Es herrschte ein heilloses Durcheinander und fast so etwas wie Panik unter Solchois Leuten. Schreie hallten durch die Gänge, Flüche wurden von zischenden Laserschüssen übertönt und das stakkatoartige Trampeln der Stiefel vorwärts eilender Kämpfer war ebenso zu hören wie das Wehklagen Verwundeter. Über all dem lag eine Mischung aus Angstschweiß, dem Geruch nach Ozon und dem Gestank der brennenden Einrichtung in der rauchgeschwängerten Luft.
Der Kampf tobte erst seit wenigen Minuten, aber schon jetzt wurde deutlich, dass Anatoly Solchois Truppe auf verlorenem Posten stand. Der Weg aus Abschnitt 17 in den Sektor des Silvestri-Clans war seinen Kämpfern durch den von ihm selbst befohlenen Vakuumeinbruch versperrt, die Schleuse der Landebucht ließ sich nicht mehr öffnen, und somit konnte niemand mit einem Schiff in den freien Raum entkommen. Die Tunnelröhre zur Nabe der Raumstation war nach der Sprengung eines Sicherheitsschotts blockiert und am einzigen Ausgang aus dem Solchoi-Sektor, dem Übergang zum Bereich des Grange-Clans, sahen sich Solchois Kombattanten einer unüberwindlichen Übermacht gegenüber. Es war hoffnungslos!
»Ich will sofort wissen, was da los ist!« Anatoly Solchoi brüllte die in der Zentrale seines Sektors versammelten Frauen und Männer mit hochrotem Kopf an. »Jeder, der eine Waffe halten kann, geht an die Front! Sofort! Wer sich weigert, wird erschossen! Und ich will, dass der Hangar sofort wieder einsatzfähig gemacht wird. Verstanden?«
»Boss, wir erhalten Berichte, dass unsere Leute einer gemischten Truppe aus Silvestri- und Grange-Kämpfern gegenüberstehen«, meldete einer seiner Männer.
Solchoi fuhr herum.
»Ah, so ist das also! Die alte Schlange und Vincent haben sich gegen mich verbündet. Das erklärt einiges. Hugo, ich will sofort eine Verbindung mit Silvestri«, befahl er dem Mann an der Kommunikationskonsole.
Nur Sekunden später stand die Verbindung. Auf dem Schirm konnte Solchoi nicht nur Vincent Silvestri sehen, sondern auch Theresa Grange, die neben ihm saß.
»Du bist uns nur um Sekunden zuvorgekommen«, eröffnete Vincent das Gespräch. »Wir wollten dich gerade zur Kapitulation auffordern. Also, Anatoly …«
»Das könnte euch so passen, ihr Verräter! Ihr werdet sofort die Kampfhandlungen einstellen«, unterbrach ihn Solchoi. »Andernfalls werde ich sämtliche Waffen in meinem Arsenal sprengen. Ihr könnt euch vorstellen, was das für die gesamte Station bedeutet.«
»Dann gehst du als Erster drauf«, erwiderte Theresa. »Ich denke nicht, dass du Selbstmord begehen willst.«
»Bevor ich mich von euch umbringen lasse, nehme ich euch mit«, drohte Solchoi.
»Wer sagt denn etwas davon, dass wir dich umbringen wollen«, schaltete sich Silvestri wieder in das Gespräch ein. »Wenn du kapitulierst, erlauben wir dir, mit deinen Schiffen und Männern Freistatt zu verlassen. Natürlich werden wir die Schiffe zuvor entwaffnen und kampfunfähig machen. Wir wollen doch nicht, dass sie aus Versehen die Raumstation beschießen.«
»Ich habe unseren Leuten befohlen, zunächst nicht weiter vorzurücken«, gab Theresa bekannt. »Du hast fünf Minuten, um dich zu entscheiden, Anatoly!«
Noch bevor er antworten konnte, wurde der Bildschirm dunkel. Die beiden hatten aufgelegt.
»Es ist ein riskantes Spiel, das du treibst, Vincent«, sagte Theresa zu ihrem Verbündeten, der inzwischen auch ihr Freund war. »Du scheinst dir sehr sicher zu sein, dass Solchoi seine Drohung nicht wahr macht.«
Vincent Silvestri lachte nur.
