ernstfall stand. Manchmal war er sich sicher, sie auf seine Seite ziehen zu können, dann wieder gab es Momente, wo er annehmen musste, Theresa könnte Silvestri unterstützen. Er war Realist genug, um zu wissen, dass er alleine zu schwach war, um es mit beiden gleichzeitig aufzunehmen. Doch nun hatte er einen Plan, der Erfolg versprechend schien. Sollte Hernandez demnächst Clark Silvestri in seiner Gewalt haben, konnte er ihn als Druckmittel benutzen, um den alten Silvestri in die Knie zu zwingen. Alles konnte ohne einen einzigen Schuss vonstatten gehen. Dies würde Theresa keinen Grund zum Eingreifen liefern, auf wessen Seite sie stehen mochte. Vincent Silvestri würde eher seine Position freiwillig räumen, als zuzulassen, dass seinem Filius etwas geschah. Alles hing nun von Esteban Hernandez ab und davon, was derzeit in Halo-City geschah.

Im Trakt des Silvestri-Clans war zur gleichen Zeit Vincent Silvestri sehr überrascht, als Theresa ihn schon wieder auf der privaten Leitung anrief. Welches Spiel spielte sie? Er nahm das Gespräch an.

»Hallo, Theresa. Was verschafft mir diesmal die Ehre?«

»Solchois Mann hat deinen Sohn und dessen Freunde gefunden. In diesem Moment versucht er, sie aus ihrem Versteck herauszuholen. Ich nehme an, du hast ebenfalls jemanden hinter ihnen hergeschickt. Ich hoffe, er ist gut genug, um Hernandez aufzuhalten.«

Silvestri spürte, wie sich ein eisiger Klumpen in seiner Magengrube bildete. Mehrere Fragen schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Er atmete tief durch. Was sich in Halo-City abspielte, konnte er von hier aus nicht beeinflussen. Er musste darauf hoffen, dass Alex DeChamp die Situation in den Griff bekommen würde. Aber einige der drängenden Fragen stellten sich direkt hier, in Freistatt!

»Theresa, ich schätze deine Bereitschaft, Informationen mit mir zu teilen. Aber ich frage mich, woher du sie hast, und vor allem, warum du sie mir gibst?«

Theresa Grange schwieg einen Moment. Dann lächelte sie Vincent an.

»Wir sollten uns persönlich treffen. Du kannst Ort und Zeit bestimmen. Wo auch immer, ich werde dort sein.«

Silvestri beschloss, ihre Aufrichtigkeit sofort auf die Probe zu stellen.

»Jetzt, sofort, in meinen privaten Räumlichkeiten.«

Natürlich würde sie sich niemals darauf einlassen. Es war viel zu gefährlich für das Oberhaupt eines Piratenclans, sich in das Hauptquartier eines anderen Clanchefs zu wagen. Selbst wenn es sich um einen verbündeten Clan handelte. Womöglich würden die Mitglieder des anderen Clans die Situation ausnutzen, um sich einen Konkurrenten vom Hals zu schaffen. Das Risiko war viel zu groß. Er war gespannt, welche Alternative Theresa vorschlagen würde. Er wollte sich einen Eindruck verschaffen, wie aufrichtig ihr Angebot war. Doch ihre Antwort schockierte ihn regelrecht.

»Ich mache mich umgehend auf den Weg. Ich werde alleine kommen. Meine Leibwache wird am Eingang zu deinem Bezirk zurückbleiben.«

Ohne ein weiteres Wort legte sie auf. Vincent Silvestri saß wie vom Donner gerührt an seinem Schreibtisch. Es war undenkbar, dass sie sich als Clanchefin ohne jeden Schutz in das Territorium eines anderen Clans wagen wollte. So etwas hatte es noch nie gegeben. Spielte sie mit ihm? Machte sie sich über ihn lustig? Die nächsten Minuten würden zeigen, ob sie wirklich bereit war, sich ohne jede Rückversicherung in seine Hände zu begeben.

Theresa legte auf und erschrak vor ihren eigenen Worten. Hatte sie wirklich gerade zugestimmt, Vincent Silvestri ohne ihre Leibwächter in seinem Hauptquartier zu besuchen? Die Worte waren ihr einfach so aus dem Mund gekommen. Konnte sie das wirklich riskieren? Es war verrückt und unverantwortlich, doch irgendetwas sagte ihr, dass sie von Silvestri nichts zu befürchten hatte. Außerdem brauchte sie ihn, wenn sie ihren Plan umsetzen wollte. Und zudem … aber das war eine andere Geschichte.

Eine halbe Stunde später führte einer von Vincent Silvestris Leibwächtern Theresa in das Arbeitszimmer des Clanchefs. Sie war mehrfach durchsucht worden, aber man hatte weder Waffen noch überhaupt technische Gerätschaften bei ihr gefunden.

Die etwa fünfzigjährige Frau, genau kannte niemand ihr Alter, trug ein eng anliegendes rotes Kleid, ihre halblangen, dunkelbraunen Haare schimmerten seidig. Ihre wohlgeformte Figur wurde von der Kleidung mehr als nur betont. Silvestri fragte sich, ob sie ihre weiblichen Reize einzusetzen gedachte, um ihr Anliegen, was auch immer es sein mochtet, durchzusetzen.

