Hernandez fuhr herum, als hinter ihm sein Spießgeselle zusammenbrach. Im gleichen Moment stürzte eine Gestalt durch die Türöffnung. Hernandez’ überhastet abgegebener Schuss verfehlte nur knapp sein Ziel. Der Mann kam direkt vor Janes Leiche auf, rollte sich ab und schoss aus der Bewegung heraus auf Solchois Leutnant. Sein Laserstrahl traf Hernandez an der rechten Schulter und trennte den Arm fast vollständig ab. Er war nur noch durch ein paar Muskelstränge und Hautfetzen mit dem restlichen Körper verbunden. Hernandez schrie auf und stolperte rückwärts, bis er direkt vor Clark stehen blieb. Dieser nutzte die Gelegenheit und trat ihm mit voller Wucht in die Kniekehlen. Hernandez brach endgültig zusammen, verdrehte die Augen und verlor das Bewusstsein.
Der Unbekannte richtete sich auf.
»Hallo, Clark«, sagte er. »Wie es aussieht, hätte ich keine Sekunde später kommen dürfen.«
Clark erkannte den engsten Vertrauten seines Vaters und atmete erleichtert auf.
»Dies ist Alexandre DeChamp«, stellte er ihn Cally vor. »Er arbeitet für meinen Vater.«
Cally blickte ungläubig auf die vielen Toten im Raum. Dann sank sie vor Cindys und Janes Leichen auf die Knie. Sie bettete Cindys Kopf in ihren Schoß und strich ihr zärtlich über die Haare. Dann schloss sie ihr die Augen. Tränen rannen ihr über die Wangen.
»Wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden«, trieb DeChamp sie zur Eile an. »Jeden Moment kann jemand kommen und wir wissen nicht, ob es Bellamys oder Hernandez’ Männer sein werden.«
»Aber Cindy und Jane …«, begann Cally, doch DeChamp unterbrach sie.
»Ihnen kann niemand mehr helfen. Jetzt geht es um euer Leben. Das würden sie genauso sehen.«
Cally wusste, dass ihr Retter recht hatte, doch sie kam sich schäbig vor, Cindy und die alte Dame einfach hier liegen zu lassen. Sie küsste Cindy noch einmal auf die Stirn und beugte sich zu Jane.
»Danke für alles«, flüsterte sie. Dann zögerte sie einen Moment und zog ihr den einfachen, goldenen Ring mit dem kleinen, grünen Stein vom Finger, den die alte Dame stets getragen hatte. Sie streifte ihn sich über den Ringfinger der linken Hand.
»Sie hätte nicht gewollt, dass irgendein Leichenfledderer ihn bekommt. Er wird mich immer daran erinnern, was wir ihr zu verdanken haben.«
DeChamp nickte und zog Cally auf die Beine.
»Los jetzt!«, sagte er. »Wir müssen hier weg!«
»Was wird aus ihm?«, fragte Cally und deutete auf den reglosen Körper von Esteban Hernandez. »Ich würde ihn am liebsten eigenhändig erwürgen«
»Dafür ist keine Zeit. Er ist sowieso so gut wie tot. Der Blutverlust wird ihn umbringen«, antwortete DeChamp. »Soll ich ihm den Gnadenschuss verpassen?«
»Nein!« Ein harter Gesichtsausdruck erschien auf Callys Gesicht. »Er soll langsam und qualvoll sterben – genau wie Jane!«
Cally, Clark und DeChamp rannten auf den Gang hinaus.
»Gibt es noch einen zweiten Ausgang?«, fragte DeChamp. »Wir wissen nicht, wie es im Gastraum aussieht und wer sich dort herumtreibt.«
»Kommt mit«, riss Cally das Kommando an sich, was DeChamp einen erstaunten Blick entlockte. »Ich kenne einen anderen Weg hier raus!«
Sie folgten der Treppe am anderen Ende des Ganges nach oben. In dem Moment, als sie in der ersten Etage verschwanden, stürmten drei von Bellamys Männern aus dem Gastraum und liefen in Richtung Büro. Eine Sekunde früher und Cally, Clark und DeChamp wären entdeckt worden.
