Vincent erhielt einen Stoß in den Rücken, der ihn zur Seite schleuderte. Theresa hatte die Situation rechtzeitig erkannt. So streifte ihn Solchois Schuss nur am Oberarm und traf den hinter ihm stehenden Mann in die Brust. Noch während er versuchte, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, sah er wie in Zeitlupe, dass Solchoi den Lauf seiner Waffe erneut in seine Richtung schwenkte. Vincent wusste, dass er, aus der Balance gebracht, seinen eigenen Strahler nicht rechtzeitig in Anschlag bringen konnte. Er wartete auf den Einschlag, der diesmal tödlich verlaufen würde. Dann blitzte es in seinem Augenwinkel auf.
Wieder war es Theresa, die ihm das Leben rettete. Mit unglaublicher Geschwindigkeit korrigierte sie die Zielrichtung ihrer Waffe auf den immer noch am Boden liegenden Anatoly Solchoi und drückte ab, als dieser gerade zum zweiten Mal feuern wollte. Ihr Energiestrahl traf den triumphierend grinsenden Mann mitten im Gesicht und riss ihm den halben Kopf weg. Leblos sackte Solchoi vor seinen letzten beiden Getreuen in sich zusammen, die noch immer mit hinter dem Kopf verschränkten Armen am Boden knieten. Die Schlacht um Freistatt war vorüber.
Zwei Stunden später saßen Theresa Grange und Vincent Silvestri frisch geduscht und in bequemer Freizeitkleidung anstelle der verschwitzten Kampfmonturen in ihrem privaten Zimmer. Auf dem Tisch vor ihnen stand ein extrem seltener und teurer Champagner.
Die gemeinsame Dusche hatte sich etwas länger als notwendig hingezogen, da sie, vom Adrenalinrausch des Kampfes aufgeputscht, wild übereinander hergefallen waren. Vincent wunderte sich darüber, welches Feuer Theresa in einem Mann seines Alters entfachen konnten.
Nachdem Anatoly Solchois Tod bekannt geworden war, hatten sich all seine Kämpfer sofort ergeben. Sie wurden entwaffnet und vor die Wahl gestellt, mit dem an der Nabe angedockten Schiff zu einem Ziel ihrer Wahl gebracht zu werden oder sich dem neuen Machtgefüge unterzuordnen. Die meisten entschieden sich für die Abreise, was Vincent Silvestri insgeheim aufatmen ließ. Er hatte sich zunächst über Theresas Großzügigkeit gewundert, von der dieses Angebot stammte, und ihr gleichzeitig nicht zu widersprechen gewagt. Er wollte die neue Allianz, und die neue Beziehung, nicht gleich mit einer Auseinandersetzung beginnen. Doch er hatte schnell erkannt, dass es nicht Großzügigkeit gewesen war, sondern vorausschauendes Handeln, das sie zu dieser Entscheidung bewogen hatte. Über Wochen und Monate wären ihre Leute damit beschäftigt gewesen, die ehemaligen Anhänger Solchois zu überwachen und ihre Loyalität zu überprüfen. Dass nur eine Handvoll Gefolgsleute des Solchoi-Clans auf der Raumstation bleiben wollte, machte die Sache überschaubarer und einfacher. Es würde schwierig genug werden, Theresas und seine Leute daran zu gewöhnen, sich nicht länger gegenseitig misstrauisch zu beäugen.
»Auf unseren Erfolg!«
Theresa hob ihr Glas, in dem die schwach bernsteinfarbene Flüssigkeit leicht perlte, und prostete ihm zu.
»Darauf, dass ich es überlebt habe – was ich nur dir verdanke!« Er nickte ihr zu und lächelte. »Du hättest zwei Konkurrenten gleichzeitig loswerden können, ohne dass dir jemand einen Vorwurf hätte machen können. Freistatt könnte jetzt dir alleine gehören.«
»Du bist ein Idiot, mein lieber Vincent«, entgegnete Theresa mit der ihr eigenen Offenheit. »Wenn ich dich hätte umbringen wollen, hätte es schon vorher unzählige Gelegenheiten dafür gegeben.«
Verwundert hob Vincent eine Augenbraue.
