29

Der Fußweg zur 129 , Rue Saint Dominique war stets ein besonderer, weil sich Lacroix im Zwiespalt befand. Natürlich, er hatte bis vor einer Stunde wieder einmal ganz tief in den Abgrund geblickt. In den Abgrund der Todsünden, so melodramatisch dieses Wort auch war. In diesem Fall waren es drei gewesen: Neid, vor allem der Neid, auf das Strahlen des anderen. Habgier spielte hier nur eine untergeordnete Rolle. Und dann war da noch der Zorn, aber Lacroix glaubte ohnehin, dass Zorn die Grundlage von allen Verbrechen war – diese Wut, die sich unter der Oberfläche in einem Menschen aufbaute, zuerst still und nur an kleinen Regungen wahrnehmbar, dann größer und stärker, bis sie sich schließlich in einer teuflischen Tat entlud.

Er hatte in Verhörraum vier schon so viele Geständnisse gehört, dass der Zorn längst Besitz von diesem Raum ergriffen hatte wie ein unsichtbares Möbelstück. Am Ende kam auch meistens noch Selbstmitleid dazu, die Erkenntnis, dass die Zeit in diesen vier Wänden endete und es dann an einem viel schlimmeren Ort weiterging. Denn das waren Frankreichs Gefängnisse: finstere Orte.

Mit einem Mord endete so nicht nur ein Leben, sondern gleich zwei. Jenes des Opfers und in diesem Fall auch jenes der Täterin.

So hätte Lacroix dieser Weg in einer der schönsten Straßen der Stadt also nur schwerfallen müssen. Doch seit vielen Jahren hatte sich daraus auch ein Ritual entwickelt: Der Commissaire genoss diesen Weg nach dem Abschluss eines Falls. Er ging, anders als sonst vorm dîner , kurz noch mal nach Hause, machte sich frisch und zog sich sein dunkelblaues Tweed-Sakko an. Dann entzündete er vor dem Haus in der Rue Cler seine Pfeife und ging ganz gemütlich in Richtung Eiffelturm, der in der Rue Saint-Dominique immer wieder im Westen in den Blick geriet.

Er hatte das Unbehagen abgeschüttelt. Warum? Ganz einfach, weil seine Auffassung von Gerechtigkeit wieder ins Gleichgewicht gekommen war. Er hatte mit seiner Arbeit den Gesetzen der République Genüge getan und sich – sofern dies noch eine Rolle spielte – um Gerechtigkeit für das Opfer bemüht. Nun galt es, sich auszuruhen – bevor diese Stadt und ihre dunklen Seiten einen weiteren Menschen hervorbrachte, dessen Ende rätselhaft war.

Kurz vor dem Brunnen wandte sich Lacroix nach rechts und betrat das Etablissement, welches an diesen Abenden das Ziel der Eheleute war.

Draußen hingen die kugelrunden goldenen Lampen, die mit ihrem gelben Licht Heimeligkeit versprachen, und dann war da der dicke samtene Vorhang in einem Bordeauxrot, das für die gute alte Zeit stand, die der Commissaire hier wiederfand. Der Vorhang öffnete sich und gab den Blick auf den hölzernen Tresen mit der Marmorplatte frei, darüber die Bar mit all den guten Cognacs und eaux-de-vie  – und schon kam Christiane auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm die bises .

»Glückwunsch zum gelösten Fall«, flüsterte sie, wie jedes Mal, wenn Lacroix hierherkam, denn es gab außer dem ersten Weihnachtstag nur diesen Anlass für ein dîner in der Fontaine de Mars: Nur der Abschluss eines Falls führte die Lacroix’ sonst hierher. »Deine Frau ist schon da«, sagte Christiane, die Wirtin und Besitzerin, und führte ihn hinten in den großen Saal, vorbei an der Schneidemaschine für Schinken und Saucissons und an besetzten Tischen zu ihrem Stammtisch, dem besten, ganz hinten an der Wand unter der Spiegelfront, mit Blick in den Raum.

Dominique saß auf der rot bespannten Bank, und Lacroix setzte sich wie üblich nicht auf den Holzstuhl ihr gegenüber, sondern direkt neben sie und gab ihr einen langen Kuss. Dominique hatte ganz rote Wangen, als wäre es furchtbar heiß hier drinnen, dabei war es wie üblich äußerst angenehm temperiert.

»Alles gut, chérie ?«, fragte er.

