Das kleine Schiff kam unweit einer roten Riesensonne aus dem Subraum. Das System besaß nur zwei Gasriesen und galt laut den Navigationskarten als wirtschaftlich uninteressant. Demzufolge hatten sie nicht mit unangenehmen Überraschungen oder Begegnungen zu rechnen.
Seit ihrer Flucht aus Halo-City waren Cally und Clark zwei Tage ununterbrochen im Subraum geblieben. Sie hatten mehrere Hundert Lichtjahre zurückgelegt und befanden sich nahe der Grenze des von Menschen besiedelten Weltraums. Dahinter erstreckte sich die immer noch fast unerforschte Weite der Milchstraße. Vielleicht würde man dort eines Tages auf andere intelligente Lebewesen stoßen. In dem ungefähr kugelförmigen Raumbezirk von fast achttausend Lichtjahren Durchmesser, den die Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten erkundet und in Besitz genommen hatte, hatte man jedenfalls keine Spur anderer intelligenter oder gar raumfahrender Zivilisationen gefunden.
Die Zeit an Bord hatten sie fast ausschließlich schlafend verbracht, nur gelegentlich von Essenspausen unterbrochen. Die vergangenen Wochen hatten ihren Tribut gefordert und Cally fühlte sich immer noch müde und ausgelaugt. Vor einer Stunde waren sie aus dem Bett gekrochen und saßen nun in der Steuerzentrale, wo vor dem Bugfenster der rote Riese leuchtete.
»Was jetzt?«, fragte sie. Die körperliche und geistige Erschöpfung schwang in jedem ihrer Worte mit.
»Wir müssen überlegen, wohin wir uns wenden können, was unser nächster Schritt sein soll«, antwortete Clark.
In den vergangenen beiden Tagen waren sie viel zu zermürbt und geschwächt gewesen, um Pläne zu machen. Der Tod von Cindy und Jane lastete schwer auf Cally. Sie fühlte sich mitschuldig am Schicksal der beiden Frauen, die in kurzer Zeit zu ihren Freundinnen geworden waren.
»Wir wissen nur, dass deine Mutter sich irgendwie zur Erde durchschlagen wollte«, sagte sie.
»Wir können nicht einfach zur Erde fliegen und dort nachforschen. Das Sonnensystem ist wahrscheinlich das am besten bewachte System in der Galaxis. Nachdem die Föderation zerfallen und die irdische Raumflotte so gut wie aufgerieben worden war, igelte man sich dort ein. Bis heute fürchten sich die Bewohner vor Racheaktionen der abtrünnigen ehemaligen Kolonien. Zudem könnte die Kennung unseres Schiffes dort bekannt sein und uns als Angehörige eines Piratenclans auffliegen lassen. Vergiss nicht, dass diese Jacht Theresa gehört hat. Es ist durchaus möglich, dass sie als Schiff einer Gesetzesbrecherin registriert ist.«
»Was sollen wir dann machen?«
»Wenn wir zur Erde wollen, müssen wir dies an Bord eines unverdächtigen Schiffes tun. Es gibt nicht mehr viele Schiffe, die die Erde regelmäßig anfliegen. Nur wenige Kolonien haben noch beständigen Kontakt zum Zentralplaneten der ehemaligen Föderation. Eine davon ist nicht allzu weit von hier entfernt. Nur knapp einen Flugtag. Wir könnten Theresas Jacht dort auf dem Schwarzmarkt verkaufen und uns auf diese Weise die Mittel für einen Passagierflug zur Erde beschaffen.«
»Wie wollen wir deine Mutter dort finden? Es leben immer noch fast eine Milliarde Menschen auf der Erde!«
»Ein Schritt nach dem anderen, Cally! Zunächst müssen wir erst einmal dorthin kommen. Dann wird uns schon etwas einfallen.«
Cally nickte zögernd und ein trauriger Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.
»Jane und Cindy gehen mir nicht aus dem Kopf«, gestand sie. »Es ist so … so … sinnlos. Wofür sind sie gestorben? Für mich … für meine … unsere Freiheit! Ich fühle mich schuldig, Clark.«
Er legte ihr sanft eine Hand an die Wange und sah ihr ernst in die Augen.
»Das darfst du nicht denken, Liebling. Jane wusste genau, worauf sie sich einließ. Sie war eine alte Kämpferin und traf all ihre Entscheidungen aus freien Stücken. Sie hätte niemals etwas getan, hinter dem sie nicht einhundertprozentig stand. Sie mochte dich vom ersten Tag an, für mich war sie wie eine zweite Mutter. Eigentlich war sie die einzige Mutter, die ich je kennengelernt habe. Ich vermisse sie. Aber ich weiß genau, dass sie jederzeit bereit war, ihr Leben für uns aufs Spiel zu setzen – und es notfalls zu opfern. Glaube mir, Cally, sie würde alles wieder genauso machen!«
»Und Cindy? Was ist mit ihr? Sie wollte sicher nicht sterben.«
»Sie hat einfach die Nerven verloren. Das ist nicht deine Schuld. Sie war zur falschen Zeit am falschen Ort, und wenn sich überhaupt jemand Vorwürfe machen muss, dann bin ich das. Ich habe sie nicht zurückhalten können, als sie in Hernandez’ Feuer rannte.«
»Ich bin froh, dass der Kerl erledigt ist«, stieß Cally hasserfüllt hervor.
»Eine Sorge weniger«, stimmte Clark ihr zu. »Allerdings wird sich Alexandre DeChamp nicht so leicht abschütteln lassen. Mein Vater hat ihm den Auftrag gegeben, mich zurückzubringen. Er wird alles daransetzen, diesen Auftrag zu erfüllen.«
»Er will uns wenigstens nicht umbringen!«
Clark blickte sie durchdringend an.
»Wenn er uns zurückbringt, wird mein Vater dich nicht länger vor Solchoi beschützen können.«
»Dann müssen wir dafür sorgen, dass es nicht dazu kommt! Wir haben einen Vorsprung, und auch wenn er vermuten sollte, dass wir weiterhin der Spur deiner Mutter folgen und versuchen, die Erde zu erreichen, wird es ihm nicht so leicht gelingen, uns einzuholen.«
Cally schlug mit der flachen Hand auf den Kartentisch.
»Wir werden uns keine unnötige Ruhepause gönnen!«
Clark konnte sehen, wie das Feuer in ihren Augen neu erwachte. Er kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass Widerspruch zwecklos war, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.
»Wir werden sofort zu dem Planeten aufbrechen, von dem du erzählt hast. Der noch in Verbindung mit der Erde steht!«
Nur wenige Minuten später war der Kurs in den Navigationscomputer eingegeben und die kleine Jacht beschleunigte aus dem System. Der rote Riese fiel schnell hinter ihnen zurück und nach kurzer Zeit verschwand das Schiff im Subraum.