11. Kapitel

IMAGE in wenig gerädert, jedoch hochzufrieden mit sich, lenkte Palmiro seinen hochbepackten Reisewagen den Plan hinauf und zügelte das Zugpferd vor seinem Haus. Die zwölfjährige Nilda war gerade dabei, den Weg zur Haustür zu fegen, und ließ bei seinem Anblick einfach den Besen fallen und rannte auf ihn zu.

»Don Palmiro, endlich seid Ihr wieder zu Hause!« Sie strahlte übers ganze Gesicht, ein Anblick, der seiner Seele wohltat. Noch vor Kurzem war sie ein gebrochenes, verängstigtes Häuflein Mensch gewesen, schändlich von einem skrupellosen Hurenwirt als Kindhure missbraucht und nicht einmal zu einem schwachen Lächeln fähig. Sie trat an das Pferd heran und streichelte dessen Hals. »Wir fürchteten schon, es sei Euch etwas zugestoßen, weil Ihr doch schon vor Tagen zurück sein wolltet.«

Rasch sprang Palmiro vom Wagen und fasste das Pferd am Halfter, um es in den Hof zu führen. »Ich weiß. Vielleicht hätte ich doch einen Boten vorausschicken sollen. Ich erhielt im Kloster Eberbach einige Namen von Pelzgroß- und -zwischenhändlern und konnte, wie du siehst, ein paar gute Geschäfte tätigen.« Er deutete auf die säuberlich verschnürten Pakete und Ballen auf der Ladefläche. »Diese Gelegenheit konnte ich mir nicht entgehen lassen.«

Nilda beäugte die Ladung sichtlich beeindruckt. »Das ist aber viel und bestimmt sehr wertvoll, oder? Habt Ihr die Sachen ganz allein hergebracht? Ohne Wachleute? Ist das nicht schrecklich gefährlich gewesen?«

»Ach, nun ja.« Palmiro winkte lässig ab, um Nildas Sorge nicht zu bestärken, wohl wissend, dass sie im Grunde recht hatte. »So weit war der Weg nicht, und ich bin nur bei hellem Tage auf vielbefahrenen Wegen gereist.« Mitten im Hof blieb er stehen. »Ich hoffe, Minta hat ein gutes Mahl auf dem Feuer.«

»Sie kocht Eintopf mit viel Speck, aber der ist noch nicht fertig. Sie ist rüber zur Liebfrauenkirche, um für ihre Familie zu beten, und so. Sonst macht sie das am Freitag, aber heute ist sie auch hin. Ich glaube, weil sie auch für Euch beten wollte.« Nilda war bereits auf dem Sprung. »Ich kann sie holen. Dauert auch nicht lange, Herr.« Noch ehe Palmiro widersprechen konnte, hatte das Mädchen bereits die Röcke gerafft und rannte los.

Nachsichtig lächelnd und froh, dass die Kleine sich so rasch erholt zu haben schien, schloss er das Hoftor, um die wertvollen Pelzwaren in Ruhe abladen zu können. Da er seinen Knecht Eggebrecht nirgends entdeckte, öffnete er die Hintertür seines Hauses und rief nach ihm, erhielt jedoch keine Antwort. Auch Mathys le Smithy schien nicht im Kontor zu sein.

Stirnrunzelnd drehte Palmiro sich einmal im Kreis. Wo steckten denn alle? Zumindest Benno und August hätten hier sein müssen, um das Warenlager neben der Remise zu bewachen. Doch auch auf weitere Rufe regte sich nichts. Das war seltsam, hatte Johann ihm diese beiden Wachknechte doch ausgerechnet wegen ihrer Treue und Zuverlässigkeit auf unabsehbare Zeit ausgeliehen.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Als er ein Rumoren aus dem Lager vernahm, spannte er sich unwillkürlich an und legte seine Hand auf den Griff seines Kurzschwerts, das er auf Reisen stets am Gürtel trug. Das Pferd schnaubte ungehalten, und prompt legte Palmiro den Zeigefinger der linken Hand an die Lippen und warf dem Tier einen eindringlichen Blick zu. Tatsächlich schien das Pferd ihn zu verstehen, denn es blieb nun ganz still stehen.

