38.

 

 

»Was jetzt?«, fragte Cally.

Der Schweber hatte die Umgebung des Mondkalbs verlassen und fuhr ziellos durch einen Bezirk etwas höher am Hang. DeChamp wollte zunächst den Bereich der Slums verlassen, wo die Wahrscheinlichkeit, einem Mitglied einer der feindlichen Gangs über den Weg zu laufen, ungleich höher war.

Cally und Clark saßen auf dem Rücksitz, während DeChamp vorn neben dem Fahrer Platz genommen hatte. Es wurde allmählich hell und ein Blick durch die umlaufende Scheibe des Fahrzeugs zeigte besser erhaltene Gebäude und mehr Menschen auf der Straße. Es kam Cally vor, als hätte sie eine andere Welt betreten – weit weg von dem Schmutz und der Gewalt in den unteren Ebenen von Halo-City. Sie ahnte jedoch, dass sich die hässliche Seele der Stadt hier nur hinter einer aufgehübschten Fassade verbarg. Halo-City war durch und durch verdorben, und sie konnte es kaum abwarten, von hier zu verschwinden. Sie hasste diesen Ort, an dem sie zwei gerade erst gewonnene Freundinnen verloren hatte.

»Wir müssen einen Weg finden, unauffällig zum Raumhafen zu gelangen«, antwortete DeChamp. »Er steht unter Thorensons Kontrolle und er wird Leute dort postiert haben, um unsere Schiffe zu beobachten. Es wird nicht einfach werden, an denen vorbeizukommen.«

»Wohin sollen wir fliegen, wenn es uns gelingt?«, wollte Clark wissen.

DeChamp drehte sich zu ihm um.

»Zurück nach Freistatt natürlich.« Sein Blick zeigte, dass er über Clarks Frage verwundert war. »Das versteht sich von selbst. Dein Vater gab mir den Auftrag, dich sicher zurückzubringen.«

Cally wurde übel bei dem Gedanken, in die Raumstation zurückkehren zu müssen. Dort wäre sie wieder nichts anderes als eine Sklavin, eine entlaufene und wieder eingefangene Skalvin zudem, und erneut dem Zugriff Solchois ausgesetzt. Sie hatte nicht vergessen, dass Vincent Silvestri zugestimmt hatte, sie dem schrecklichen Mann zu übergeben, um den Frieden auf der Station zu wahren. Sie würde keinesfalls zulassen, dass man sie dorthin zurückbrachte.

Clark wusste genau, was in Cally vorging, und drückte beruhigend ihre Hand.

»Ich habe eine Spur zu meiner Mutter gefunden«, sagte er. »Ich will dieser Spur nachgehen.«

»Tut mir leid, Clark, aber mein Auftrag ist eindeutig«, lehnte DeChamp ab. »Klär das mit deinem Vater. Ich bin sicher, er wird dir ein Schiff zur Verfügung stellen, wenn das dein Wunsch ist. Aber jetzt geht es erst einmal nach Hause.«

»Aber Cally …«

»Das ist nicht mein Problem«, unterbrach ihn DeChamp. »Auch das musst du mit deinem Vater klären. Aber auch hier bin ich sicher, dass er einen Weg finden wird, sie zu beschützen, wenn er erkennt, dass sie dir etwas bedeutet.«

Clark antwortete nicht. Cally sah ihn durchdringend an. Er zwinkerte ihr beruhigend zu und drückte erneut ihre Hand.

»Na schön«, sagte er zu DeChamp. »Wie gehen wir vor?«

»Wir müssen uns beeilen. Thorenson wird von den Ereignissen der letzten Stunden aus dem Konzept gebracht worden sein. Er hatte sich den Überfall auf das Mondkalb sicher einfacher vorgestellt. Mit meinem Eingreifen konnte er nicht rechnen, und er wird zunächst mehr Informationen haben wollen, um über sein weiteres Vorgehen zu entscheiden. Dieses knappe Zeitfenster müssen wir ausnutzen, bevor er auf die Idee kommt, sich auf den Raumhafen zu konzentrieren. Das würde unsere Chancen auf eine Flucht deutlich verschlechtern.«

Er wies den Fahrer an, einen Umweg zu nehmen, der sie um die halbe Stadt führen würde. Sie mussten den Bezirk, aus dem sie gekommen waren, weiträumig umfahren.

Eine halbe Stunde später erreichten sie die Rückseite des Landefeldes. DeChamp wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer und dieser parkte den Schweber zwischen zwei Lagerhallen, wo er von der Straße aus nicht gesehen werden konnte. Beide Gebäude wirkten baufällig und wurden offenbar nicht mehr genutzt.

Cally, Clark und DeChamp stiegen aus. Der Schweber glitt davon.

