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Ein größerer Kontrast war nicht vorstellbar: Eben noch hatte Lacroix an dem hölzernen Tisch mit dem Fuß aus altem Messing gesessen, dessen Platte mit einem gestärkten weißen Tischtuch bedeckt war. Die Leuchter verdoppelten sich in den Spiegeln, die an den Rändern angelaufen waren, aber auch das war mehr gewollte Patina als echte Vernachlässigung.

Auf dem Tisch fand sich erst die große Platte ein, darauf wenig später eine rote Dose mit den in Öl eingelegten Sardinen, die schon zwei Jahre lang konserviert worden waren – zum höchsten Genuss des Commissaire. Das dunkle Brot mit der mehlbestäubten, krossen Rinde passte perfekt dazu. Lacroix hatte noch ein Bier zu den Sardinen bestellt: Herb und herb, das war eine gute Kombination.

Der Kellner war ein wahrer Profi. Flink und leise räumte er alles ab und brachte die Hauptspeise herbei, die Pause war nicht zu lang und nicht zu kurz, als ahnte er, dass der Gast nicht in absoluter Eile gekommen war, aber auch nicht seinen freien Tag hatte.

Auf dem Platzteller mit der simplen grünen Aufschrift Lipp hatte sich die Schüssel mit der blanquette befunden, ein Gericht, das fast zu wuchtig war für die Mittagszeit mit dieser Kombination aus Sahne und jeder Menge Butter, dazu das zarte Kalbfleisch und all die Gemüse. Doch der Koch verstand sein Handwerk: Das Ragout war etwas säuerlich angemacht und bekam dadurch eine ungeahnte Leichtigkeit, die sich an diesem Tag, an dem der Frühsommer seine Vorboten schickte, sehr gut ausnahm. Alles in allem also ein sehr angenehmes déjeuner .

Nun aber fand sich Lacroix nach seinem Spaziergang entlang des Boulevard und dann sogleich entlang des Flusses und des Jardin des Plantes vor dem Gebäude der Gerichtsmedizin wieder. Das Institut médico-légal lag in einem alten Backsteingebäude direkt am Ufer der Seine, nur durch die Kaimauern vom Wasser getrennt. Wenn die Seine alle Jubeljahre mal über die Ufer trat, mussten die Toten aus dem Keller in höhere Stockwerke transportiert werden. Auf der einen Seite des Gebäudes rasten die Autos in Richtung Périphérique, und Lacroix fragte sich, wie viele der Vorbeifahrenden eigentlich wussten, dass in diesem Gebäude die Opfer aller Pariser Verbrechen und ungeklärten Todesfälle landeten. Er selbst betrat das Haus auf der anderen Seite, dort war ein kleiner Park, durch den er auf das Portal zuschritt. Dann nahm er die steile Treppe, die in die cave noire des Docteur Obert hinabführte.

Cave noire  – schwarzer Keller –, so nannten ihn die jungen Ärzte, die hier im Grundstudium Dienst tun mussten – und die Polizisten der Brigade criminelle, die sich einfinden mussten, wenn es wieder mal einen Toten zu beklagen gab. In ihren Worten schwang dann immer etwas zwischen Ehrfurcht und leichter Angst mit, je nach beruflicher Stellung. Denn Docteur Obert war das Genie der Gerichtsmedizin, eine echte Koryphäe auf diesem Gebiet, aber auch ein Mann mit einem ausgeprägten Hang zu drastischen Worten und derben Späßen. Nur Lacroix hatte ausschließlich Hochachtung vor dem Arzt: Die beiden Männer im gleichen Alter verband eine sehr lange Beziehung – und so etwas wie Freundschaft, auch wenn sich beide nur selten außerhalb des Kellers trafen. Obwohl – es war gar nicht lange her, da hatte Docteur Obert sogar einen Ausflug für den Commissaire unternommen, als der vor einem sehr schwer lösbaren Fall gestanden hatte: der Vergiftung einer alten Dame im Monet-Dörfchen Giverny. Seither war die Komplizenschaft zwischen Lacroix und Docteur Obert noch enger geworden.

