37.

 

 

»Das sind ungewöhnliche, um nicht zu sagen gefährliche Ansichten!«

Vincent Silvestri schwenkte den Whiskey in seinem Glas, nahm einen kleinen Schluck und sah Theresa scharf an.

»Ja, aber sind sie falsch?«

Vincent zögerte mit der Antwort. Was, wenn sie ihn in eine Falle locken wollte? Was, wenn sie insgeheim mit Solchoi zusammenarbeitete und nur hier war, um ihn auszuhorchen? War er nur vorsichtig oder bereits paranoid?

Es wurde ihm klar, dass er mit den Jahren verlernt hatte, anderen Menschen zu vertrauen. Sein Leben war von Verrat, Misstrauen und Konkurrenzkampf geprägt. Vielleicht wurde es tatsächlich Zeit, das eigene Verhalten infrage zu stellen. Theresa hatte nicht unrecht. Sie waren ursprünglich nur Renegaten gewesen, Flottenoffiziere, die mit den Methoden der Föderation nicht einverstanden gewesen waren. Vor allem nicht mit der Brutalität, mit der die Flotte Systeme und Planeten in ihren Freiheitsbestrebungen bekämpft hatte. Um zu überleben, war es notwendig geworden, Nachschubbasen, Stützpunkte und auch vereinzelt Flotteneinheiten zu überfallen. Man benötigte Ressourcen und die konnte man nicht einfach kaufen. Aus Flottenstützpunkten, Nachschubbasen und Flotteneinheiten wurden föderationstreue Planeten und Habitate sowie unabhängige Handelsraumschiffe. Dann wurde man zunehmend weniger wählerisch, bis zum Schluss jeder Planet, jedes System und jedes Schiff zum Freiwild geworden war. Irgendwann hatte es sich eingebürgert, durch die Raubzüge nicht nur den eigenen Nachschub zu sichern, sondern auch Sklaven zu nehmen. Es herrschte naturgemäß ein großer Männerüberschuss unter den ehemaligen Soldaten. Silvestri konnte sich nicht mehr erinnern, wann jemand zum ersten Mal eine Frau geraubt hatte, doch es war der Beginn des Sklavenhandels gewesen. Auch er musste sich vorwerfen lassen, die anfänglichen Skrupel schnell abgelegt und niemals den Versuch gemacht zu haben, diesem Verhalten Einhalt zu gebieten. Theresa hatte recht! Aus Freiheitskämpfern waren über die Jahre gewöhnliche Kriminelle geworden. Und er hatte seinen Anteil daran. Clark hatte dies erkannt und sich, zumindest privat, stets gegen diese Methoden ausgesprochen. Er hatte nicht auf seinen Sohn gehört. Im Gegenteil – er hatte diese Einstellung für ein Zeichen von Schwäche gehalten. Die Ereignisse der letzten Wochen waren zum Teil auch die Konsequenz seines eigenen Verhaltens – seiner eigenen Blindheit. Vielleicht war es an der Zeit, diesmal auf eine mahnende Stimme zu hören.

»Warum kommst du damit ausgerechnet jetzt zu mir?«, wollte er von Theresa wissen.

»Als du die Sklavin – nein, lass uns ihren Namen nennen – als du Cally aus Hernandez’ Fängen freigekauft hast, hast du Skrupel gezeigt. Und zumindest Reste eines Gewissens. Dies ist mir nicht entgangen. Mir ist schon vor geraumer Zeit klar geworden, dass wir uns viel zu lange von Solchois Brutalität haben beeindrucken lassen. Wir haben von Anfang an nicht gewagt, uns gegen ihn zu stellen, und irgendwann war es dann auch für uns unkomplizierter, und vor allem gefahrloser, einfach so weiterzumachen. Wenn wir das bisschen Menschlichkeit, das hoffentlich noch in uns steckt, nicht ganz verlieren wollen, müssen wir etwas unternehmen. Wir müssen unsere Methoden ändern – und uns selbst.«

»Das sind gefährliche Gedanken«, stellte er warnend fest. »Solchoi würde dich dafür umbringen lassen.«

»Nicht, wenn ich ihm zuvorkomme«, sagte sie und blickte ihn herausfordernd an.

»Hören wir auf, um den heißen Brei herumzureden«, forderte Vincent. »Warum bist du hier? Was genau erwartest du von mir?«

»Ich möchte, dass wir uns gegen Solchoi verbünden. Es ist an der Zeit, dass wir uns seiner entledigen. Ich schlage eine Allianz zwischen unseren Clans vor.«

»Eine Allianz, die alles zerstört, was wir in den letzten beiden Jahrzehnten aufgebaut haben«, stellte Vincent fest.

»Eine Allianz, die uns auf einen besseren Weg führt!«, sagte Theresa nachdrücklich.

»Du behauptest, du würdest mir trauen. Ich muss das fragen: Warum sollte ich dir trauen?«

Theresa blickte ihn durchdringend an.

»Du bist ein Idiot, Vincent! Ich habe dir in den letzten Jahren so oft signalisiert, dass du mir nicht gleichgültig bist. Entweder bist du blind oder kein Mann. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als es dir direkt ins Gesicht zu sagen: Ich mag dich! Ich mag dich schon eine ganze Weile, du Trottel! Wie konntest du das nicht bemerken?«

Vincent war völlig überrascht von dieser Eröffnung. Er hatte nie damit gerechnet, dass Theresa romantische Gefühle für ihn hegen könnte. Aber wenn er jetzt darüber nachdachte, hatte es in der Vergangenheit tatsächlich immer wieder Momente gegeben, die man als Flirt hätte ansehen können. Er hatte dies immer als Einbildung abgetan, als Spielerei oder als situationsbedingten Scherz. Er hatte es schlichtweg nicht ernst genommen.

»Ich … äh … weiß nicht, was ich sagen soll«, entgegnete er perplex.

»Wenn meine Gefühle auch nur ein kleines bisschen auf fruchtbaren Boden fallen, sollst du gar nichts sagen – sondern etwas tun, du Holzkopf!« Theresa grinste ihn mit hochrotem Kopf an.

Zögernd stand er auf und ging zu ihr. Noch nie hatte er sich so hilflos und überfahren gefühlt, aber ihm wurde schlagartig klar, dass auch er die attraktive Frau mochte – schon lange mochte. Er hatte seine Gefühle unterdrückt und vor sich selbst verleugnet. Pflichtbewusstsein, die Erinnerung an Kathy, seine Stellung als Konkurrent, Angst davor, zurückgewiesen zu werden – all diese Gründe hatte er benutzt, um sich selbst keine tiefergehenden Empfindungen zu gestatten. Nun hatte Theresa all diese Barrieren eingerissen.

Sie nahm seine Hand und zog ihn neben sich auf das Sofa. Er kam sich vor wie ein pubertierender Jugendlicher, der sich zum ersten Mal dem anderen Geschlecht nähert. Nervös wie seit vielen Jahren nicht mehr, nahm er neben ihr Platz.

»Ich … ich bin nicht … nicht mehr der Jüngste … und … und es ist schon lange her …«, stotterte er.

»Oh, Vincent, halt den Mund und küss mich endlich!«, schnitt sie ihm das Wort ab.

Ihr Lächeln versprach ihm eine Zukunft, von der Vincent nicht mehr geglaubt hatte, dass es sie für ihn noch geben könne.