Sie hatten recht, Mademoiselle«, sagte Lacroix, als er der jungen Frau in seinem Büro gegenübersaß. Eigentlich waren seine fensterlosen vier Wände in der vierten Etage des Kommissariats Besprechungen mit Kollegen vorbehalten. Aber er hatte Gabins Freundin nicht in einen Verhörraum im Keller bringen lassen wollen, das war ihm allzu ungehörig vorgekommen. Nun saß sie also angespannt auf dem hölzernen Stuhl, beide Arme auf die Lehnen gelegt, und er sah die Sehnen hervortreten, als suchte sie etwas, um sich festzuhalten.
Lacroix kannte dieses Gefühl. Bis jetzt hatte die junge Frau ein Ziel vor Augen gehabt, und es war ihr eigenes Adrenalin gewesen, das sie am Umfallen hinderte: Sie hatte einen Polizisten gesucht, der ihre Theorie bestätigen würde, dass ihr Freund sich nicht umgebracht hatte. Nun würde sie die Bestätigung bekommen, doch sie schreckte vor ihr zurück, denn danach würde die Trauer freie Bahn haben.
»Er ist schon vor seinem Sturz ins Wasser tot gewesen.«
»Das heißt, jemand hat ihn umgebracht.« Es war keine Frage.
»Ja, das heißt es.«
»Aber wie …«
»Das versuche ich jetzt aufzuklären. Mademoiselle, ich muss Sie bitten, sich zu erinnern. War Gabin in den letzten Tagen verändert? Hatte er Streit? Gab es etwas, das ihn beunruhigt hat?«
»Verändert, war er verändert …« Sie sprach die Worte leise vor sich hin, während sie nachdachte. »Ich weiß nicht …«
»Ich habe mit jemandem aus seiner Umgebung gesprochen, der ihn sehr nachdenklich fand. Nein …«, Lacroix kramte in seiner Erinnerung, »fiebrig. Fiebrig hat er ihn genannt.«
»Hmm, ich kann es nicht sagen«, erwiderte die junge Frau, »wir hatten uns in der Nacht vorher nicht gesehen. Eigentlich waren wir verabredet, aber Gabin hat mich am Nachmittag angerufen und gesagt, er habe noch zu arbeiten.«
»Ist das oft vorgekommen? Dass er so plötzlich abgesagt hat?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Was hat Gabin in den Tagen vor seinem Tod gemacht? Haben Sie denn gar nicht über seine Arbeit gesprochen?«
»Doch, er hat mir immer wieder davon erzählt, aber eher mit einem Lachen.« In Gedanken an ihren Freund musste sie lächeln. »Er hat dann gesagt: Da sitzt so ein hübsches Geschöpf mit mir in einer Bar, und ich erzähle nur von meinen alten Schinken.«
»Aber er hatte echtes Interesse an diesen alten Schinken …«
»Ich weiß, dass er vormittags entweder in seiner Wohnung war und Bücher sortiert oder im Internet gestöbert hat, nach Schnäppchen, die er teurer weiterverkaufen könnte. Oder er hat bei Wohnungsauflösungen nach Büchern gesucht. Nachmittags hat er dann den Stand geöffnet und dort bis abends verkauft. Und dann war er oft mit seinen Kollegen etwas trinken.«
»Hatte er einen besonderen Freund unter den anderen Bouquinistes? Jemanden, der mir mehr sagen könnte über seine große Leidenschaft? Ich habe zum Beispiel mit seinem direkten Nachbarn gesprochen, Ahmed, er schien Gabin sehr zu mögen.«
»Hmm, ja, den kenne ich auch, er war immer sehr nett. Hören Sie, Commissaire, ich war nicht viel unten am Fluss, diese alten Männer reden nur über Bücher. Eine junge Frau ist da ein Fremdkörper, und so habe ich mich auch gefühlt. Aber es gab einen Mann, der war auch ein paarmal bei Gabin zu Hause, Hervé hieß er, Hervé … wie er weiter hieß, hab ich vergessen. Aber er ist dort unten bekannt, er hatte seinen Stand ganz in der Nähe von Gabin. Fragen Sie ihn, ja?«