Langsam und vorsichtig ging Palmiro auf das zweiflüglige Tor des Lagerhauses zu. Der rechte Flügel war nur angelehnt und öffnete sich dank der sorgsam geschmierten Scharniere geräuschlos, als Palmiro leicht daran zog. Das Lager war, wie auch Stall und Remise, ein Gebäude aus Lehmfachwerk. Zur Gartenseite gab es ein einzelnes, eng vergittertes und mit schweren Fensterläden gesichertes Fenster.

Die Läden waren geöffnet, um Tageslicht in den Lagerraum zu lassen. Das sprach dafür, dass die Wachen irgendwo sein mussten. Wenn sich niemand im Lager befand sowie des Nachts wurden die Läden stets fest verschlossen und verriegelt. Durch die Gitter hätte zwar höchstens eine Ratte gepasst, doch sollten die Fensterläden auch vor unbefugten neugierigen Blicken schützen. Ein Überbleibsel des Vorbewohners. Wulfhart de Berge war Spezereienhändler gewesen, bis er sein Kontor auf seinen Schwager übertragen hatte, um in dem Ort Wied ein Weingut zu bewirtschaften.

Spezereien, insbesondere die sehr teuren Gewürze wie Pfeffer und Safran, wurden in Gold aufgewogen, und es gab viel gewitztes Gelichter, das selbst tagsüber spionierte, um herauszufinden, ob sich ein Diebstahl lohnte.

Direkt hinter der Tür blieb Palmiro stehen und lauschte. Durch die kürzlich neu eingetroffenen Regale war ihm der freie Blick durch den gesamten Raum verwehrt. Auch lagerten im rückwärtigen Teil noch einige Dachlatten, die übrig geblieben waren, als das Dach kürzlich erneuert worden war. Die Handwerker hatten sich beeilt, um den Schutz der Pelze vor Regen und Wind zu gewährleisten. Irgendwann während seiner Abwesenheit waren sie fertig geworden. Ein erneutes Scharren führte Palmiro rechtsherum hinter eines der massiven Regale. Verblüfft starrte er auf den Mann, der am Boden kniete und mit einer kleinen Schaufel den festgestampften Lehmboden bearbeitete. Er hatte breite Schultern und hellbraunes gewelltes schulterlanges Haar. Mit etwas Verspätung erkannte Palmiro ihn als den Mann, den er neulich vor den Reitern gerettet hatte.

Ein höchst alarmierendes Prickeln stieg ihm den Nacken hinauf. Er umfasste den Schwertgriff fester, dann machte er einen Schritt auf den Fremden zu und zerrte ihn grob auf die Füße.

Er war etwas größer als Palmiro und äußerst kräftig gebaut – und er reagierte flink und parierte seinen Angriff so schnell, dass Palmiro es nicht kommen sah. Nach einem Ausfallschritt zog der Mann sein Kurzschwert und drängte Palmiro gegen das Regal.

Er zog nun ebenfalls sein Schwert, und schon im nächsten Moment kreuzten sich die Klingen. Der Fremde zog sich zurück, griff aber sogleich wieder derart rasch und kunstfertig an, dass er Palmiro gleich darauf entwaffnet hatte. Sein Kurzschwert landete mit einem Klirren am Boden. Sofort stellte der Mann einen Fuß darauf und lächelte grimmig. »Guten Tag, Don Palmiro. Ein bisschen eingerostet sind Eure Kampfkünste, will mir scheinen.«

Verblüfft und verärgert zugleich starrte Palmiro ihn an. »Eingerostet?«

Der Fremde hob spöttisch die Augenbrauen. »Ich hoffe doch wohl, dass nur fehlende Übung der Grund für Euren ungeschickten Angriff ist. Wenn das nämlich alles war, das Ihr an Kampfkunst aufzubieten habt, gnade Euch Gott. Dann seid Ihr nicht nur leichtsinnig, sondern rundheraus dumm, Euch ohne eine gut ausgebildete Wachtruppe auf Geschäftsreisen zu begeben.«

Nun überwog der Ärger in Palmiro ganz eindeutig. »Ich habe bei den besten Schwertkämpfern der Stadt und Umgebung gelernt.«

»Bei Gott, das ist keine Empfehlung für Eure Lehrmeister«, konterte der Fremde mit einem trockenen Lachen und schob erst jetzt sein Schwert zurück in die Scheide.

