Die vergangenen sechs Monate waren nicht einfach gewesen, doch alle Anstrengungen hatten sich gelohnt. Cally strich über ihren gewölbten Bauch und sah aus dem Panoramafenster auf den unter ihr schwebenden Gasriesen. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie zum ersten Mal hier gestanden hatte und von dem majestätischen Anblick beeindruckt gewesen war. Damals war sie eine Sklavin gewesen und hatte um ihr Leben fürchten müssen – heute waren diese Räume das Zuhause ihrer eigenen kleinen Familie.
Freistatt war neu aufgeteilt worden. In der Hälfte der Raumstation, vor allem im Sektor des nicht mehr existierenden Solchoi-Clans, hatte man Platz für die vielen Flüchtlinge geschaffen, die immer noch infolge von Krieg und Vertreibung durch das ehemalige Föderationsgebiet zogen. Der Platz war beschränkt und man konnte nicht jeden aufnehmen, doch für die Ärmsten der Armen war jede sichere Zuflucht, sei sie auch noch so beengt, immer noch besser, als in halb flugtauglichen Wracks ohne Heimat und ohne Zukunft durch das All zu ziehen.
Vincent Silvestri, der sich dafür entschieden hatte, diesen Namen beizubehalten, lebte zusammen mit Helena, die ihrerseits zu ihrem richtigen Namen zurückgekehrt war, in einem Teil des Sektors des vormaligen Grange-Clans. Cally und Clark hatten den ebenfalls geschrumpften Sektor des Silvestri-Clans übernommen.
Die Zeiten der Piraterie und der Raubzüge waren für immer vorbei. Sie hatten sich von einem Teil der Mannschaften getrennt, doch alles war friedlich verlaufen. Diejenigen, die sich nicht an ein neues Leben gewöhnen konnten oder wollten und es vorzogen, sich anderen Piratengruppen anzuschließen, von denen es leider immer noch genügend gab, hatte man großzügig mit Schiffen und Material ausgestattet und ziehen lassen. Aber es war erstaunlich, wie viele der ehemaligen Piraten sich nach einer anderen Lebensweise zu sehnen schienen. Die Mehrzahl war geradezu erleichtert, nicht länger rauben und plündern zu müssen, um zu überleben. Die meisten hatten dieses Leben nur gewählt, weil die Umstände des Krieges und der Zerfall des Imperiums ihnen – tatsächlich oder vermeintlich – keine andere Wahl gelassen hatten. Doch jetzt gab es eine Alternative!
Die Raumstation wurde zum Drehkreuz und Handelsplatz um- und ausgebaut. Die vielfältigen Verbindungen zu ehemaligen Geschäftspartnern, auch wenn diese mehrheitlich keine sauberen Geschäfte abzuwickeln gewohnt waren, hatten den Start erleichtert. Es galten allerdings neue Regeln! Wer sich daran nicht anpassen konnte, kam als zukünftiger Geschäftspartner nicht mehr infrage. Vincent und Helena wollten die Geschäfte noch einige Zeit leiten, doch sie waren übereingekommen, die Führung Freistatts, das diesen Namen endlich zu recht trug, in den nächsten ein oder zwei Jahren an Clark und Cally abzugeben. Sie wollten die ihnen dann noch verbliebende Zeit nutzen, das gemeinsame Leben so gut wie möglich zu genießen.
Cally dachte oft an Cindy und Jane. Die junge Frau, die mit ihr zusammen entführt worden war, war, ebenso wie viele andere, dem Verlust von Recht und Ordnung zum Opfer gefallen. Nach ihrer Rückkehr hatte sie sich erkundigt, was in der Zwischenzeit aus Hanna geworden war. Sie war ebenfalls tot. Ihr Käufer hatte sie in einem Anflug von Zorn einfach totgeprügelt. Clark hatte dafür gesorgt, dass er nicht länger auf der Station bleiben durfte und mit jenen abziehen musste, die sich anderen Piratengruppen anschließen wollten. Hannas Bestreben, sich den Spielregeln der Piraten bereitwillig zu unterwerfen, hatte ihr letztlich den Tod gebracht.
Cally nahm sich vor, zusammen mit Clark dafür zu sorgen, dass zumindest in ihrem Einflussbereich solche Auswüchse nie wieder vorkommen konnten. Jane hatte ebenfalls das Ende dieser schlimmen Zeit nicht mehr erleben dürfen. Sie wäre sicher stolz auf ihre Schützlinge gewesen und Cally würde nie vergessen, dass es erst Janes Mut und Entschlossenheit gewesen waren, die all dies möglich gemacht hatten. Clark und sie waren übereingekommen, ihr Kind 'Jane Kathy Silvestri' zu nennen, sollte es ein Mädchen werden.
Cally ging zur Komkonsole, um eine Verbindung mit Clark zu schalten. Er war für einige Tage unterwegs, um dringend benötigte Ausrüstungsgegenstände zu Callys Heimatplaneten zu bringen. Zunächst hatte Cally ihn unbedingt begleiten wollen, doch Clark hatte angesichts ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft Einspruch erhoben. Und dann war ihr mit einem Schlag bewusst geworden, dass es nichts mehr gab, was sie noch mit ihrem Planeten, ihrem Dorf, ihrer alten Welt verband. Ihre Familie und Freunde waren von Solchois Kämpfern ausgelöscht worden, und sie selbst war inzwischen eine andere geworden. Die Vergangenheit war tot – jetzt galt es, für die Zukunft zu leben!
E N D E