Cally führte die kleine Gruppe in das Zimmer, das sie gemeinsam mit Clark bewohnt hatte. Als ihr Blick durch den Raum streifte, in dem sie die letzten Tage verbracht hatten, erfüllte sie die Erinnerung an Cindy und Jane erneut mit heftigem Schmerz. Aber zum Trauern blieb später noch genügend Zeit.
»Hier«, sagte sie und deutete aus dem Fenster. »Direkt unter uns ist ein Vordach. Es sind nur etwa zwei Meter. Von dort aus gelangen wir in einen Hinterhof und durch das nächste Haus kommen wir auf die Straße.«
Alex sah aus dem Fenster. Callys Plan konnte funktionieren, wenn sich unten keine feindlichen Kämpfer herumtrieben. Er musste sowohl Bellamys Männer als auch Thorensons Truppe, falls von der noch etwas übrig war, als potenzielle Gegner ansehen. Beide Seiten würden auf jeden schießen, den sie nicht kannten. Aber dagegen konnte er etwas unternehmen.
Er aktivierte sein Kehlkopfmikrofon und hoffte, dass es den Kampf unbeschadet überstanden hatte.
»Sorgt vor dem Mondkalb für Ablenkung. Ich komme hinten raus«, befahl er seinen Männern, die sich bis jetzt aus den Kampfhandlungen herausgehalten hatten, über Funk. »Schickt einen schnellen Schweber in die übernächste Gasse. Wir werden in Kürze dort eintreffen.«
Glücklicherweise funktionierte seine Funkverbindung noch, und über den winzigen Ohrstöpsel erhielt er eine Bestätigung des Befehls.
Er nickte Cally zu und sie öffnete das Fenster. In diesem Augenblick waren vom Parkplatz erneut Schüsse zu hören. Da seine Gruppe bisher keine Verluste zu beklagen hatte, waren sie deutlich in der Überzahl. Bellamys Truppe war stark dezimiert, und ob von Hernandez’ Männern noch jemand übrig war, konnte er nicht wissen. Auf jeden Fall würde das Auftauchen einer neuen Bedrohung alle noch kampffähigen Frauen und Männer vor das Mondkalb locken. Tatsächlich konnte er zwei Gestalten, die sich hinter einem Bretterverschlag versteckt gehalten hatten, um die Ecke sprinten sehen.
»Alles klar«, sagte er und kletterte als Erster durch das Fenster. Er ließ sich die zwei Meter fallen und federte den Sturz in den Knien ab. Cally und Clark folgten sofort nach. Vor dem Gebäude ertönten Schreie und man konnte deutlich das Zischen von Energiestrahlen und das Krachen der Projektilwaffen vernehmen.
Sie hangelten sich von der Kante des Vordaches nach unten. Der Hinterhof war verwaist und niemand wartete auf sie. Das Ablenkungsmanöver schien zu funktionieren.
Mit der Schulter rammte DeChamp die schwache Brettertür des angrenzenden Hauses auf. Sie eilten durch einen kurzen Gang, an dessen anderem Ende eine Tür auf die dahinterliegende Straße führte. Er öffnete sie vorsichtig und spähte hinaus. Es war niemand zu sehen. Die Anwohner hatten sich bei den ersten Anzeichen einer Auseinandersetzung in ihre Häuser geflüchtet, und alle noch kampffähigen Frauen und Männer waren vor dem Mondkalb versammelt. Die Gasse lag wie ausgestorben vor ihnen.
In diesem Moment bog ein Schweber um die Ecke und glitt langsam die Straße entlang. Alexandre DeChamp nickte Cally und Clark zu.
Er trat ins Freie und winkte kurz. Der Schweber beschleunigte und stoppte unmittelbar vor ihm. Cally und Clark folgten ihm auf die Straße. Eine Tür des Fahrzeugs öffnete sich und die drei warfen sich hinein. Der Schweber beschleunigte erneut, schoss vom Mondkalb weg und verschwand hinter der nächsten Biegung.