»Wer in aller Welt seid Ihr, und was habt Ihr in meinem Lager zu suchen?« Palmiro musterte sein Gegenüber eingehend, und wie schon bei ihrer Begegnung auf der Straße erfasste ihn das ungute Gefühl, dass dieser Mann eine potenzielle Gefahr darstellte.

Seelenruhig hob der Mann Palmiros Schwert auf und reichte es ihm. »Benedikt vom Heidenstein ist mein Name. Ich vermute, Ihr hattet noch keine Gelegenheit, mit Graf Johann oder Herrn Conlin zu sprechen, seit Ihr wieder in Koblenz weilt.«

»Seit ich wieder in Koblenz weile?« Verständnislos schüttelte Palmiro den Kopf. »Ich habe das Stadttor gerade eben erst passiert.«

»Nun, das erklärt Euer Unwissen.« Benedikt vom Heidenstein grinste ihn an. »Ich trat kürzlich in den Dienst des Grafen Johann von Manten, und er wies mich an, Wachdienst bei Euch zu verrichten.«

»Ich habe bereits zwei gute Wachleute!« Argwöhnisch kniff Palmiro die Augen zusammen. »Weshalb sollte mein Großvater mir noch einen weiteren Mann schicken?«

»Wenn ich mir die Waren hier ansehe und die miteinbeziehe, die ich von hier aus auf dem Wagen sehen kann, würde ich eher wissen wollen, weshalb Ihr Euch nicht mindestens mit einer Gleve umgebt, vor allem auf Reisen.« Benedikt ging an Palmiro vorbei bis zum offen stehenden Torflügel. »Zumindest das Hoftor habt Ihr geschlossen. Das zeugt wenigstens von einem Mindestmaß an Vernunft.«

»Einem … was?« Empört starrte Palmiro ihn an. »Wie ich meine Waren sichere, ist wohl meine Sache.«

»Gewiss«, stimmte Benedikt zu. »Doch auf diese Weise werdet Ihr früher oder später einen hohen Preis für Eure Unvorsichtigkeit bezahlen. Euer Großvater hat dies bereits vorausgesehen und wird darauf bestehen, dass Ihr bei Herrn Conlin eine ausreichende Absicherung erwerbt.«

Palmiro fasste sich an die Stirn. »Ich habe kurzfristige Absprachen mit Muskin, dem Juden, getroffen.« Er lachte trocken. »Und nun will Graf Johann, dass ich einen festen Kontrakt mit Conlin schließe? Dann hat er ihn also nicht gemeuchelt.«

Diesmal war es an Benedikt, irritiert die Stirn zu runzeln. »Weshalb sollte Graf Johann seinem zukünftigen Schwiegersohn nach dem Leben trachten?«

»Das tut nichts zur Sache. Offenbar haben die beiden sich geeinigt. Und Ihr sollt die Sicherheit garantieren, die Conlin mir verkaufen wird?«

»So ist es ausgemacht. Ich habe es so verstanden, dass Graf Johann die Wachleute stellt, während Herr Conlin sich um die geschäftlichen Aspekte kümmert.«

»Sieh an.« Palmiro freute sich, dass seine Hoffnungen hinsichtlich Conlins Zukunft sich zu erfüllen schienen. Weniger begeistert war er über die Einmischung seines Großvaters in sein eigenes Sicherheitskonzept. Nun gut, genau genommen gab es ein solches Konzept noch gar nicht, doch dass er unangekündigt diesem neuen Wachmann gegenüberstand, war ihm ganz und gar nicht recht. Nicht, weil er glaubte, keinen weiteren Schutz zu brauchen, sondern weil etwas an diesem Benedikt vom Heidenstein ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ.