»Hallo, Vincent!«

Sie lächelte ihn an und nahm unaufgefordert auf der Besuchercouch in einer Ecke des Raumes Platz. Es blieb Silvestri nichts anderes übrig, als hinter seinem Schreibtisch hervorzukommen und sich ebenfalls zu der Sitzgruppe zu begeben, wenn er sich nicht quer durch den Raum mit ihr unterhalten wollte. Er ärgerte sich über diesen psychologischen Schachzug, mit dem sie ihn in seinen eigenen Räumen dazu zwang, zu ihr zu kommen.

»Theresa, ich muss zugeben, dass du mich wieder einmal überrascht hast«, sagte er zur Begrüßung.

»Weil ich alleine hierherkomme? Ich habe doch von dir nichts zu befürchten, oder?«

Ihr kokettes Lächeln wirkte völlig offen und entwaffnend. Er wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Selbst wenn er vorgehabt hätte, die Gelegenheit zu nutzen, um einen Konkurrenten loszuwerden, hätte er dies wohl kaum zugegeben. Er musste vorsichtig sein und jedes ihrer Worte hinterfragen, ebenso wie sie es tun würde.

»Darf ich dir etwas anbieten?«, fragte er, anstatt zu antworten.

»Warum nicht«, sagte sie.

Wieder war er fassungslos. Er hätte es sich dreimal überlegt, im Hauptquartier eines anderen Piratenclans überhaupt etwas zu sich zu nehmen. Man konnte schließlich nie sicher sein, was sich in den Speisen oder Getränken befand. Es wäre nicht der erste Giftanschlag auf einen Konkurrenten gewesen.

»Whiskey?«, fragte er. Theresa nickte zustimmend.

Er stand auf, ging zur Bar und brachte zwei leere Gläser sowie eine Flasche sündhaft teuren schottischen Single-Malt an den niedrigen Couchtisch. Er füllte jeweils einen Fingerbreit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in die Gläser und überließ Theresa demonstrativ die Auswahl. Sie lächelte verstehend. Nur so konnte sie sicher sein, dass nicht eines der Gläser präpariert war. Genauso demonstrativ nahm er den ersten Schluck.

»Hm … du musst mir eines Tages deine Quelle für diesen Stoff verraten«, lobte sie den Whiskey, nachdem sie daran genippt hatte.

»Wo wir beim Thema Quelle sind«, kam Vincent ohne Umschweife zum Thema. »Wie kommt es, dass du so genau darüber Bescheid weißt, was bei Solchoi vor sich geht? So gut können deine eingeschleusten Spione nicht sein. Meine sind es zumindest nicht.«

Natürlich rechnete er nicht mit einer ehrlichen Antwort, aber sie versetzte ihn erneut in Erstaunen.

»Ich habe Zugriff auf sein Netzwerk und kann unter anderem jegliche Kommunikation mithören«, gestand sie.

Er warf resignierend die Arme in die Luft.

»Lass uns aufhören, um den heißen Brei herumzureden!«, rief er. »Das, was hier gerade geschieht, ist völlig irreal. Du kommst alleine hierher, erzählst mir offen von deiner Quelle bei Solchoi und trinkst meinen Whiskey, der vergiftet sein könnte – was er, nebenbei bemerkt, nicht ist. In einem Punkt hast du jedoch recht: Du hast von mir nichts zu befürchten. Trotzdem ist all dies mehr als nur ungewöhnlich. Also, Theresa, was geschieht hier? Was bedeutet das alles?«

Sie stellt ihr Glas vorsichtig ab und sah ihm in die Augen.

»Es wird Zeit, dass sich einige Dinge ändern. Hier in Freistatt und generell. Wir können nicht so weitermachen wie bisher. Wir sind zu Monstern geworden, was zu einem nicht geringen Teil Solchois Schuld ist. Die Umstände haben uns gezwungen, ein Leben als Piraten zu führen. Aber niemand hat uns gezwungen, unschuldige Menschen zu ermorden, sie zu versklaven und dies auch noch zu genießen. Wir haben Solchois Methoden viel zu lange geduldet – ja, sie sogar übernommen. Darin liegt unsere Schuld! Alles begann mit Raubzügen gegen Einrichtungen der Föderation, aber es ist aus dem Ruder gelaufen. Wir sind zu Barbaren geworden, die Morde begehen und Planeten überfallen, die selbst Opfer der Föderation gewesen sind. Am Anfang ging es uns um die Unabhängigkeit von der Erde, inzwischen geht es nur noch um Macht und Profit. Das muss sich ändern. Das muss aufhören!«

Er war von ihrem leidenschaftlichen Ausbruch geschockt. Es wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, dass Theresa so denken könnte. Noch weniger hätte er damit gerechnet, dass sie ihre Einstellung ihm gegenüber derart offen äußern würde. Sie musste sich sehr sicher sein, dass er ihre Sichtweise teilte. Ansonsten hätte sie soeben ihr Todesurteil gesprochen.