»So einfach wäre das wohl nicht gewesen«, behauptete er, woraufhin Theresa nur lachte.
»Zugegeben, Jane wachte wie eine Glucke über dich, aber unmöglich wäre es nicht gewesen. Ich wundere mich, dass Solchoi es nicht viel früher versucht hat. Wenn ich es wirklich gewollt hätte, wäre es ein Leichtes gewesen.«
Vincent schüttelte verständnislos den Kopf.
»Wenn du … ich meine … wir sind ja erst … äh … seit Kurzem … äh … ein Paar … also … wenn du mich all die Jahre so leicht hättest loswerden können, was hat dich zurückgehalten? Anatoly Solchoi?«
Theresa lachte erneut auf.
»Der? Nein, der am allerwenigsten. Solchoi wäre sogar begeistert gewesen, dich loszuwerden. Allerdings muss ich sagen, er hat sich wesentlich besser geschützt als du. Allein konnte ich gegen ihn nichts unternehmen. Das war erst möglich, nachdem wir uns … hm … besser kennengelernt hatten.«
»Also, Theresa«, insistierte Vincent. »Was hat dich zurückgehalten gegen mich vorzugehen?«
Schlagartig wurde sie ernst.
»Vielleicht ist es an der Zeit für die Wahrheit, Vincent. Doch zuvor muss ich sagen, dass ich dich wirklich sehr mag – sogar liebe«, setzte sie zögernd hinzu. »Ich möchte, dass zwischen uns absolute Offenheit herrscht und deshalb will ich dir jetzt, in diesem Augenblick, reinen Wein einschenken. Du sollst die Wahrheit erfahren, um dann zu entscheiden, wie es mit uns beiden weitergehen soll. Die Dinge haben sich in eine Richtung entwickelt, die so nicht geplant war. Es war nicht vorgesehen, dass ich mich in dich verliebe.«
Vincent verstand nichts von dem, was sie sagte. Er hörte zwar die Worte, doch der Sinn dahinter blieb ihm verborgen. Irritiert schüttelte er den Kopf.
»Welche Wahrheit? Ich verstehe nicht …«
»Du hast mich nie gefragt, woher ich komme«, unterbrach sie ihn. »Ja, Solchoi und du, ihr habt mich gegrillt, als ich mit meinen Leuten vor vielen Jahren hier ankam und mich euch anschloss. Aber eure Hauptsorge war, ich könnte eine Agentin der Föderation sein. Diesen Verdacht konnte ich leicht zerstreuen. Aber wer ich wirklich bin, hat euch nie interessiert. Die Person hinter Theresa Grange habt ihr nie kennengelernt. Meinen wahren Namen habt ihr nie erfahren. Ihr seit sowieso davon ausgegangen, dass Theresa Grange nicht mein richtiger Name ist, so wie weder du noch Anatoly in euren früheren Leben in der Föderation Silvestri und Solchoi geheißen habt. Ich hingegen kenne deinen wirklichen Namen – Douglas O´Reilly!«
Vincent fuhr erschüttert zusammen. Diesen Namen hatte er schon seit Jahrzehnten nicht mehr gehört. Die Letzte, die ihn benutzt hatte, war Kathy gewesen. Er lebte schon so lange als Vincent Silvestri, dass er seinen richtigen Namen beinahe selbst vergessen hatte.
»Anatoly Solchoi hieß in Wahrheit Anatoly Schtscherowski. Er wollte sich wohl nicht an einen neuen Vornamen gewöhnen müssen. Auch über ihn ist mir alles bekannt.«
Vincent saß blass wie eine Wand und völlig unbeweglich neben Theresa. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, in banger Erwartung, was als Nächstes kommen sollte. War sie doch eine Agentin der Föderation? Sollte jetzt, gerade als er geglaubt hatte, ein neues Leben beginnen zu können, alles zu Ende sein? Er wusste nicht, was er sagen sollte, und warf Theresa nur einen stummen Blick zu.
»Mein Name ist Helena Thompson!«
Theresa sah ihn fast verzweifelt an, und er konnte Tränen in ihren Augen schimmern sehen. Die Wahrheit erschütterte ihn so sehr, dass es mehrere Sekunden dauerte, bis er antworten konnte.