»Ja, wieso?«

»Du wirkst ein bisschen aufgeregt …«

Dominique ergriff seine Hand und drückte sie. »Du bist mein Seismograph«, sagte sie. »Aber ja, es ist alles gut. Ich habe eine Neuigkeit, aber ich kann sie dir nicht hier erzählen. Das hier ist unser Ritual für dich – und nachher machen wir noch etwas anderes, dann erzähle ich es dir. Aber nun erst mal du …«

Lacroix wollte eben etwas erwidern, doch da stand schon Christiane wieder am Tisch.

»Bevor ihr in die Fallanalyse einsteigt, meine Lieben, braucht ihr die Karte?«

Lacroix schüttelte den Kopf und nickte Dominique aufmunternd zu. »Du bist heute dran, chérie

»Na gut, dann nehmen wir zwei coupes de champagne und danach noch mal eine Flasche von eurem Roten, bevor es Sommer wird. Sag, Christiane, habt ihr schon Spargel?«

»Vorhin aus den Landes gekommen, die erste Lieferung von Bauer Mathio, ein Leckerbissen mit unserer sauce mousseline

»O ja, das nehmen wir beide. Der Commissaire wünscht sich als Hauptspeise bestimmt …«, sie überlegte nur einen Moment, »nein, nicht das Landhuhn mit den Morcheln, sondern zum Rotwein die Rinderbäckchen mit Artischocken, und ich werde die Jakobsmuscheln mit schwarzem Trüffel nehmen – zum Abschluss wie immer die millefeuille à la vanille

»Ein Menü, das ich nicht schöner hätte zusammenstellen können«, sagte Christiane lächelnd. »Du bist bei Dominique wirklich in guten Händen, mon cher . Ich bringe euch sofort den Champagner, dann lasse ich euch erst mal in Ruhe, damit ihr reden könnt.«

Lacroix lehnte sich auf der Bank zurück und atmete einmal tief durch. Draußen vor dem Fenster konnte er die Flaneure sehen, die den ersten richtig warmen Abend des Jahres genossen, und die Eiligen, die dringend ihre Reservierung im Restaurant einhalten wollten. Der Commissaire spürte, wie er langsam zur Ruhe kam. Christiane erschien wie versprochen mit einem Teller luftgetrockneter saucisson aus der Auvergne und den zwei Gläsern, öffnete eine Flasche Champagner und schenkte ihnen beiden ein. »À votre santé« , sagte sie noch, bevor sie verschwand.

»Weißt du, dass wir es beinahe versäumt haben, ausgerechnet das Foto der Täterin aufzuhängen? Das ist mir tatsächlich noch nie passiert.«

»War sie so unscheinbar?«

Lacroix nickte. »Das trifft es genau. Sie war immer am Rand, hat sich nie in den Vordergrund gedrängelt, ist aber auch von sich aus nicht aufgefallen. Und doch war sie immer da. Das war natürlich von unschätzbarem Vorteil: Niemand nimmt dich für voll, und doch bekommst du jedes Gespräch mit und bist immer auf dem Laufenden.«

»Die Mörderin von deinem jungen Bouquiniste war also die Händlerin neben Monsieur Hugo?«

»Du kennst sie?«

»Ich war sicher ein paarmal am Ufer unterwegs, und ich habe sie neben ihm immer bemerkt. Weißt du, ich musste in der Politik schon oft leidvoll lernen, dass die Stillen, die nicht ihre Stimme erheben, die sind, die unbemerkt und dafür umso effizienter gegen dich arbeiten. Zudem gilt: Bei uns zählt jede Stimme, auch die der ruhigen Wähler.«

Sie mussten beide lachen.

»Ja, sie hat es getan. Sie will es wie einen Unfall aussehen lassen, so, als sei er gefallen. Aber selbst wenn: Sie hat nichts getan, um ihn zu retten, sie hat den toten Körper sogar im Fluss entsorgt.«

»Eine schreckliche Vorstellung«, sagte Dominique kopfschüttelnd. »Aber warum hat sie es getan?«

»Vordergründig ging es um ein paar Seiten Papier – die Short Story, die Hemingway angeblich für Monsieur Hugo geschrieben hat. Jeder in Paris, mit Ausnahme von mir, hatte davon ja gehört. Sie als Nachbarin von Monsieur Hugo natürlich noch um einiges konkreter. Ob sie wirklich geglaubt hat, dass die Geschichte existierte? Nun ja, jedenfalls hat dann der arme Gabin das Manuskript gefunden, auf dem sagenumwobenen Dachboden am Canal Saint-Martin. Er wusste, dass es eine Sensation war, das Bernsteinzimmer der Bouquinistes sozusagen. Aber er hatte keine Ahnung, was er damit anfangen sollte – verkaufen? Ausstellen? Zu Geld machen? Der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen? Oder doch lieber die Geschichte seinem Eigentümer zurückgeben – Monsieur Hugo. Also hat er seinen Freund Hervé gefragt, und der hat in einem Anflug von Übermut im Suff anderen davon erzählt. Das entfachte ein Lauffeuer.«