»Ich habe bislang noch Quartier in der Herberge Am Roten Ross bezogen, weil Eure Köchin es strikt abgelehnt hat, mich ohne Eure Erlaubnis ins Haus aufzunehmen.« Der spöttische Ausdruck auf Benedikts kantigem Gesicht kehrte zurück. »Eine ausgesprochen impertinente Person, wenn Ihr mich fragt, und scheußlich schwatzhaft.«

Palmiro reagierte ebenfalls mit Spott. »Und Ihr glaubt, es sei ein guter Einstand, zuerst meine Fähigkeiten im Schwertkampf zu beleidigen und hernach mein Gesinde? Inwiefern soll mich dies dazu ermutigen, Mintas Entscheidung aufzuheben und Euch Obdach zu gewähren?«

»Beleidigt fühlt Ihr Euch also.« Benedikt maß ihn mit nachdenklichen Blicken. »Nun gut. Ihr seid jung und klug genug, Euch eines Besseren belehren zu lassen. Wenn ich schon hier bin, kann es wohl kaum schaden, wenn ich nicht nur Eure Sicherheit verantworte, sondern Euch auch mit entsprechenden Lektionen in die Lage versetze, Euch selbst besser zu verteidigen oder einen potenziellen Gegner zu überrumpeln, ohne ihn schon fünfzehn Atemzüge vorher vor Eurem Eintreffen zu warnen.«

»Ihr wollt mir Lektionen geben?« Ungläubig fuhr Palmiro sich durchs Haar. »An Überheblichkeit fehlt es Euch offensichtlich nicht.«

Benedikt lächelte nur. »Es war nicht mein Schwert, das binnen weniger Augenblicke die führende Hand verließ, und auch nicht meine Ungeschicklichkeit, die Eure Ankunft hinter mir zeitig genug angekündigt hat, dass selbst der größte Tölpel sich gegen Euren Angriff hätte wappnen können.«

Palmiro fehlten die Worte. Was bildete dieser Kerl sich eigentlich ein, auf derart despektierliche Weise zu dem Mann zu sprechen, in dessen Dienst er zu treten gedachte? Oder vielmehr in dessen Dienst er sich offensichtlich bereits befand. Was das anging, würde er wohl ein Wort mit seinem Großvater sprechen müssen.

»Ich nehme Euer Schweigen als Zustimmung und Eingeständnis, dass ich recht habe«, stellte Benedikt sichtlich zufrieden fest.

Ärger stieg erneut in Palmiro auf. »Mein Schweigen ist weder das eine noch das andere. Doch bis ich diese Angelegenheit nicht mit Graf Johann und Conlin geklärt habe, werde ich Euch wahrscheinlich nicht los. Habe ich recht?«

»Ich führe den Befehl Eures Großvaters aus«, bestätigte Benedikt. »In Eure Befehlsgewalt gehe ich erst über, wenn Ihr den Kontrakt über die Sicherheit Eures Geschäfts mit Herrn Conlin geschlossen habt. Und auch wenn Ihr es mir als weitere Überheblichkeit ankreiden werdet, empfehle ich Euch dringend, meine Dienste nicht in den Wind zu schlagen. Euer Gesinde mag treu und wachsam zu sein, doch Eurem Sicherheitskonzept mangelt es an allen Ecken und Enden. Nehmt Benno und August. Beides gute Männer, ohne Frage, doch wer wacht hier, wenn sie Euch oder Euren Handelsgesellen begleiten, um Waren vom Hafen herzutransportieren oder auszuliefern? Oder gedenkt Ihr, dies weiterhin allein zu tun? Master le Smithy war zumindest sehr erfreut, dies heute nicht unbewacht tun zu müssen. Ich habe August und Benno mit ihm geschickt, eine Lieferung – Geschmeide soll es wohl sein – zum Hafen zu bringen, wo sie für die Reise gen Norden verladen werden soll. Mag sein, dass die Koblenzer Straßen allgemein sicher sind, aber wenn es um Kisten voll wertvollen Silber- und Perlenschmucks geht, ist es nebensächlich, ob es Tag oder Nacht ist oder ob die Behältnisse klein genug sind, um auf einen Handkarren zu passen. Es ist unverantwortlich, sie ungeschützt auf einen noch so kurzen Weg zu schicken. Das werden Euch die Empfänger Eurer Lieferung sicherlich bestätigen.« Streng wie ein Schulmeister verzog er die Lippen. »Denkt nicht, das wird schon gut gehen. Der Krug geht nur so lange zum Brunnen, bis er bricht. Und Krüge brechen schnell und oft.«

»Ist das so?« Palmiro verschränkte die Arme vor der Brust. Wie ärgerlich, dass er Benedikt nicht widersprechen konnte, ohne sich lächerlich zu machen.

