6. Kapitel

IMAGE chweigend sah Conlin seinem Vetter dabei zu, wie dieser das gedrungene Maultier vom Hof des Dominikanerklosters auf die Gasse führte. Hinter dem Tier rollte ein Wägelchen mit allerlei Gepäck her. Ein Blick in Richtung seines zukünftigen Schwiegervaters verriet ihm, dass dieser offenbar ähnliche Gedanken hegte wie Conlin selbst. Sein Verdacht bestätigte sich, als Graf Johann sein Pferd etwas näher an das von Conlin heranlenkte.

»Mit diesem Priesterchen wirst du noch deine helle Freude haben, das verspreche ich dir.«

Conlin antwortete nicht darauf. Johann von Manten hatte recht. Mit allem Möglichen hatte Conlin gerechnet, als Bruder Thomasius ihn praktisch genötigt und erpresst hatte, Genericus zum Gut Langenreth mitzunehmen, nicht aber mit diesem geradezu engelhaft schönen Mann, dessen Gesichtszüge und schlanke, hochgewachsene Gestalt auch ohne jedes Wort die Existenz einer Bastardtochter erklärten.

Was hatten sich die Dominikaner nur dabei gedacht, Genericus als noch ganz jungen Priester zur Seelsorge in einen Patrizierhaushalt mit Töchtern im heiratsfähigen Alter zu schicken? Das Desaster war selbstverschuldet, so viel war sicher. Überhaupt staunte Conlin nicht schlecht. Er konnte sich an Genericus, der einige Jahre älter als er selbst war, zwar nur noch schemenhaft erinnern, war sich jedoch ganz sicher, dass dieser als Junge vollkommen unscheinbar gewesen war. Etwas pummelig und ungelenk. Im Leben hätte Conlin sich nicht träumen lassen, dass aus dem blässlichen Knaben einmal ein Mann werden würde, dem die Weiber, wenn er denn nicht die weiße Priesterkutte der Dominikaner tragen würde, mit schmachtenden Blicken nachlaufen würden.

Momentan war das ebenmäßige Antlitz des Priesters zwar noch etwas lädiert, weil Oswald in seinem Zorn wieder einmal ganze Arbeit geleistet und den Vetter grün und blau geprügelt hatte, doch die Blessuren würden alsbald verblassen … Und was dann? Würden sie womöglich in absehbarer Zeit noch weitere Bastarde zu verpflegen haben?

O ja, Conlin wusste nun zu genau, warum die Dominikaner so erpicht darauf waren, ihren Mitbruder loszuwerden. Leider hatte er keine andere Wahl gehabt, als auf den Handel einzugehen, denn wie sonst hätte er Oswald aus dem Frankenturm freibekommen sollen?

Gleich nachdem Conlin alle Verträge unterzeichnet hatte, die Bruder Genericus samt dessen unehelicher Tochter Ida in seine Obhut übertrugen, hatte Bruder Thomasius seine Anklage gegen Oswald zurückgezogen. Somit würden sie ihn später ohne weiteren Prozess aus dem Gefängnis abholen und wieder mit nach Koblenz nehmen können.

»Sind dies all Eure Habseligkeiten?« Graf Johann deutete auf die Bündel auf dem Wägelchen.

Bruder Genericus trat einen Schritt vor und nickte freundlich. »Ja, Herr, das ist alles. Als Diener Gottes ist es mir nicht erlaubt, viel Eigentum zu besitzen. Lediglich Kleidung, ein paar Schreibutensilien und Bücher, die man mir erlaubt hat mitzunehmen.«

»Hm.« Graf Johann warf Conlin einen kurzen Blick zu. »Und die Sachen Eurer … des Mädchens werden ebenfalls auf den Wagen passen?«

Genericus lächelte bei der Erwähnung seiner Tochter. »Sie gilt als meine Nichte und mein Mündel. In diesem Wissen wurde sie aufgezogen.«

»Bruder Thomasius erwähnte es.« Conlin sah sich um. Einige neugierige Passanten beäugten sie und tuschelten miteinander. »Ich denke, es ist besser, wenn wir jetzt aufbrechen. Weise uns den Weg zum Kloster der Dominikanerinnen, Genericus. Du kennst dich in Köln besser aus als wir.«

»Wie Ihr wünscht, Herr Conlin.«

Obwohl sie einander bereits als Kinder gekannt hatten, wollte Genericus sich nicht recht von der förmlichen Anrede trennen. Conlin beließ es vorerst so, obwohl er sich nicht ganz wohl dabei fühlte. Von Geburt her bestand keinerlei Standesunterschied zwischen ihnen. Sie waren beide nachgeborene Grafensöhne und Genericus sogar etwas älter als Conlin. Im Augenblick gab es jedoch wichtigere Dinge.