Er ging an den beiden Kühlräumen vorbei, die zu seiner Rechten lagen, zwei junge Männer schoben gerade eine abgedeckte Bahre hinein. Dann klopfte er, obwohl sie offen stand, an die Tür des Sektionsraumes, denn seiner Meinung nach verlangte dieser Ort noch mehr Respekt als ein normaler Arbeitsplatz.

»Dachte ich es mir doch, dass Sie heute noch vorbeischauen. Keine zwei Stunden, nachdem Ihr Toter bei mir angekommen ist. Typisch, Commissaire, typisch.« Obert sah um die Ecke, er trug noch die Handschuhe, die einmal weiß gewesen waren, nun aber blutrot leuchteten. »Treten Sie schon ein, mon cher

Lacroix nahm seinen Hut ab, und der Docteur trat auf ihn zu. Er gab dem Polizisten die zwei gehauchten Wangenküsse, la bise , als träfen sie sich zum Apéro.

»Entschuldigen Sie, Docteur, aber ich wollte erst sicher sein, dass ich Ermittlungen aufnehmen sollte – und da dachte ich, dass Sie vielleicht Ihr Urteil schon …«

»Na, ich dachte mir das schon. Deshalb hab ich Ihren Toten vorgezogen. Meine anderen Gäste laufen ja schließlich nicht weg. Aber ich muss Sie enttäuschen.«

Lacroix sah ihn überrascht an. »Ein natürlicher Tod?«

Obert zog eine Augenbraue hoch. »Nein, Commissaire, das meinte ich nicht. Ich wollte sagen, ich muss Sie enttäuschen, wenn Sie sich auf ruhige Ostern mit Dominique eingerichtet haben. Der junge Mann, Ihr Monsieur Gabin Belleroix, wurde ermordet. Ich habe so gut wie keinen Zweifel.«

Lacroix spürte, wie sich sein ganzer Körper verspannte. Es war die wohlbekannte Anspannung, die sich aus dem Einströmen des Adrenalins ergab. Er kannte dieses Gefühl, wenn aus einem ungeklärten Todesfall ein Mord wurde, seit er ein ganz junger Polizeibeamter gewesen war – es war wie ein ewiges Déjà-vu.

»Sie haben daran gezweifelt, oder, mon cher Lacroix

Der Commissaire öffnete die Hände, dann legte er den Kopf schief. »Sagen wir, ich war mir diesmal nicht sicher, ob ich meiner Intuition trauen konnte.«

»Sie können, Lacroix. Auch wenn mir nichts ferner liegt, als Ihnen noch mehr Honig ums Maul zu schmieren. Also, kommen Sie, ich zeig es Ihnen.«

Er führte ihn zu dem Tisch in der Mitte des Sektionsraumes. Noch lag das weiße Tuch über dem Mann, aber an dem blauen Fuß, der makaber über den Rand ragte, war am Zeh das kleine Band mit der Aufschrift Belleroix, G. befestigt.

»Ich erspare Ihnen den unteren Teil des Körpers«, sagte Docteur Obert und blickte Lacroix fest an, »selbst für mich war das kein schöner Anblick. Und eine Mahnung, bei Bootsausflügen immer genügend Abstand zur Schiffsschraube zu halten. Die Dinger sind wirklich scharf wie Messer. Insbesondere, wenn sie sich mit hohem Tempo durch den Fluss drehen.«

Er hob das Tuch vorsichtig an, damit es sich ja nicht zu weit verschob, dann legte er das Gesicht und die Brust des jungen Mannes frei.

»Aber sehen Sie, zweierlei ist merkwürdig: An den unteren Extremitäten hat die Schraube wirklich schlimmes Unheil angerichtet, ein Bein fehlt ganz, ein anderes ist extrem zerfetzt. Dasselbe gilt für den Unterleib. Das wären die typischen Verletzungen, wenn sich jemand in den Fluss wirft oder stürzt und dann dort von dem Boot angezogen wird und in die Schraube gerät. Das ist dann natürlich todesursächlich.«

Er wies auf das Gesicht des jungen Mannes. Lacroix trat näher und betrachtete Gabin Belleroix. Die Augen der Leiche waren geschlossen, aber es war trotzdem zu erkennen, dass Gabin wirklich ein attraktiver Mann gewesen war. Er hatte hohe Wangenknochen und ein markantes Kinn mit Dreitagebart. Also hatte er nicht nur einen spannenden Beruf ausgeübt, sondern war auch äußerlich anziehend gewesen.