»Helena«, flüsterte er. »Helena Thompson. Du … du bist … du bist …« Die Stimme drohte ihm zu versagen und er musste sich räuspern, ehe er fortfahren konnte. »Kathys Halbschwester! Du bist Kathys Halbschwester, von der sie mir erzählt hat.«
Theresa nickte und er konnte sehen, wie eine Träne über ihre Wange rann.
»Oh mein Gott!«, stöhnte er und sank im Sessel zurück. Er legte die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. »Kathys Halbschwester«, wiederholte er. »Was … Warum?« Er konnte nicht weiterreden.
Theresa beugte sich vor und nahm seine Hand.
»Hör mir zu, Vincent!« Ihre Stimme klang plötzlich ganz sanft. »Als Kathy damals von hier weggehen musste, war ihr klar, dass Anatolys Rachsucht sich nicht einfach legen würde. Sie fürchtete um dein Leben – und um das Leben eures Sohnes. Sie wusste zwar, dass Jane alles tun würde, um euch zu beschützen, aber ihre Ängste und Sorgen wurden täglich größer. Nachdem sie sich bis zur Erde durchgeschlagen hatte, kam sie zu mir. Sie war damals schon schwer krank, was sie keinem von euch gesagt hatte. Clarks Geburt und die darauffolgende Verbannung hatten ihre letzten Reserven aufgezehrt. Sie hatte Krebs, Vincent, und sie starb, nur wenige Wochen nachdem sie zu mir gekommen war. Obwohl wir verschiedene Väter hatten, standen wir uns immer sehr nahe. Wir waren die einzigen Überlebenden aus unserer Familie. Ich hatte keine Kinder und mein Mann war im Krieg gefallen. Ich versprach ihr, mich um dich und euren Sohn zu kümmern. Heimlich ein Auge auf euch zu haben und eine schützende Hand über euch zu halten. Unsere Familie war sehr wohlhabend. Ich sammelte einige im Krieg entwurzelte Söldner um mich, erschuf eine glaubwürdige Legende, kaufte zwei ausrangierte Raumschiffe und kam hierher. Natürlich durfte niemand wissen, wer ich in Wirklichkeit war. Solchois Rachegelüste hätten sich auch auf mich erstreckt. Also wurde ich zu Theresa Grange.«
Vincent saß fassungslos in seinem Sessel und starrte sie an. Der Champagner wurde schal, doch trotz ausgedörrter Kehle konnte er plötzlich den Gedanken nicht ertragen, jetzt Champagner zu schlürfen. Es erschien ihm fast blasphemisch. Nach wie vor war er nicht in der Lage, einen vernünftigen Satz zu formulieren. Theresa hielt immer noch seine Hand fest umklammert. Fast schmerzhaft fest, doch dieser Schmerz war seine einzige Verbindung zu einer Realität, die er kaum ertragen konnte.
»Das Versteckspiel fiel mir nicht leicht, das musst du mir glauben«, fuhr Theresa fort. »Nach einiger Zeit wurde es einfacher. Die Routine des Alltags machte es irgendwann erträglicher, dich anlügen zu müssen. All die Jahre habe ich versucht, zwischen Solchoi und dir zu stehen. Nie Partei zu ergreifen, um keiner Seite einen Vorwand zu geben, gegen mich vorzugehen. Innerlich stand ich immer auf deiner Seite, das musst du mir einfach glauben, aber erst jetzt ergab sich die Gelegenheit, Solchoi endlich loszuwerden.«
»Wusste Jane davon?«
Vincent konnte endlich wieder reden, doch die Worte kamen nur schwer über seine Lippen.
»Ich denke nicht. Vielleicht hat sie unbewusst etwas geahnt. Sie kam schließlich zu mir und gab mir jene Waffe gegen Solchoi, die sie so lange vorbereitet hatte. Erst Clarks Liebe zu Cally trieb den Konflikt zwischen dir und Anatoly auf die Spitze und gab uns die Gelegenheit, diesen Gordischen Knoten aufzulösen.«
»Und wie es bei einem Gordischen Knoten üblich ist, mit Gewalt!«, stellte Vincent fest.