Genericus übernahm, das Maultier am Zügel führend, die Vorhut, Conlin und Graf Johann folgten zunächst schweigend. Nach einer kurzen Weile beugte sich Graf Johann ein wenig in Conlins Richtung. »Ich fürchte, du musst fortan ein Auge auf deine Mägde halten. Und auf alles, was in deinem Haus weiblich ist und noch nicht jenseits von Gut und Böse. Gibt es Edeljungfern bei euch?«

»Nein, derzeit nicht.« Conlin erinnerte sich nicht mehr daran, wann die letzte edle Jungfer in seiner Familie erzogen worden war. Es musste schon an die zehn Jahre her sein. Nachdem er sich dem Willen seines Vaters entzogen und das Augustinerkloster verlassen hatte, in dem er Karriere hätte machen sollen, war keine Maid aus befreundeten Familien mehr auf Gut Langenreth aufgenommen worden. Den genauen Grund kannte Conlin nicht. Vielleicht hatte seine Mutter einfach keine Verantwortung mehr für ein Mädchen übernehmen wollen. Im Hinblick auf Oswalds unberechenbares Temperament und die Tatsache, dass er damals noch nicht verheiratet gewesen war, erschien Conlin diese Entscheidung als durchaus weise.

Inzwischen hatte sich die prekäre wirtschaftliche Lage des Grafen vom Langenreth so weit herumgesprochen, von Oswalds Irrsinn ganz zu schweigen, dass wohl kaum ein Elternpaar gewillt sein würde, seine Tochter in Christines oder Amalias Obhut zu geben.

»Dein Glück, zumindest derzeit noch«, antwortete Graf Johann mit einem grimmigen Lächeln. »Allerdings wird Reinhild über kurz oder lang Edeljungfern aufnehmen wollen oder gar selbst eine Tochter zur Welt bringen.« Ein undefinierbarer, jedoch alles andere als freundlicher Blick traf Conlin. »Was gedenkst du zu tun, um sie vor diesem«, er wies mit dem Kinn auf Genericus, »Kerlchen zu schützen?«

Genericus schien ein gutes Gehör zu besitzen, denn er zog bei des Grafen Worten den Kopf ein wenig ein.

»Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist«, brummte Conlin. Tatsächlich hatte er sich diese Frage bereits selbst gestellt, jedoch nicht einmal ansatzweise eine Antwort darauf. Vielleicht lag dies mitunter daran, dass der Gedanke, in Kürze Reinhild zu ehelichen, seinen Verstand lahmlegte.

Noch immer war er sich nicht ganz im Klaren darüber, wie es zu dieser Zwickmühle gekommen war, in der er nun festsaß. Entfliehen würde er ihr nicht können, doch der Gedanke an eine Ehe mit Reinhild jagte ihm aus verschiedenen Gründen einen Heidenrespekt ein.

»Lass dir nicht zu viel Zeit beim Finden einer Lösung«, riet derweil Graf Johann mit finsterer Miene. »Solche Angelegenheiten haben die unselige Angewohnheit, sich zu verselbstständigen, bevor du weißt, wie dir geschieht.«

Ehe Conlin erbost aufbegehren konnte, hauptsächlich deshalb, weil er genau wusste, dass sein zukünftiger Schwiegervater recht hatte, drehte Genericus sich zu ihnen um und blieb stehen, sodass auch Conlin und Graf Johann gezwungen waren, ihre Pferde zu zügeln.