»Das werde ich, Mademoiselle.« Lacroix räusperte sich. »Ich weiß, es ist sehr früh, weil Sie es eben erst erfahren haben. Aber dennoch kann ich Ihnen die Frage nicht ersparen: Ist da irgendwas, was Sie mir noch sagen sollten? Etwas, was mir helfen könnte? Stand es gut zwischen Ihnen? Gab es da noch jemanden in Ihrem oder in seinem Leben? Das hier ist Paris, und ich … nun ja, ich stoße oft auf Abgründe, die ich vorher nicht vermutet hätte.«
Die junge Frau lächelte ihn an. »Ich ahne, was Sie meinen«, sagte sie. »Aber da war nichts. Wirklich. Wir haben keine Leichen im Keller. Und wir haben uns wirklich gut verstanden. Er war ein echter Gentleman … wie in den alten Büchern, die er so liebte. Er war ein großer Liebhaber von Hemingway, wissen Sie? Das war sein erstes Geschenk an mich: Der Garten Eden , dieses Buch in dem so viel gegessen und geliebt wird. Danach war es um mich geschehen, glaube ich.«
Lacroix ließ ihre Worte wirken.
»Ich verstehe, Mademoiselle. Hat er irgendwann erwähnt, dass er Konkurrenten hatte? Jemanden, den er nicht mochte? Oder umgekehrt: der ihn nicht mochte?«
»Wie gesagt: Privat war er sehr umgänglich – und beruflich … darüber weiß ich einfach nicht genug.«
Lacroix seufzte. »Nun, dann werde ich mit dem wenigen arbeiten, was ich weiß.«
»Tut mir leid. Ach, und Commissaire?«
»Ja?« Er sah die roten Flecken in ihrem Gesicht.
»Können Sie mich auf dem Laufenden halten? Ich werde kein Auge zumachen, bis ich weiß, wer das getan hat – und vor allen Dingen: warum.«
»Natürlich, Mademoiselle.«
Eine halbe Stunde nachdem die junge Frau gegangen war, verließ auch Lacroix sein Büro und trat gedankenverloren in das Großraumbüro. Rio, die in der Zwischenzeit zurückgekommen war, sah sogleich auf.
»Besprechung?«, fragte sie. Der Commissaire nickte.
»Ich habe Sie dort drinnen sitzen sehen, aber ich wollte nicht stören. Kann ich dann jetzt die Bilder an die Wand hängen?«
»Sehr gern, merci , Capitaine.«
Rio wusste, wie wichtig für den Commissaire die Glaswand war, die sein Büro von dem seiner Untergebenen trennte. Daran hefteten sie bei jedem neuen Fall die Fotos aller Personen, die mit der Ermittlung in Verbindung standen: Opfer, Verwandte, Zeugen und alle eventuell Beteiligten. Lacroix hatte damit irgendwann begonnen, weil er so die Verbindungen der Personen zueinander immer wieder neu anordnen konnte. Es half ihm, ihre Beziehungen zu ergründen, und – was vielleicht am wichtigsten war: Eines Tages war ihm klar geworden, dass er auf diese Art und Weise in neunundneunzig Prozent der Fälle auch den Täter vor Augen hatte. Durch sehr genaues Betrachten und Nachdenken würde er ihn höchstwahrscheinlich überführen. Denn nur in dem verbleibenden einen Prozent der Fälle war der Täter der große Unbekannte, ein Irrer, ein Serientäter, ein Mensch, der wahllos mordete. Bei allen anderen Mordfällen aber gab es eine Verbindung, zumeist eine sehr enge. Deshalb war die Fotowand für den Commissaire unerlässlich.
»Aber lassen Sie uns vorher die Neuigkeiten durchgehen«, sagte Lacroix, und sie nahmen an dem Konferenztisch Platz, der in der Ecke des Büros stand. Auch Paganelli kam angespurtet, in der Hand eine Dose dieses schrecklichen Energydrinks, von dessen Geruch allein Lacroix ein flaues Gefühl im Magen bekam.