»Ja, leider ging es nicht anders. Es war die einzige Sprache, die Solchoi verstand. Und ich musste dich nach wie vor beschützen, denn ich hatte mich längst in dich verliebt. Über die Jahre war aus Sympathie und Zuneigung irgendwann Liebe geworden. Als ich es bemerkte, erschrak ich vor mir selbst. Ich verstand mit einem Mal, warum Kathy dich erwählt hatte. Aber ich konnte nichts tun! Hätte ich mich schon früher zu dir bekannt, hätte Solchoi dies als gegnerische Allianz aufgefasst und ein Krieg wäre unausweichlich gewesen. Ich konnte all die Jahre keinen Krieg riskieren, der Clarks und dein Leben gefährdet hätte. Erst nachdem Jane mir die Möglichkeit eröffnete, Solchoi auszuschalten, konnte ich dir gestehen, was ich für dich empfinde. Und ich hatte die Chance, Clark bei seiner Flucht zu helfen, die ihn gleichzeitig aus der Schusslinie bringen würde.«
»Aber warum hast du mir nicht sofort nach Clarks Flucht die Wahrheit gesagt?«
»Ich hatte Angst vor deiner Reaktion«, gestand Theresa. »Ich hatte Angst, zurückgewiesen zu werden, gerade weil ich Kathys Halbschwester bin. Ich hatte Angst, du könntest es als Beschmutzung ihres Andenkens auffassen. Aber nun musst du es wissen. Jetzt haben wir die Chance, ein ganz neues Leben anzufangen. Jetzt, wo Anatoly Solchoi nicht mehr zwischen uns steht, kann ich nicht länger mit dieser Lüge leben.«
Theresa schwieg und sah ihn nur an. Ihr Blick schwankte zwischen Hoffen und Bangen. Immer noch hielt sie seine Hand. Er entzog sie ihr nicht, sondern erwiderte den Druck. Dann sah er ihr tief in die Augen und lächelte schwach.
»Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Am meisten überrascht mich in diesem Moment, was ich wegen der Nachricht über Kathys Tod empfinde. Trauer – ja, selbstverständlich – aber ich muss mir eingestehen, dass sie schon so lange nicht mehr Teil meines Lebens ist, dass es weniger schlimm ist, als ich gedacht hätte. Diese Wunde, Kathy verloren zu haben, ist besser verheilt, als ich annahm. Ja, ich verstehe deine Beweggründe. Trotzdem verletzt es mich, dass du mir dies all die Jahre verheimlicht hast. Aber ich muss auch zugeben, dass du in einer Sache recht hast: Aus all dem ergibt sich die Chance für einen Neuanfang. Und auch ich will dir gegenüber ehrlich sein! Ja, Theresa, ich möchte neu anfangen. Ich will all das Schreckliche, das wir getan haben, hinter mir lassen. Ich möchte all das, zu dem ich mich aus Angst vor Solchoi haben verleiten lassen, in den Jahren, die mir noch bleiben, wiedergutmachen. Ich weiß, dass Clark nie etwas anderes als Verachtung für unsere Raubzüge übrighatte. Diese Tatsache stand stets wie eine eiskalte Wand zwischen mir und meinem Sohn. Ich wollte es lange nicht wahrhaben, und jetzt habe ich plötzlich, auch was dieses Thema angeht, die Möglichkeit, wieder zu meinem Sohn zu finden. Auch dies ist etwas, das ich dir verdanke! Aber das Wichtigste ist: Ich liebe dich! Und ich kann dich lieben, ohne mich Kathy gegenüber wie ein Verräter zu fühlen. Ich werde sicher einige Zeit brauchen, all das zu verarbeiten, aber wenn du mich alten Trottel noch haben willst, dann bin ich von Herzen gern bereit, die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Ich freue mich auf eine Zukunft mit dir.«
Jetzt konnte Theresa die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie warf sich in Vincents Arme und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Auch er musste schlucken, um nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen.
Der Tag hatte damit begonnen, dass er beinahe sein Leben verloren hätte, und endete damit, dass er ein völlig neues Leben geschenkt bekam.