»Er hat es also weitererzählt?«

»Ja, in dieser schrecklichen Spelunke unten am Fluss. Na ja, dann muss auch Agathe davon erfahren haben. Sie hat sich auf die Suche gemacht – und die führte sie direkt zu Gabin und zu jener unglückseligen Nacht.«

»Und was ist dann aus der falschen Hemingway-Geschichte geworden?«

»Stell dir vor: Sie haben versucht, sich die Seiten gegenseitig zu stehlen. Ich glaube mittlerweile, dass fast alle Bouquinistes, die Wind davon bekamen, mitgemacht haben. Deshalb gab es auch jede Nacht neue Einbrüche – und das Feuer an Gabins Stand. Nach dem Tod des jungen Mannes wusste niemand mehr, wo das kleine Büchlein war.«

»Und wo war es?«

»Dort versteckt, wo wirklich niemand es erwartet hätte. Bei Monsieur Hugo inmitten seiner Bücher. Es ist kaum zu glauben, aber der blinde Buchhändler hatte sich seine eigene Legende geschaffen – und alle glaubten daran. Sie dachten, dass er trotz seines fehlenden Augenlichts imstande ist, jedes Buch in seinem Laden zu kennen und zu erkennen. Und deshalb suchten sie bei ihm gar nicht erst.«

»Wie war es denn dort hingelangt?« Madame Lacroix trank schnell einen Schluck von ihrem Champagner, die Gläser standen noch unberührt da. »Warte«, rief sie aus, »ich ahne es. Gabin … er hat es dort versteckt, weil sein Buchhändler-Kodex …«

Lacroix sah sie zärtlich lächelnd an und nickte. »Deshalb bist du Politikerin, weil du die Worte auf den Punkt bringen kannst, nach denen ich eine Woche suchen würde. Genau, sein Buchhändler-Kodex. Ja, Gabin Belleroix war vernarrt in Bücher, aber er war auch vernarrt in die alte Gilde der Bouquinistes und in ihre Traditionen. Besonders gut kannte er sich mit Hemingway aus. Als er dann auf diesem Dachboden am Canal Saint-Martin das Abteil der verstorbenen Dame ausräumte, hat er die Kisten gleich dort vor Ort in Augenschein genommen. Und unter den wenigen Büchern mit geringem Wert auch die Geschichte gefunden – stell dir vor, sie war irgendwo dazwischengerutscht. Er muss wie vor den Kopf gestoßen gewesen sein. Gabin hat sie noch vor Ort verschlungen und dann nur noch mehr Fragezeichen gesehen. Er kannte Hemingway in- und auswendig. Aber an dieser Geschichte, unter der sogar Hemingways Kürzel stand, stimmte nichts: Es war nicht seine Handschrift, es war nicht sein Schreibstil, und es war auch nicht annähernd von der Qualität, die dem Amerikaner eigen war. Ganz tief innen drin muss er es sofort gewusst haben – dennoch brauchte er Klarheit.«

»Und hat anderen Bouquinistes von der Short Story erzählt.«

Lacroix nickte. »Angefangen bei seinem größten Vertrauten, Hervé Laroche. Da lag Gabins größter Fehler. Er dachte, die Loyalität unter den Bouquinistes sei grenzenlos. Also fragte er ihn nicht nur nach den Hintergründen von Hemingways Geschenk aus, sondern erzählte ganz arglos, dass er eine Short Story gefunden habe, über der Hemingways Name stand. Und dass er sich frage, was er nun damit tun solle. Hervé war völlig sprachlos – und erzählte es am Abend erst mal der halben Bouquinisten-Gilde. Als er merkte, was für eine Dummheit er begangen hatte, machte er sich selbst auf die Suche nach der Geschichte. Doch schon am nächsten Tag musste er einsehen, wie schwerwiegend seine feuchtfröhliche Plauderei gewesen war – weil Gabin Belleroix dann schon nicht mehr lebte.«

Christiane näherte sich ihrem Tisch.