»Verzeiht bitte, dass ich mich einmische. Ich konnte nicht umhin, Eure Unterhaltung mit anzuhören.« Ein gewinnendes und zugleich betrübtes Lächeln lag auf den Lippen des Dominikaners. »Ich möchte Euch gern versichern, dass Ihr nichts zu befürchten haben werdet – oder vielmehr die weiblichen Bewohner Eures Gutes, Herr Conlin.« Er stockte kurz und schien nach den rechten Worten zu suchen. »Ich bin nicht aus Überzeugung und Bestimmung Mönch geworden, doch ich nehme meine Aufgabe ernst, denn wo der Herr, der Allmächtige dich hinpflanzt, dort sollst du deinen Platz füllen und nach Kräften blühen. Deshalb bin ich mir auch meiner Verantwortung bewusst. Ich würde niemals etwas tun, das Euch oder dem Namen unserer Familie zum Nachteil gereicht!« Sein Gesichtsausdruck war nun sehr ernst geworden und absolut aufrichtig.

Conlin neigte ein wenig den Kopf, doch erneut kam er nicht dazu, etwas zu erwidern.

»Habt Ihr dies auch dem Mann gelobt, dessen Tochter Ihr geschwängert habt?«, schnappte Graf Johann und maß den Priester mit spöttisch-strengem Blick.

Zu Conlins Überraschung gab Genericus nicht klein bei, sondern straffte sogar mutig seine Schultern. »Ich war damals noch sehr jung, Herr. Jung und, wie ich zugebe, heftig verliebt. Auch ein Diener Gottes ist nicht vor allen Anfechtungen des Fleisches oder des Herzens gefeit. Damals habe ich mich hinreißen lassen.« Ein Schatten verdunkelte für einen kurzen Moment seinen freimütigen Blick, wich aber sogleich wieder einem ehernen Ausdruck. »Ich weiß nicht, ob Ihr jemals verliebt wart, und es steht mir wohl auch kaum zu, dies in Erfahrung zu bringen, aber ein junger Mann, der sich in solch einem Zustand befindet, kann schon mal den Kopf verlieren und unsinnige, unvernünftige Dinge tun.«

»Dazu muss man nicht zwangsläufig sehr jung sein«, murmelte Graf Johann zu Conlins grenzenloser Überraschung.

Genericus nickte. »Das mag wohl wahr sein, Herr, jedoch gewinnt man mit zunehmendem Alter eine bessere Urteilsfähigkeit und Selbstbeherrschung. Seid versichert, dass ich mich in den vergangenen Jahren sehr ausgiebig in der Mäßigung geübt habe. Ich bin inzwischen zweiunddreißig Jahre alt.«

»Ein wahrhaft biblisches Alter«, spöttelte Graf Johann, der beinahe doppelt so viele Jahre zählte.

»Was ich damit sagen möchte«, fuhr Genericus unbeirrt fort, »ist, dass ich seit jenem Fehltritt keinerlei Versuchung mehr nachgegeben habe und dies auch zukünftig nicht tun werde. Ich bin von meinem Orden zu meiner Familie entsandt worden, um mich mit ganzem Herzen ihres Seelenheils anzunehmen, und genau das werde ich tun.« Damit wandte er sich wieder um und übernahm erneut die Führung zum Dominikanerkloster. Doch dann blickte er doch noch einmal über die Schulter, diesmal mit beinahe flehentlicher Miene. »Bitte lasst meine Tochter nicht für die Verfehlungen ihrer Eltern büßen. Ihre uneheliche Geburt ist bislang geheim geblieben. Sie soll nach Möglichkeit kein Leid aus diesem unglücklichen Umstand ziehen. Das ist auch der Wunsch ihrer Mutter.«

»Natürlich.« Hierzu nickte Conlin mit Nachdruck. »Sie wird auf Gut Langenreth als Familienmitglied aufwachsen.« Auch wenn dies alles andere als einfach werden würde. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie Amalia oder seine Mutter auf diesen Familienzuwachs reagieren würden. Von Reinhild ganz zu schweigen. Ob sich eine der Frauen mütterlich um das Mädchen kümmern würde? Er hoffte es, denn auch wenn er von der Idee, diesen Geistlichen fortan unter seinem Dach oder vielmehr dem seines Bruders zu beherbergen, alles andere als begeistert war, konnte doch die kleine Jungfer nichts für ihre unvorteilhafte Herkunft.

Eine Weile schwiegen sie, bis Graf Johann sich unterdrückt räusperte und ihm zuraunte: »Scheint ja ganz vernünftig zu sein, das Kerlchen. Ich fürchte nur, dass er bei seiner Argumentation etwas vernachlässigt hat.«

»Und was wäre das?« Fragend erwiderte Conlin den Blick des Grafen.