»Tief im Innern ist Anatoly ein Feigling. Ich kenne ihn lange genug. Er würde seine Leute jederzeit opfern, aber selbst in den Tod zu gehen entspricht nicht seinem Naturell. Er wird sich noch etwas winden und bessere Bedingungen einfordern, aber letztlich wird er die Niederlage akzeptieren und gehen. Natürlich wird er für den Rest seines Lebens auf Rache sinnen, aber er wird Freistatt nicht sprengen, solange er an Bord ist.«
»Hoffen wir, dass du recht behältst«, sagte Theresa, wobei die Skepsis in ihrer Stimme nicht zu überhören war. »Falls du dich irrst und ihn falsch einschätzt, wird unsere Beziehung von kurzer Dauer gewesen sein, mein Schatz.«
Die um Anatoly Solchoi versammelten Frauen und Männer hatten den Wortwechsel ihres Bosses mit den beiden anderen Clanführern mitbekommen und blickten ihn nun fragend an.
»Sollen wir die Waffen scharf machen?«, fragte einer der Männer.
»Äh … nein … noch nicht. Wir wollen erst mal sehen … äh … was es sonst noch für Möglichkeiten gibt.« Solchoi war sichtlich unschlüssig, was er tun sollte. »Was macht der Hangar?«, rief er in die Runde.
»Die Männer arbeiten daran, die Schleuse manuell zu öffnen.«
»Sie sollen sich beeilen. Ich werde die beiden Arschlöcher nicht lange hinhalten können. Sobald ihr die Schleuse öffnen könnt, schickt alle drei Jäger raus. Einer muss durchkommen und er soll Sektor 25 unter Beschuss nehmen. Dort befindet sich Silvestris Kommandozentrale. Theresa und Vincent sind dort, und wir können vielleicht beide mit einem Schlag ausschalten.«
»Boss, vielleicht sollten wir einen Durchbruch an der Röhre versuchen«, schlug einer der Männer vor. »Wenn wir es bis zur Nabe schaffen, haben wir eine Chance. Dort liegt gerade eines unserer Schiffe zum Entladen von Lebensmitteln an der Dockingstation. Wenn wir an Bord gelangen, verfügen wir über die Waffen des Schiffes. Es ist stärker bewaffnet als ein Jäger und wir können damit drohen, die ganze Station hochzujagen.«
»Gute Idee! Wir werden beides parallel machen. Den Ausbruch der Jäger nehmen wir als Ablenkungsmanöver. Wenn einer durchkommt – umso besser. Falls nicht, gelingt es einer kleinen Gruppe unter meiner Führung vielleicht, sich zu unserem Schiff an der Nabe vorzukämpfen. Wenn wir es geschickt anstellen, merken die beiden Verräter erst, was gespielt wird, wenn es für sie zu spät ist.«
»Boss, Silvestri meldet sich wieder«, rief der Mann an der Kommunikationskonsole.
»Stell ihn durch!«
Vincents Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Theresa saß immer noch neben ihm und blickte ernst in die Kamera.
»Nun, Anatoly, wie hast du dich entschieden?«, fragte Silvestri.
»Ich will Garantien, dass meine Schiffe nicht abgeschossen werden, wenn wir an Bord sind.«
»Blödsinn, Anatoly!« Vincent schüttelte den Kopf. »Wenn wir deinen Tod wollten, müssten wir nur den Angriff weiter fortsetzen. Du hast gegen unsere verbündeten Truppen keine Chance.«
»Aber ihr würdet hohe Verluste erleiden«, wandte Solchoi ein. »Auf einem unbewaffneten Schiff hingegen könnt ihr mich in aller Ruhe abknallen.«
»Wir sind an deinem Tod nicht interessiert, Anatoly.« Diesmal sprach Theresa zu ihm. »Wir wollen lediglich dich und deine Methoden hier nicht länger dulden. Das ist alles! Was du tust, nachdem du von hier verschwunden bist, ist uns völlig gleichgültig.«
Solchoi setzte ein nachdenkliches Gesicht auf, bevor er antwortete.
»Ich brauche noch mal zehn Minuten, um das mit meinen Leuten zu besprechen.«
»Na gut, zehn Minuten und keine Sekunde länger. Danach gibt es nichts mehr zu verhandeln.«
In diesem Moment nickte einer der Männer außerhalb des Erfassungsbereiches der Kamera Solchoi zu und machte ein OK-Zeichen mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Die Schleuse war offen. Solchoi beendete schnell das Gespräch.
»Los, Männer, zur Röhre«, rief er. »Nur wir hier und diejenigen, die wir unterwegs aufsammeln können. Alle anderen müssen zusehen, wie sie zurechtkommen!«
Sofort sprangen alle auf und stürmten aus der Zentrale. Bis zum Eingang zur Tunnelröhre waren es nur wenige Meter. Solchoi wusste, dass sich dort sein Schicksal entscheiden musste. Wenn der Durchbruch nicht gelang, war alles verloren. Als sie losstürmten, vernahm er gedämpft das jaulende Geräusch hochfahrender Triebwerke. Die drei Jäger mussten in diesem Moment den Hangar verlassen. Der Kampf trat in seine entscheidende Phase.