»Ihr Lieben, die Vorspeise wäre bereit, wir halten sie aber für euch warm. Sagt Bescheid, wenn ihr so weit seid, ja?«

Lacroix sah Dominique an. Sie nickte. Sie waren beide sehr hungrig. »Wir sind gleich fertig, danke, Christiane.«

»Dabei hatte sich Gabin nach nur einer Nacht Bedenkzeit längst entschieden, dass er seinem Glauben an die Tradition und die Loyalität folgen würde. Er hatte nach dem Abend, an dem er Hervé davon erzählt hatte, so ein schlechtes Gewissen, dass er gleich am Morgen danach zu Monsieur Hugo an den Stand gegangen ist. Die Mörderin hatte ihren Laden noch nicht geöffnet, sie kam erst später. Er verwickelte den blinden Buchhändler in ein Gespräch über die Hemingway-Geschichte. Und versteckte die Seiten währenddessen zwischen Hugos Büchern, ohne dass der es bemerkte. Gabin wollte, dass Hugo seine Geschichte zurückbekam – wer auch immer sie nun geschrieben hatte. Und so ist es auch gekommen: Ich habe die Short Story heute genau neben Der alte Mann und das Meer gefunden, ein Stück weit zurückgeschoben, damit sie nicht auf den ersten Blick gefunden wird.«

»Gabin Belleroix war wirklich ein Romantiker.«

»Ja, und ein echter Gewinn für die Bouquinistes. Hoffen wir, dass es mehr dieser jungen Leute gibt, damit die grünen Kästen am Fluss auch noch in hundert Jahren befüllt werden.«

»Ach, Commissaire, du bist auch ein alter Romantiker – aber dafür liebe ich dich.«

Lacroix nahm ihre Hand und streichelte sie, just in dem Moment, in dem Christiane mit zwei Tellern in der einen und einer Sauciere in der anderen Hand aus Richtung der offenen Küche kam.

Der Spargel stammte aus einem kleinen Dorf im Südwesten Frankreichs, so wie fast alle Spezialitäten hier aus der Region südlich von Bordeaux kamen. Es waren vier große Stangen, die so weiß und zart aussahen, dass Lacroix gar keine Sauce gebraucht hätte, aber er wusste natürlich, wie gut die mousseline in der Fontaine de Mars war, diese Mischung aus Eigelb, Weißwein, Schnittlauch, Butter und frischer Sahne.

»Meine Lieben, Ostern ist da und damit auch das Gemüse dazu, bon appétit

»Merci , Christiane.« Das Ehepaar sah so hungrig auf die Teller, dass Dominique laut lachen musste.

»Nach dem Essen erzählst du mir alles weiter, ja? Gratuliere zum gelösten Fall, mon amour

»Und du erzählst mir noch dein Geheimnis, ja?«

»Versprochen.«

Der Spargel war ein Genuss, genau wie die Rinderbäckchen mit Artischocken und die sanft angebratenen Jakobsmuscheln zum Kartoffel-Trüffel-Püree. Das Dessert, die legendäre millefeuille , die so süß und reichhaltig aussah, war trotz all der Sahne so leicht, dass es die Lacroix’ regelrecht beschwingte.

Nach diesem wunderbaren dîner verabschiedeten sie sich viel früher als sonst von Christiane, und Dominique nahm ihren Commissaire bei der Hand.

»Komm, wir gehen zu Fuß«, sagte sie.

Und dann gingen sie die Rue Saint-Dominique hinunter. Lacroix, der Überraschungen nur mochte, wenn sie so privat waren wie diese hier, ließ sich an der Einbiegung zur Rue Cler vorbeiführen und immer den Hügel hinab, vorbei an der Basilique von Sainte-Clotilde und dann auf den Boulevard. Sie sprachen gar nicht so viel, wie man es hätte erwarten können, sondern genossen viel lieber den lauen Frühsommerabend und all die Nachtschwärmer, denen es so ging wie ihnen, die satt und zufrieden waren und der nächsten Abendveranstaltung entgegenströmten. Sie sogen den Anblick der blühenden Kirschbäume und der großen Linden in sich auf, und der Krokusse, die verliebte Stadtgärtner in die winzigen Blumenkästen am Balkon eingesetzt hatten.

Erst als Dominique ihn nach links in die Rue de Buci führte, ahnte er etwas, und dann sah er schon von Weitem den Lichtschimmer, der gleich darauf zu einem Lichterglanz wurde und sein Herz eine Oktave höher schlagen ließ. Als sie dann die schwere Tür öffnete und ihn hereinbat, atmete er auf: Außer ein wenig Farbgeruch, der in der Luft lag, hatte sich nichts verändert. Dieselben alten Holzstühle, dieselben Tische mit den Marmorplatten – und vor allem derselbe Zinktresen mit dem glänzenden Zapfhahn und Yvonne mit einem breiten Lächeln dahinter. An der Theke saßen die Stammgäste, als wäre niemand je weg gewesen: Alain, der Gemüsehändler, Pierre-Richard, sein Bruder, und all die anderen, die hier zum Inventar gehörten wie der Eiffelturm und die Grummeligkeit zu Paris.