»Bevor ich es vergesse, Rio«, begann Lacroix, »könnten Sie nachher Arnaud Mercier anrufen? Er ist auf dem Weg in den Osterurlaub. Sie können ihm ausrichten, dass sein Verdacht gerechtfertigt war.«
»Das mache ich, Commissaire. Hat er Sie zuerst auf den Todesfall gebracht?«
»Ja, genau. Ich bringe Sie jetzt auf den neuen Stand.« Lacroix fing an und erzählte von Merciers Verdacht, dass der Tote aus der Seine kein Unfallopfer war. Dann schilderte er das Gespräch mit der jungen Frau und mit Ahmed, dem Händler am Ufer.
»Sie haben sicher noch kein Ergebnis der Spurensicherung aus der Rue de la Grange aux Belles?«, fragte er Rio.
Die Capitaine schüttelte den Kopf. »Diese Wohnung ist ein wahres Spurenparadies. All die alten Bücher auf dem Boden … Das kann dauern. Der Offizier war richtiggehend entzückt von so viel Arbeit so kurz vor Ostern.«
»Das kann ich mir vorstellen. Gut, bleiben Sie dran. Paganelli, was ist mit dem Hintergrund des Opfers?«
»Gabin Belleroix, geboren am 25 . April 1984 in Rambouillet in den Yvelines, Sohn eines Geschichtslehrers und einer Angestellten der Mairie. Der Vater ist vor acht Jahren gestorben, die Mutter vor zwei Jahren. Keine Geschwister.«
Der Korse musste nicht von einem Zettel ablesen, er hatte alle Informationen im Kopf. Wie so vieles schätzte Lacroix auch das an seinem jüngsten Mitarbeiter: Paganelli wirkte so lässig, fast schon schludrig, dass man ihn leicht unterschätzen konnte, in Wahrheit aber war er ein echter Spürhund, der die Nadel im Heuhaufen fand, wenn er für einen Fall brannte.
»Er hat Philosophie in Nantes studiert und anschließend zwei Jahre als Bibliothekar gearbeitet, sich dann aber gegen die Beamtenlaufbahn entschieden. Seine Bewerbung um einen der Plätze als Bouquiniste an der Seine ist vor sieben Jahren eingegangen. Angefangen hat er dann vor fünf Jahren.«
»Es gibt eine Wartezeit für die Verkaufsplätze am Fluss?« Rio klang überrascht.
»Na klar. Da gilt doch das alte Maklersprichwort: Lage, Lage, Lage. Wo kommen denn mehr Touristen vorbei als am Eiffelturm und eben an der Seine? Vor zehn Jahren betrug die Wartezeit sogar fünf Jahre, aber die Händler werden eben immer älter, und deshalb geben viele auf, so geht es mittlerweile schneller.«
»Seit fünf Jahren ist Belleroix also Bouquiniste«, sagte Lacroix. »Haben Sie etwas zu seiner finanziellen Situation herausfinden können?«
»Die Bankenabfrage läuft. Kurz vor den Feiertagen ist das nicht so ganz einfach – meine Kontaktperson bei der Banque de France ist jedenfalls schon in der Provence und aalt sich am Strand.«
»Ich hab einfach den falschen Job«, sagte Rio und seufzte.
»Sie verfolgen das weiter, nehme ich an?«
»Na klar, Maigret. Bis Ostersonntag, wenn es sein muss.«
Draußen hatte die blaue Stunde eingesetzt, und es wurde langsam dunkel in den Räumen des Kommissariats. Es war ein langer Tag geworden.
»Ich werde morgen früh als Erstes einen anderen Bouquiniste aufsuchen. Einen gewissen Hervé. Er soll der engste Vertraute des Toten gewesen sein. Rio, Sie könnten auch mal am Ufer auf und ab gehen, vielleicht finden wir jemanden, der Gabin Belleroix noch besser kannte.«
»Das mache ich, Commissaire.«
»Na dann, schönen Feierabend zusammen.«