Er wartet schon in Ihrem Büro auf Sie, Commis- saire«, sagte Rio und wies mit einem Kopfnicken in den kleinen fensterlosen Raum, der nur durch eine dicke Glasscheibe von dem größeren getrennt war, in dem die Capitaine und ihr Kollege Paganelli an ihren Schreibtischen saßen. »Er wollte nicht plaudern, merkwürdig, er ist doch sonst so unterhaltsam.«
Das war in der Tat merkwürdig, dachte Lacroix, denn Arnaud Mercier war trotz seines fortgeschrittenen Alters ein Pariser durch und durch, der keine Gelegenheit ausließ, eine Unterhaltung zu beginnen, sogar zu flirten, wenn eine Kollegin anwesend war.
Doch nun sah Lacroix seinen direkten Vorgesetzten, wie er in dem Büro auf und ab ging und immer wieder Blicke auf die Glasscheibe warf, an der die Fotos von Opfern, Verdächtigen und Zeugen hingen. Gerade war die Scheibe leer, der April hatte ruhig begonnen, sodass die Beamten sich damit beschäftigten, ältere ungelöste Fälle zu bearbeiten, Hinweise zu sichten, Zeugen noch mal einzuladen.
»Danke Ihnen, ich gehe mal hinein«, sagte Lacroix und sah, wie sich Rio gleich wieder einer Akte zuwandte. Als sie die Lasche öffnete, kam ihr erst mal eine Staubwolke entgegen. Sie fluchte, doch Lacroix freute sich. Er liebte die Arbeit mit alten Akten. Am liebsten hätte er sein Büro ins Archiv verlegt, das im Keller des Gebäudes untergebracht war, gleich neben den Verhörräumen des Kommissariats rive gauche . Kurz dachte er an Monsieur Hugo, der tatsächlich gerochen hatte, dass Lacroix sich gerade mit alten Papieren beschäftigte. Es war wirklich bemerkenswert.
»Mein lieber Arnaud«, sagte Lacroix und blieb in der Tür stehen. Der Mann im anthrazitfarbenen Anzug fuhr herum. »Oh, mon cher , ich habe dich gar nicht kommen hören.«
»Mir scheint, du bist sehr in Gedanken«, antwortete Lacroix. Sie gingen aufeinander zu und umarmten sich, dann gaben sie sich die zwei bises , die auch unter befreundeten Männern üblich waren.
»Bist du noch gar nicht in den Osterurlaub entschwunden?«, fragte Lacroix, der Merciers Ferienwohnung an der Stadtmauer in Antibes an der Côte d’Azur kannte und wusste, dass der alleinstehende Polizeidirektor keine Gelegenheit ausließ, Wochenenden und Feiertage am blauen Mittelmeer zu verbringen. Auch er selbst plante, mit Dominique die Feiertage in Giverny zu verbringen, dem Heimatdorf von Madame Lacroix in der Normandie, in dessen berühmten Monet-Gärten sich das Ehepaar einst kennengelernt hatte. Doch noch waren es drei Tage, bis die Pariser an Gründonnerstag, spätestens aber an Karfreitag in Scharen die Stadt verlassen würden.
»Ich war tatsächlich schon auf dem Weg«, sagte Arnaud, »aber dann war da etwas, das mir keine Ruhe gelassen hat. Und nun bin ich hier, um dich um Rat zu bitten, damit ich beruhigt in den Zug steigen kann, der in drei Stunden vom Gare de Lyon abfährt.«
»Möchtest du dich setzen? Magst du einen Tee? Du weißt, der café hier drinnen ist nicht trinkbar, aber ich sehe, dass du es nicht mehr aushältst, die Geschichte für dich zu behalten, bis wir auf eine Tasse ins Café hinausgegangen sind.«
Mercier nahm Platz und sah Lacroix überrascht an. »Warum meinst du, ich hielte es nicht mehr aus?«
»Nun, dein einer Hemdärmel schaut aus dem Sakko heraus, während der andere verknautscht in der Jacke steckt. Und dein Einstecktuch hast du auch vergessen. Das ist nicht der Arnaud, der sonst wie aus dem Ei gepellt bei Capitaine Rio auf der Schreibtischkante sitzt. Also, was ist los?«
»Wenn ich dich doch nur bewegen könnte, bei mir drüben am Quai des Orfèvres zu arbeiten – dann könnte ich drei andere Kollegen einsparen, die nicht deine Beobachtungsgabe haben. Aber gut, du bist eben un homme de rive gauche – ich verstehe es ja. Also, hör zu. Wir haben vorgestern einen Toten aus der Seine gefischt, auf Höhe des Pont des Arts. Er ist in die Schraube eines bateau-mouche gekommen.« Lacroix zog eine Augenbraue hoch, und Mercier nickte. »Ja, ich erspare dir die Details. Nun gut, wir haben das ja manchmal, wie du weißt: ein junger Mensch in wirtschaftlicher Not oder mit Liebeskummer. Er hatte viel Alkohol im Blut.«
»Ich habe in den Tagesberichten davon gelesen. Ihr geht von einer Selbsttötung aus.«
Mercier nickte. »Ja, so haben die Kollegen es eingeschätzt.« Er kratzte sich am Kopf. »Aber vorhin war diese junge Frau bei mir. Seine Freundin. Ich kann dir sagen, sie ist eine faszinierende junge Dame. Sie hat sich von Mademoiselle Rollinger nicht aufhalten lassen und ist einfach zu mir ins Büro gestürmt.«
Lacroix sah die Besorgnis in Arnauds Augen, aber auch das Funkeln. Beeindruckend, dachte der Commissaire. Der abgebrühte Mercier hatte nicht viele Schwächen, die ihn persönlich zu Lacroix führen würden, aber eine offensichtlich hübsche junge Frau ließ ihn sofort erweichen – es war wie ein Naturgesetz.
»Kann ich mit ihr sprechen?«
»Ich wusste, dass du das fragen würdest. Ich habe sie gebeten, am Quai des Orfèvres zu warten. Wollen wir?«
»Das Wetter ist herrlich, und ich habe gerade nichts anderes vor, also: On y va .«