»Heute war ich hier, um die Sicherheit Eures Lagers zu gewährleisten«, redete Benedikt mit vielsagender Miene weiter. »Doch wenn ich nicht hier gewesen wäre, hättet Ihr bereits ein großes Risiko eingehen müssen. Die Zeiten werden Tag für Tag gefährlicher. Strauchdiebe und Raubgesindel können überall lauern. Eure Sicherheitsstrategie entsprechend anzupassen, ist nichts als vernünftig, Don Palmiro. Oder glaubt Ihr, der junge Eggebrecht reiche aus, dieses Lagerhaus zu beschützen?«

Widerwillig schüttelte Palmiro den Kopf. »Eggebrecht ist kein Waffenknecht.«

»Eben. Deshalb habe ich ihn zum Holzhändler geschickt, von dem vorhin Nachricht kam, dass er eine Lieferung für Euch hat.«

»Nun gut.« Palmiro verließ das Lager. »Wenn ich Euch also nicht loswerde, helft mir zumindest, die Pelze abzuladen. Oder ist das unter Eurer Würde?«

»Mitnichten.« Benedikt grinste wieder. »Aber wollt Ihr nicht vielleicht zuerst wissen, was ich am Boden Eures Lagers mit einer Schaufel zu suchen hatte?«

***

Mitten in der Bewegung hielt Don Palmiro inne. Dann drehte er sich langsam zu Benedikt um, sagte jedoch nichts, sondern sah ihn nur erwartungsvoll an.

Benedikt fühlte sich merkwürdig entblößt durch diesen intensiven Blick aus dunkelbraunen, beinahe schwarz wirkenden Augen. Höchst seltsam und nicht gerade angenehm, doch er ließ sich nichts anmerken. Es brauchte schon deutlich mehr als einen Blick, um Benedikt vom Heidenstein aus dem Gleichgewicht zu bringen.

»Ich fand hinter Eurem Anwesen einen alten Schacht, der aussieht wie ein ehemaliger Brunnen.«

»Es ist ein ehemaliger Brunnen«, erwiderte Don Palmiro kühl. »Hat Euch das animiert, einen solchen auch in meinem Lagerhaus zu graben?«

Benedikt lachte trocken. »So angenehm der Gedanke von frischem Wasser direkt im Haus auch sein mag, nein, das war nicht mein Begehr.«

»Sondern?«

»Das dort draußen ist kein Brunnen. Es ist lediglich als solcher getarnt und offenbar schon sehr alt.«

»Was sagt Ihr da?« Mit neuem Interesse kam Don Palmiro wieder näher. »Getarnt?«

Benedikt nickte, teils zufrieden mit dem Fortgang des Gesprächs, teils überrascht. »Ihr wusstet also nichts davon?«

»Wovon genau soll ich nichts wissen?«

Benedikt ging an ihm vorbei in den Hof und von dort in den Garten bis zu der brusthohen Mauer, die das Anwesen umgab. Mit geübter Bewegung schwang er sich darüber und landete auf dem Stück freien Feldes, das Don Palmiros vom nächsten Anwesen trennte.

Palmiro folgte ihm behände und landete dicht neben ihm. Aufmerksam trat er an den nur wenige Schritte entfernten gemauerten Schacht heran. »Was soll dies hier Eurer Ansicht nach sein, wenn nicht ein alter Brunnen?«

Benedikt trat neben ihn. »Es ist der Zugang zu einem geheimen Gang, der unterhalb Eures Lagerhauses endet.«

»Ein Geheimgang?« Verblüfft starrte Don Palmiro ihn an. »Wie kommt Ihr darauf?« Er beugte sich über den Mauerrand und versuchte, in der Tiefe etwas zu erkennen.