»Jetzt sind wir wieder alle komplett«, rief Yvonne fröhlich und zur Küche gewandt, »komm schon, chéri , sag unserem Commissaire Salut.«

Und Dominique zog Lacroix ein Stück heran und flüsterte: »Ich konnte es dir nicht sagen, Yvonne hat mich angerufen, damit ich dich zur Wiedereröffnung mitbringe, aber wenn du gewusst hättest, dass die heute ist, wären wir nie in die Fontaine gegangen – und das konnte ich nicht zulassen, es ist so eine schöne Tradition.«

Lächelnd trat Lacroix an den Tresen, ohne Dominiques Hand loszulassen.

»Mon dieu , bin ich froh«, sagte er, und seine Stimme war vor Rührung noch etwas tiefer als sonst, »ich dachte schon, du gewöhnst dich an das süße Leben in Freiheit und ohne uns.«

»Wo denkst du hin, mon cher ?«, fragte Yvonne und stellte Dominique und ihrem Mann zwei frisch gezapfte Meteor aus dem Elsass auf die Theke.

»Hast du das wirklich geglaubt?«, fragte Alain und gab seinem Freund einen Klaps auf die Schulter. Verabscheute der Commissaire sonst Berührungen von Menschen, die nicht seine Frau waren, galt das jedoch nicht hier im Chai de l’Abbaye. »Yvonne hat doch an keinem Tag den Chai aus dem Blick gelassen. Ich glaube, ihr hat das alles noch viel mehr gefehlt als uns, oder, Yvonne?«

Die Wirtin hob beinahe entschuldigend die Hände. »Da hast du recht, hast du es bemerkt, du alter Gauner?«

Und dann fiel es auch Lacroix auf. Er hatte Yvonne den gelassenen Urlaubsmodus wirklich abgenommen.Verdammt, da hatte ihn seine viel gerühmte Menschenkenntnis aber ordentlich im Stich gelassen. Wahrscheinlich setzte sie bei Menschen aus, die er zu sehr mochte. Denn wenn er sich recht erinnerte, hatte er sie in der Tat ausschließlich in der Rue de Buci gesehen: beim Einkaufen, beim Frühschoppen im Maison Germain, genau gegenüber dem Chai, und dann noch einmal bei Alain, dem Gemüsehändler, auch keine hundert Meter entfernt. Sie hatte ihr Bistro nicht aus den Augen lassen können: um auf die Maler aufzupassen, na klar, aber auch, weil sie diesen Ort so mochte. Herrgott, er hatte sich wirklich zum Narren halten lassen.

»Umso besser«, sagte er hocherfreut. »Dann gehen wir eben alle zusammen eines Tages in Rente – aber du bleibst hier.«

»Eines sehr fernen Tages, hoffe ich«, sagte Yvonne.

»Na, du willst doch sicher auch noch einmal wiedergewählt werden, oder, Dominique?« Pierre-Richards Frage klang fröhlich, doch Madame Lacroix wurde auf einmal ganz rot. Sie schmiegte sich an ihren Mann. »Du, ich wollte doch noch mit dir reden … Genau darum geht es.«

Schnell wandten sich der Priester und Alain wieder einem anderen Thema zu, und auch Yvonne schien den ersten Wasserfleck auf dem Tresen entdeckt zu haben. Also zog sich das Ehepaar Lacroix nur scheinbar unbemerkt an den Rand des Tresens zurück, und der Commissaire sagte leise:

»Nun sag schon, was ist? Was ist deine Neuigkeit?«

Dominique atmete schwer, es schien wirklich wichtig zu sein. Sie nahm seine Hand und trank noch einen Schluck Bier. Erst dann erhob sie nach mehrmaligem Räuspern die Stimme: »Mon amour , ich weiß, das ist jetzt überraschend, und ich weiß, wie sehr du es verabscheust, in der Öffentlichkeit zu stehen, aber – es ist so, dass meine Partei mich gefragt hat … und ich habe gesagt, ich werde mit dir reden, wir entscheiden es zusammen. Aber sie setzen alle Hoffnungen in mich, und ich glaube, ich würde es gern machen. Jedenfalls: Sie haben mich gefragt, ob sie mich aufstellen dürfen, für die Wahl im nächsten Jahr. Ich soll als neue Bürgermeisterin von Paris kandidieren.«

Porches/Moliets-et-Maa/Paris/Berlin/Wandlitz, Februar bis Juni 2021