»Die Tatsache, dass er sich vermutlich seit jenem unseligen Ereignis damals nicht wieder verliebt hat. Es ist leicht, Anfechtungen zu widerstehen, wenn sie weder Herz noch Seele berühren. Hoffen wir, dass er bei euch keine Frau findet, der sein Herz verfallen könnte.«

Verblüfft über diese weise und zugleich überaus intime Einsicht in die Gedanken seines zukünftigen Schwiegervaters sah er diesen von der Seite an. »Glaubt Ihr, er wird sein Wort nicht halten?«

Graf Johann ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Ich glaube, er ist fest entschlossen, es nicht zu brechen.«

»Und das ist etwas Schlechtes?« Irritiert runzelte Conlin die Stirn.

»Das ist überaus kurzsichtig.« Graf Johann warf ihm einen seltsamen, vielsagenden Blick zu. »Die Liebe ist ein unberechenbar Ding – oder sollte ich sie besser einen Zustand nennen? Sie trifft wen, wann und wo sie will. Die Vernunft ist gegen sie ebenso machtlos wie alle guten oder irregeleiteten Vorsätze, mein lieber Herr Schwiegersohn. Verinnerliche diese meine Worte, wenn du klug bist. Sie treffen auf uns alle zu, ob wir es wollen oder nicht.« Er hielt kurz inne. »Was sagt eigentlich das Kruzifix dazu?«

»Das Kruzifix?« Unwillkürlich griff Conlin an die Stelle, an der unter seinem Wams das silberne Kreuz verborgen war.

»Summt oder vibriert es?«

»Nein.« Unauffällig warf Conlin einen Blick unter sein Wams und sog erschrocken die Luft ein. »Bei allen Heiligen! Leuchtet es?«

»Schsch!« Graf Johann legte den rechten Zeigefinger an die Lippen. »Welche Farbe hat es angenommen?« Seine Stimme war nur noch ein Raunen und er hatte sich mit seinem Pferd ein wenig zurückfallen lassen, sodass auch Conlin erneut sein Reittier zügeln musste.

»Ich weiß nicht.« Verunsichert schielte er erneut unter sein Wams. »Rötlich, denke ich.«

»Nicht blau?«

»Welchen Unterschied macht das?« Conlin schauderte. »Dieses Ding ist verhext!«

»Nein, ist es nicht.« Graf Johann schüttelte warnend den Kopf. »Ein blaues Licht bedeutet in aller Regel etwas Schlechtes. Golden leuchtet es, wenn sich etwas … nun ja …« Er grinste schief. »Wenn sich etwas Gutes ereignet. Rot, sagst du? Das scheint mir neu zu sein.« Er rieb sich übers Kinn. »Aber sonst ist nichts damit? Nichts zu hören oder zu spüren?

»Nein. Nicht, seit wir Bruder Thomasius los sind.«

Graf Johann merkte auf. »Hat der Pfaffe das Kreuz berührt?«

Zögernd nickte Conlin. »Im Frankenturm. Er griff danach, bevor ich es verhindern konnte.«

»Verdammich!« Verärgert presste der Graf die Lippen aufeinander. »Er hätte es niemals zu sehen bekommen dürfen!« Sinnierend blickte er in Genericus’ Richtung. »Interessant, nicht wahr? Das mit der verbrannten Hand des Pfaffen, meine ich.«

Erschrocken starrte Conlin ihn an. »Glaubt Ihr, seine Verletzung stammt von dem Kreuz?«

»Ich glaube es nicht nur, ich bin mir ziemlich sicher.« Graf Johann erwiderte seinen Blick mit einem sardonischen Lächeln. »Und du bist es ebenfalls, sonst wärst du jetzt nicht blass wie eine frisch gekalkte Wand.«

»Nehmt Ihr es!« Schon wollte Conlin sich die Kette über den Kopf ziehen.

»Mh-mh, nichts da!« Rigoros wehrte der Graf ab. »Palmiro hat dir das Ding gegeben, also badest du die Konsequenzen auch aus. Ich bin immer noch erbost, weil er mir damit die Gelegenheit vergällt hat, dir das Fell über die Ohren zu ziehen.« Er wies mit dem Kinn nach vorn. »Ich denke, wir sind angekommen. Das sieht mir sehr nach dem Kloster der Dominikanerinnen aus.«