»Weil ich es überprüft habe.« Benedikt lachte wieder trocken. »Einfach ist es nicht, sich als ausgewachsener Mann dort hinabzuhangeln, das ist mal sicher. Aber nach etwa fünfzehn oder sechzehn Ellen erreicht man bereits den Boden und findet dort eine Nische, aus der ein Gang wird, der auf Euer Grundstück führt. Im Schacht steht etwas Wasser, wohl vom Regen vor einiger Zeit. Meinem Orientierungssinn nach müsste der Gang in etwa dort enden, wo ich vorhin zu graben begonnen habe.«

»Ohne mich vorher zu fragen?« Don Palmiro maß ihn mit einem misstrauischen Blick. »Weshalb?«

»Um einen Weg zu entdecken, durch den man bei Euch einbrechen kann.«

Auf Don Palmiros Stirn entstanden mehrere tiefe Furchen. »Und aus welchem Grund wollt Ihr bei mir einbrechen?«

Benedikt schnaubte spöttisch. »Nicht ich will das tun, aber es gibt gewiss den einen oder anderen Dieb, der dies begehren könnte. Da Ihr offenbar nichts davon wusstet, müsste es Euch doch nur recht sein, von dieser Gefahrenquelle zu erfahren. Oder spielt Ihr mir Eure Unwissenheit nur vor und kennt diesen Geheimgang nur zu gut?« Einen Geheimgang, so fügte er in Gedanken hinzu, der sich ausgezeichnet als Fluchtweg eignete, was hinsichtlich des Verdachts, dass Don Palmiro ein Ketzer und potenziell gefährlich sei, durchaus Sinn ergab.

Die Furchen auf Don Palmiros Stirn glätteten sich zwar, doch sein Mund verzog sich zu einem schmalen Strich. »Ich kenne diesen angeblichen Geheimgang nicht und wüsste auch nicht, wer ihn angelegt haben soll. Bei nächster Gelegenheit werde ich dies überprüfen und mir diesen Geheimgang selbst ansehen.«

»Das steht Euch natürlich frei.« Zustimmend nickte Benedikt ihm zu. »Vielleicht sollten wir aber zunächst den Zugang in Eurem Lagerhaus finden. Ich vermute, dass der Einstieg in den Gang von dort aus einfacher ist als durch den Schacht.« Da es hier nichts weiter zu sehen gab, kehrte Benedikt zur Mauer zurück und schwang sich darüber. »Da dies nun geklärt ist, sollten wir Euren Reisewagen abladen, nicht wahr? Außerdem, so glaube ich, ruft Eure Köchin nach Euch.«

***

Am späteren Abend saß Palmiro erschöpft, doch zugleich hellwach auf seinem Bett und starrte in die Finsternis. Die jüngsten Ereignisse wühlten ihn auf, wie wenige zuvor es jemals vermocht hatten. Benedikt vom Heidenstein. Der Name taumelte wieder und wieder durch seine Gedanken. Wer war dieser Mann? Woher kam er? Was wollte er hier? War er eine Gefahr? Palmiro wusste es nicht. Nein, schlimmer noch, er war vollkommen ratlos.

Er konnte das Seelenlicht dieses Mannes nicht sehen. Nicht einmal, wenn er sich so gefährlich weit dafür öffnete, dass ihn Schwindel erfasste. Was hatte das zu bedeuten?

Aus Angst, seine Gabe womöglich verloren zu haben, hatte er sie am Abend während des Essens bei seinem Gesinde angewendet. Bei ihnen allen hatte er das Licht sehen und spüren können und sich, damit er nicht überwältigt wurde, rasch wieder davor verschlossen. Zurückgeblieben war die Freude, dass Nildas Licht sich verfestigt hatte und insgesamt heller und wärmer geworden war. Die dunklen Flecken der Angst und Verzweiflung waren freilich nicht gewichen. Vielleicht würden sie das niemals tun, doch sie wurden von einem Gefühl zurückgedrängt, das Palmiro deutlich erkannt hatte: Hoffnung. Diese Empfindung hatte ihn wunderbar gewärmt.

Mathys’ Licht war nach wie vor durchmischt und hatte sich ebenfalls leicht gewandelt, seit er hier war. Das Gute, Stetige hatte sich verstärkt, die Schatten, wohl von seiner Vergangenheit verursacht, waberten weiterhin um den Rand herum, doch im Kern waren zwei neue Aspekte hinzugekommen, über die Palmiro irgendwann einmal genauer nachdenken, sie vielleicht gar weiter erforschen wollte. Der eine fühlte sich wie ein Stich blanker Angst oder Panik an, der andere war ein undefinierbares Knäuel aus Hitze, Konfusion und einem Schmerz, den Palmiro nicht zuordnen konnte und der bisher bei ihm nicht zu spüren gewesen war. Natürlich könnte er Mathys einfach fragen, ob etwas ihn beschäftigte, doch im Grunde ging es ihn ja nichts an, was in seinem Handelsgesellen vorging.