»Er wird am Eingang für Ablenkung sorgen«, erklärte DeChamp. »Wir werden hier eindringen und uns zu meinem Schiff schleichen.«

Nach etwa fünfzehn Minuten konnten sie sehen, wie der Schweber auf der gegenüberliegenden Seite des Raumhafens das Empfangsgebäude ansteuerte. Drei Männer kamen heraus und traten zu dem Fahrzeug.

»Kommt mit!«, sagte DeChamp.

Sie gingen zu dem Zaun, der das Landefeld umgab. DeChamp griff in die Tasche, die er aus dem Schweber mitgenommen hatte, und holte verschiedene Werkzeuge heraus.

»Der Zaun hat einige Sicherungsmechanismen. Wenn ich ihn einfach durchschneide, wird Alarm ausgelöst. Ich muss diese Sicherung erst überbrücken.«

Er befestigte einige Kabel mit Klemmen an verschiedenen Stellen des metallenen Zaunes und studierte das Display des Gerätes, mit dem sie verbunden waren. Dann tippte er Zahlenkombinationen in das Sensorfeld des kleinen Kästchens.

»Jetzt sollte es sicher sein«, sagte er und begann mit einer Zange ein Loch in den Zaun zu schneiden.

Cally fiel auf, dass es bei dem Schweber anscheinend zu einer Diskussion gekommen war. Der Fahrer war ausgestiegen und gestikulierte heftig. Einer der drei Wachmänner legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. Der Fahrer schüttelte sie ab und versetzte dem Mann einen Stoß, der ihn zurücktaumeln ließ. Es sah so aus, als würde gleich eine Schlägerei beginnen.

DeChamp hatte inzwischen ein Loch in den Zaun geschnitten, das groß genug war, um hindurchzuschlüpfen. Alles blieb ruhig. Nacheinander betraten sie das Landefeld. Auf der anderen Seite versetzte der Fahrer einem der Wachmänner einen heftigen Faustschlag gegen den Kopf, drehte sich um und rannte davon. Unverzüglich folgten Thorensons Männer ihm.

»Los jetzt! Zum Schiff! Wir haben höchsten fünf Minuten«, drängte DeChamp.

Clark, der hinter ihm stand, hielt plötzlich ein Kantholz in der Hand, das auf dem Boden herumgelegen hatte.

»Es tut mir leid, Alex«, sagte er und schlug es ihm über den Schädel. DeChamp brach wie vom Blitz getroffen bewusstlos zusammen.

»Hilf mir!«, forderte Clark Cally auf. »Wir können ihn hier nicht liegen lassen.«

Sie schoben ihn durch das Loch im Zaun und trugen ihn zurück zu einer der leer stehenden Lagerhallen. in der sie ihn hinter einem Stapel leerer Holzkisten ablegten. Dann eilten sie zurück zum Zaun und kletterten hindurch.

Sie konnten sehen, wie Thorensons Männer auf der anderen Seite den Fahrer mit gezogenen Waffen gestellt hatten. Er hob die Hände über den Kopf und sie führten ihn zum Empfangsgebäude.

Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit. Sie schlichen im Schutz der auf dem Landefeld geparkten Schiffe zu ihrer Jacht. Zum Glück hatte Thorenson darauf verzichtet, direkt bei ihrem Raumschiff eine weitere Wache zu postieren. Er hatte sich auf die Männer am Eingang des Raumhafens verlassen.

Clark tippte den Sicherheitscode in die Schleusenverriegelung und sie gingen an Bord.

»Zum Glück kann ich diesen Typ auch ohne Janes Hilfe fliegen«, sagte er und der Gedanke an die ermordete Freundin durchzuckte ihn schmerzhaft. Er ließ sich in den Pilotensitz fallen.

»Setz dich neben mich und schnall dich an«, sagte er. »Ich muss diesmal einen etwas schnelleren Start durchführen.«

Er aktivierte die Energiezufuhr und startete das Haupttriebwerk. Spätestens jetzt musste man am Eingang auf sie aufmerksam werden. Cally sah auf einem Monitor, wie mehrere Männer aus dem Empfangsgebäude stürzten und mit gezogenen Waffen in ihre Richtung stürmten.

Dann fuhr Clark das Triebwerk auf Vollschub hoch. Mit einem Satz schoss die Jacht in den Himmel. Callys Magen schien ihr bis zu den Knien zu rutschen und ihr wurde kurz übel. Sie konnten hören, wie Energiestrahlen die Schiffszelle trafen, doch die Jacht war bereits zu hoch, sodass sie die Hülle nicht mehr durchdringen konnten.

Sie beschleunigten in den freien Raum, ohne auf die Funkanrufe zu reagieren.

»Wohin fliegen wir?«, fragte Cally.

»Erst einmal weg von hier«, sagte Clark und lächelte sie an.

Die Jacht beschleunigte weiter und ging wenige Minuten später in den Subraum.