Der Alarm heulte durch Freistatt und ließ Solchoi auffahren. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er erst eine knappe Stunde geschlafen hatte. Neben ihm setzte sich die gut gebaute Blondine, an deren Namen er sich kaum noch erinnern konnte, ruckartig im Bett auf.
»Was … was ist los?«, murmelte sie verschlafen.
»Woher soll ich das wissen, du blöde Kuh«, schnappte Solchoi, sprang auf und eilte zum Komdesk, wo in diesem Moment ein rotes Signallicht zu blinken begann. Das Zeichen, dass ihn der wachhabende Mann unbedingt sprechen musste. Solchoi schlug auf den Sensorknopf.
»Was zum Teufel ist los?«, bellte er ins Mikrofon.
»Feuer im Abschnitt 17!«, kam postwendend die Antwort.
»Wie schlimm ist es?«
»Den Anzeigen und Sensoren nach steht in diesem Abschnitt fast alles in Flammen.«
»Ich bin sofort da!«, sagte Solchoi und beendete das Gespräch.
Es gab nichts Schlimmeres an Bord eines Raumschiffes oder einer Raumstation als den Ausbruch eines Feuers. Selbst Mikrometeoriten waren weniger gefährlich. Sie schlugen vielleicht ein kleines Loch in die Hülle und richteten mechanische Schäden an, aber ein Leck ließ sich vor Ort abdichten und die Schäden konnte man später reparieren. Ein Feuer hingegen, besonders wenn es sich rasend schnell ausbreitete, konnte in den engen und verwinkelten Gängen nur schwer erfolgreich bekämpft werden. Es gab allerdings eine kostengünstige und schnelle Gegenmaßnahme, die jedoch andere Nachteile mit sich brachte. Man musste den betroffenen Abschnitt zum Raum hin öffnen. Wenn man ihn dem Vakuum aussetzte, wurde dem Feuer jegliche Nahrung entzogen und es erlosch augenblicklich. Diese Methode war wesentlich effektiver und sinnvoller, als aufwendige Löschsysteme zu installieren und kostbares Wasser oder schwer zu beschaffende Chemikalien zur Brandbekämpfung zu vergeuden. Der Nachteil bestand lediglich darin, dass der betroffene Abschnitt für einige Zeit nur noch in Raumanzügen betreten werden konnte und man ebenso kostbaren Sauerstoff verlor. Dieser war allerdings wesentlich leichter zu beschaffen und zu ersetzen als Wasser oder andere Löschmittel.
Während er diese Überlegungen anstellte, schlüpfte Solchoi in seine achtlos zu Boden geworfene Kleidung und eilte aus dem Schlafzimmer. Die Leitzentrale seines Sektors der Raumstation lag direkt neben seinen Räumlichkeiten und er war nur eine Minute nach Ausbruch des Alarms dort.
»Was genau ist passiert?«, rief er, als er in die Zentrale stürmte. Dort war die Nachtwache vor den Anzeigeinstrumenten versammelt. Die drei Männer starrten auf die Kontrollgeräte.
»Die Monitore zeigen einen elektrischen Fehler auf, der zu einem Kurzschluss geführt hat. Der Brandherd liegt im Lagerraum 17-3. Das Feuer hat sich rasend schnell auf Lager 17-2 ausgebreitet und droht inzwischen, auf 17-1 überzugreifen.«
Solchoi fluchte. Abschnitt 17 befand sich genau an der Grenze zum Sektor des Silvestri-Clans. Warum, zum Teufel, hat sich der Kurzschluss nicht ein paar Meter weiter entfernt ereignet, dachte er. Dann könnte sich dieser verdammte Vincent jetzt mit diesem Problem herumschlagen!
»Wie viele Leute haben wir vor Ort?«, fragte er.
»Niemanden, Boss«, musste einer der Männer zugeben. »Um diese Zeit sind die Lager unbesetzt.«
Solchoi wusste, dass die Zeit drängte, er musste jetzt eine Entscheidung treffen. In 17-3 lagerten nur Raumanzüge und Thermowäsche. Beides war leicht zu ersetzen. In 17-2 befanden sich Ersatzteile für die Strahlantriebe der Shuttles und kleiner Jäger. Wichtig, aber ebenfalls nicht unersetzlich. In 17-1 jedoch wurden teure Ersatzteile für Subraumtriebwerke und vor allem große Mengen verschiedener Waffen aufbewahrt. Diese durften keinesfalls verloren gehen.
»Na schön, uns bleibt wohl nichts anderes übrig. Versiegelt den Übergang zu Abschnitt 16 und öffnet die Außenschleusen im gesamten Abschnitt 17.«
Sofort führten die Männer seinen Befehl aus und nahmen die entsprechenden Schaltungen vor. Die Monitore zeigten, dass sich sämtliche Luftschleusen in diesem Bereich öffneten. Augenblicklich fiel die Druckanzeige in den Lagerräumen auf Null.
»Das sollte es gewesen sein«, stelle Solchoi fest und wandte sich zur Tür. »Schickt ein Team dort rein. Es soll die genaue Ursache für das Feuer ermitteln und einen Schadensbericht erstellen. Ich gehe …«
»Boss, ich erhalte Meldungen, dass etwas in Abschnitt 1 vorgeht«, unterbrach ihn einer der Männer und tippte auf seine Kopfhörer.