Eine Gefahr ging von diesen neuen Lichtfacetten mithin nicht aus. Zumindest nahm Palmiro das an. Aber was wusste er schon? Benedikts Licht konnte er schließlich gar nicht erst sehen, geschweige denn erkennen, ob der Mann ihm wohlgesonnen war oder nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben zweifelte Palmiro an seiner Gabe, die ihn zwar von seinen Mitmenschen abhob, ihm jedoch stets als selbstverständlich vorgekommen war. Und zum ersten Mal konnte er ansatzweise nachvollziehen, wie es war, ohne die Gabe auskommen zu müssen, so wie alle anderen Menschen es taten.

Sein Verstand versuchte, ihn zu beruhigen, dass dieser eine Mann nur eine kuriose Ausnahme war. Doch was, wenn es mehr von seiner Sorte gab? War er zu leichtsinnig, sich stets auf seine Gabe zu verlassen? Bisher war er sehr gut und leicht durchs Leben gekommen, weil er die Gesinnung eines Menschen erspüren konnte. Selbst wenn Benedikt vom Heidenstein der einzige Mensch war, dessen Licht er nicht sehen konnte – was bedeutete das? Aus welchem Grund drang das Licht nicht zu ihm durch?

Einen unfeinen Fluch auf den Lippen, sprang Palmiro auf und trat an das weit geöffnete Fenster seiner Schlafkammer. Sein Blick wanderte unwillkürlich in die Richtung, in der die Herberge Am Roten Ross lag. Fürs Erste würde Benedikt noch dort einquartiert bleiben. Zumindest bis zum Wochenende. Palmiro wusste nicht so recht, wo er den Mann unterbringen sollte. Sein Haus war nicht klein, aber auch nicht so groß, dass er seinem neuen Wachmann so ohne Weiteres eine eigene Kammer zugestehen konnte. Der Mann war von Adel, so viel wusste Palmiro mittlerweile, wenn auch nicht von nennenswertem Rang. Mit Benno und August würde er ihn nicht zusammenstecken. Da die beiden aber zumeist draußen im Stall oder im Lagerhaus schliefen, könnte er die Kammer, die er ihnen ursprünglich zugedacht hatte, stattdessen Benedikt zur Verfügung stellen.

Mathys’ Kammer war zu klein für zwei Männer. Wenn er also nicht seine eigene Schlafkammer zur Verfügung stellen wollte, musste er wohl oder übel Benno und August dauerhaft in die Remise umquartieren.

Sein Blick fiel auf das breite, bequeme Doppelbett mit Betthimmel, das er sich aus reiner Bequemlichkeit angeschafft hatte, stolz, dass er, der ehemalige Gassenstrolch aus Mailand, dazu inzwischen aus eigener Kraft fähig war.

Nein, dieses Bett würde er ganz sicher nicht mit Benedikt vom Heidenstein teilen. Zwar war dies durchaus nicht ungewöhnlich, zumindest für unverheiratete Männer und deren männliche Hausgenossen, wenn es an Schlafplätzen mangelte, und manchmal wurden sogar Gäste ins Bett des Hausherrn eingeladen, doch in diesem Fall … Nein, ausgeschlossen! Einen potenziell gefährlichen Menschen, gleich ob Mann oder Weib, würde er nicht so nah an sich heranlassen.

Zufrieden, zumindest dieses Detail für sich geklärt zu haben, kehrte Palmiro in sein Bett zurück. Morgen war ein neuer Tag; vielleicht würde ihm das Tageslicht helfen, weitere Klarheit zu gewinnen. Abgesehen davon musste er dringend mit Conlin sprechen. Graf Johanns Schachzug zwang ihn dazu, obgleich er sich nicht eben auf diese Begegnung freute. Sie waren nicht in innigster Freundschaft auseinandergegangen. Zwar vertraute Palmiro darauf, dass Conlin sein Geheimnis bewahren würde, war sich aber alles andere als sicher, ob er nicht seine Freundschaft verloren hatte.

Trotz dieser unangenehmen Gedanken fielen ihm schließlich die Augen zu, doch anstelle eines erholsamen Schlafs suchten ihn wirre Träume heim.