»Die Schraube des Ausflugsbootes hat nur am unteren Ende gewütet. Das ist auch in der Analyse von Kollegen bei früheren Fällen immer so beobachtet worden. Der Körper gerät in den Sog, dann kommt es zum Aufprall, was schlimme Verletzungen bewirkt, aber nach einer Umdrehung gerät der Körper wieder aus der Schraube, wird förmlich rausgeschleudert und sinkt dann erst mal ab. Das Boot fährt weiter, die Leiche bleibt zurück. Genau wie wir es hier beobachten.« Lacroix musste einen Moment lang durchatmen. Manchmal war auch ihm die bildliche Schilderung des Docteur Obert etwas zu viel. Allerdings lag darin auch die ganze Leidenschaft des Mannes für seine Profession.

»Deshalb sind am oberen Teil des Körpers keine Verletzungen zu erwarten, sehen Sie? Die Brust ist komplett unversehrt, es gibt keinerlei Wunden.«

Nach einem Blick auf den Oberkörper nickte Lacroix. Die Haut war bläulich fahl und nur ein wenig aufgequollen. Er hatte nicht lange im Wasser gelegen. Eine mehrere Tage alte Wasserleiche war für die Augen des Commissaires nicht zu ertragen.

»Deshalb ist diese Verletzung hier nicht zu erklären.« Lacroix wusste erst nicht, wovon der Docteur sprach, doch dann winkte der Arzt ihn auf seine Seite des Tisches. Jetzt sah er es: Ein tiefer Riss von dunklem Rot, der sich über mehrere Zentimeter oberhalb des rechten Ohres erstreckte, darum gab es bläuliche Kanten von innerlich geronnenem Blut.

Lacroix war zu lange bei der Brigade criminelle, um dergleichen nicht zu erkennen. »Ein Schlag, oder?«

»Ein Schlag oder ein sehr heftiger Sturz, genau, Commissaire.«

»Und der kann definitiv nicht von der Schiffsschraube kommen?«

»Wenn das so wäre, müsste man die Lehrbücher der Gerichtsmedizin umschreiben«, sagte Docteur Obert und schüttelte den Kopf. »Nein, es ist ausgeschlossen, denn dann müsste man am Oberkörper auch andere Verletzungen sehen. Außerdem war der Mann tot, als er in den Fluss geriet, ergo auch, als er in die Schiffsschraube kam.«

»Was? Und das sagen Sie erst jetzt, Docteur?«

»Ich habe doch erwähnt, dass ich keinerlei Zweifel habe. Denn es befand sich viel Wasser in Monsieur Belleroix’ Lunge. Das dürfte es aber nicht, wenn er sich selbst in die Seine befördert hätte – oder wenn er hineingefallen wäre. Dann hätte der Blutkreislauf – na …?«

Docteur Oberts Biologiestunden waren unter den Polizisten berüchtigt. Lacroix spielte dennoch mit: »Dann hätte der Blutkreislauf das Wasser abtransportiert. So aber war schon keine Bewegung mehr in dem Mann, das Wasser konnte also nicht mehr aus der Lunge abtransportiert werden.«

»Absolument , Commissaire.«

»Jemand hat ihn also bewusstlos oder sogar kurz nach seinem Tod ins Wasser geworfen.«

Docteur Obert nickte.

»Ich habe keine Ahnung, warum das den Kollegen drüben im Hôpital Necker nicht aufgefallen ist. Wahrscheinlich haben die so viel zu tun … Aber jetzt ist der Fall ja in Ihren Händen, Lacroix. Ende gut, alles gut, auch wenn das für Monsieur Belleroix etwas zu spät kommt.«