Solchoi fuhr herum. Hinter Abschnitt 1 lag die Grenze zum Sektor des Grange-Clans. Jede der drei Gruppen verfügte über genau ein Drittel der ringförmigen Raumstation, die aus 51 Abschnitten bestand. Der von den drei Clanbezirken über jeweils eine röhrenförmige Speiche zugängliche Nabenbereich war neutrales Territorium und beherbergte von allen drei Clans genutzte Einrichtungen, einen öffentlichen Bereich mit Einkaufs- und Unterhaltungsmöglichkeiten, den Dockingport für fremde Schiffe sowie die Hauptsteuerzentrale von Freistatt, in der gemischte Teams für Lagekontrollen, Energieversorgung und Raumüberwachung verantwortlich waren. Darüber hinaus waren die drei Abschnitte in den meisten Belangen autark.
»Was ist mit Abschnitt 1? Genauer bitte!«
»Ich … äh … ich habe soeben den Funkkontakt verloren«, stammelte der Mann.
Anatoly Solchoi warf einen Blick auf die Kontrollinstrumente. Dort waren alle Anzeigen für Abschnitt 1 im Normalbereich. Es gab keine Hinweise auf besondere Vorkommnisse. Trotzdem bildete sich ein eisiger Klumpen in Solchois Magen. Hier ging etwas vor, das er nicht verstand. Dann erschütterte eine Explosion die Raumstation.
Vincent Silvestri und Theresa Grange saßen gemeinsam vor den Monitoren und beobachteten, wie sich die Ereignisse entwickelten. Hin und wieder gab einer von ihnen eine knappe Anweisung an die eingesetzten Frauen und Männer, aber im Großen und Ganzen lief alles genau so ab, wie sie es geplant hatten.
Es hatte überhaupt kein Feuer in Abschnitt 17 gegeben. Mittels ihrer Zugriffsmöglichkeit auf Solchois Netzwerk war es Theresa gelungen, den Ausbruch eines gefährlichen Brandes vorzutäuschen. Es war nicht schwierig gewesen, Solchois Sensoren und Anzeigeinstrumente zu manipulieren. Seine Reaktion entsprach ihren Erwartungen – der gesamte Abschnitt 17 wurde dem Vakuum ausgesetzt, um das vermeintliche Feuer zu löschen. Somit gab es für den Solchoi-Clan keine Möglichkeit mehr, von dort aus das Gebiet des Silvestri-Clans anzugreifen, was es den Kämpfern, die Vincent aufzubringen vermochte, wiederum ermöglichte, gemeinsam mit Theresas Truppen Solchois Gebiet am Übergang zu Theresas Sektor zu stürmen. Dort standen Solchois Leute somit einer unüberwindlichen feindlichen Übermacht gegenüber. Durch den Befehl, alle Schleusen im Abschnitt 17 zum Weltraum hin zu öffnen, hatte sich Solchoi selbst in eine Sackgasse manövriert. Hätten seine Gegner mithilfe des geheimen Zugriffs die Schleusen selbst geöffnet, wäre Solchoi sofort klar geworden, dass ein Angriff stattfand. Durch das vorgebliche Feuer gewannen sie einen vielleicht entscheidenden Zeitvorteil.
»Angriff!«, befahl Theresa den gemeinsamen Truppen. Sofort begannen die Kämpfer der vereinigten Clans, von Theresas Territorium aus in Solchois Sektor vorzustoßen.
Allerdings gab es noch zwei Nadelöhre, durch die ein Entkommen denkbar war. Zum einen die Verbindungsröhre zur Nabe der Station und zum anderen Solchois Landebucht, von wo aus er seine Schiffe starten lassen konnte. Obwohl auf beiden Wegen kein direkter Gegenangriff auf Vincents oder Theresas Bezirke möglich war, galt es, diese Löcher sofort nach Beginn des Angriffs zu verschließen.
Im gleichen Moment, als die Instrumente anzeigten, dass Solchoi den Köder geschluckt hatte, gab Vincent für zwei seiner Jäger den Startbefehl. Sie schleusten aus seiner Landebucht aus und nahmen Kurs auf die Außenschleuse des gegnerischen Hangars. Nur Sekunden später erreichten sie ihr Ziel. Mehrere gezielte Laserschüsse setzten den Schleusenmechanismus außer Gefecht. Von dort aus würden in absehbarer Zeit keine von Solchois Schiffen Freistatt verlassen können. Gleichzeitig sprengten einige Männer aus Theresas Clan ein Schott in der Tunnelröhre von Solchois Sektor zur Nabe der Raumstation. Der Übergang wurde unpassierbar. Zwar war die Ladung so bemessen, dass die Explosion nicht die strukturelle Integrität des fragilen Gebildes gefährdete, dennoch war Erschütterung in der gesamten Raumstation spürbar. Der Solchoi-Clan war innerhalb von nur zwei Minuten vollständig isoliert und eingeschlossen.
Die Schlacht um Freistatt hatte begonnen.