almiro nahm Hannes an der Hand und ging mit ihm hinüber zum Lagerhaus. Den befremdeten Blick, den Benedikt ihm zuwarf, ignorierte er geflissentlich.
»Schau mal«, sprach er den Jungen an, als sie das Lager betreten hatten. »Ich habe neue Regale aufstellen lassen, die kennst du noch nicht, oder?«
Neugierig sah Hannes sich um. »Die sind aber groß. Und das da sind alles Pelze? Und in den Kisten Perlen und Edelsteine wie bei einem Schatz?«
»Na ja, nicht ganz.« Palmiro lachte. »Wenn das alles Perlen und Edelsteine wären, müsste ich wohl eine Festung dafür bauen.« Er führte den Jungen zu einer der Kisten und öffnete sie. »Sieh her, hier habe ich bestickte Borten und kunstvoll geflochtene Schnüre. Und hier in dieser Truhe«, er klappte die Kiste daneben auf, »lagere ich Gürtel. Diese hier sind bunt bestickt oder mit Zierrat geschmückt und dürften demnach für welche Art von Kundschaft geeignet sein? Was meinst du?«
Der Junge beugte sich über die Truhe und beäugte den Inhalt. »Tante Mariana trägt solche da.« Er deutete auf einen bunt bestickten Gürtel. »Mutte-Mutter hat auch so einen ähnlichen, aber der ist nicht so bunt, sondern nur silbern verziert.«
»Ganz recht.« Palmiro nickte. »Wem sollte ich solche Gürtel also am besten verkaufen?«
»Mariana!« Hannes grinste breit.
Amüsiert wuschelte Palmiro dem Jungen durch den dichten blonden Haarschopf. »Alle diese Gürtel wird sie wohl kaum kaufen wollen, oder?«
»Dann könnte sie jeden Tag einen anderen tragen.« Hannes kicherte. »Aber Gusti und ihre anderen Freundinnen nehmen bestimmt auch einen.«
»Da könntest du recht haben.«
»Und dann sehen das die anderen Frauen in der Stadt«, fuhr Hannes eifrig fort, »und wollen auch alle einen haben.«
Palmiro ging vor dem Jungen in die Hocke. »Was meinst du, soll ich also zur Herbstkirmes einen Stand auf dem Jahrmarkt aufmachen und die Sachen dort anbieten?«
Hannes nickte heftig. »Ja, weil da auch ganz viele Frauen von woanders kommen, und die wollen dann bestimmt auch alle solche Gürtel.« Er runzelte kurz die Stirn. »Aber was ist mit den Männern? Hast du für die auch was?«
Lächelnd deutete Palmiro in die Runde. »Selbstverständlich. Pelzmäntel und -umhänge, Schellen für die Schuhe, Ringe sogar und natürlich auch Gürtel und allerhand andere schöne Dinge.«
»Die verkaufst du alle auf der Kirmes?«
»Ich habe mich bereits um einen Platz vor dem erzbischöflichen Heuhaus beworben«, bestätigte Palmiro. »Ganz in der Nähe von der Stelle, an der Herr Martin und Frau Luzia jedes Jahr ihren Stand aufbauen.«
»Darf ich dich dann mal besuchen?«
»Das lässt sich bestimmt einrichten. Deine Mutter wird ganz gewisslich …«
»Don Palmiro?« August streckte den Kopf zur Tür herein. »Da ist Kundschaft gekommen. Der Goldschmied Nikolaus Tunner und seine Gemahlin stehen im Hof und wünschen, Euch zu sprechen. Master le Smithy wollte ihnen weiterhelfen, aber sie möchten lieber mit Euch reden.«
»Ach.« Palmiro erhob sich und sah sich nach Benedikt um. »Nun gut, sag ihnen, ich komme sofort.« Kurz entschlossen nahm er Hannes bei der Hand und brachte ihn zu Benedikt. »Kümmert Ihr Euch bitte einstweilen um den Jungen.«
»Ich?« Entgeistert starrte Benedikt ihn an. »Bringt ihn seiner Mutter zurück.«
»Reinhild ist beschäftigt.«
Benedikt machte einen Schritt rückwärts. »Das bin ich ebenfalls.«
»Womit?« Sanft schob Palmiro Hannes in Richtung des Wachhauptmanns. Er wusste selbst nicht, warum er den Jungen nicht einfach mit hinausnahm. Die Kinderfrau Anni war schließlich auch noch irgendwo. Doch der kaum wahrnehmbare Funken Verunsicherung, den er in Benedikts Augen wahrgenommen zu haben glaubte, machte ihn neugierig. »Nun kommt schon, es ist doch nur für ein kurzes Weilchen. Der Junge beißt nicht.«
Hannes kicherte.
Benedikt hob abwehrend die Hände. »Ich weiß nichts über Kinder.«
»Ihr wart selbst einmal eines.« Palmiro wandte sich einfach zum Gehen, drehte sich an der Tür aber noch einmal um. »Habt einfach ein Auge auf ihn und beantwortet seine Fragen. Ich bin bald zurück.« Sicherheitshalber ließ er das Tor weit offen stehen. Dass Mathys inzwischen den Wagen angespannt hatte und begann, die Waren für das St.-Kastor-Stift aufzuladen, kam ihm dabei gut zupass. Mit einem freundlichen Lächeln und weit ausgebreiteten Armen ging er auf den Goldschmied und dessen Gemahlin zu. »Guten Tag, Meister Tunner, Frau Trutwyn! Was kann ich für Euch tun?«
***
Verärgert blickte Benedikt Don Palmiro nach, dann mit einigem Unbehagen auf den blonden Jungen hinab. Was in aller Welt sollte er mit einem Kind reden? »Dein Name ist also Hannes«, begann er etwas lahm.
»Komm, Herr Benedikt. Ich will noch die Pelze angucken.« Mit vollkommen arglosem Lächeln ergriff der Junge Benedikts Hand und zog ihn mit sich. »Palmiro hat versprochen, sie mir zu zeigen. Und anfassen darf ich sie auch, aber nicht alle. Ich weiß nicht welche. Du vielleicht?«
Verunsichert folgte Benedikt dem Kleinen. Noch nie hatte ein Kind – oder überhaupt ein Mensch – so selbstverständlich seine Hand ergriffen. »Leider weiß ich das auch nicht«, antwortete er rasch. »Damit sollten wir also warten, bis Don Palmiro wieder Zeit für dich hat.« Was hoffentlich sehr bald der Fall war! Selten hatte Benedikt sich derart deplatziert gefühlt.
»Na gut, aber gucken geht doch trotzdem.« Immer noch lächelnd zog Hannes ihn eifrig hinter sich her zu den nächstgelegenen Pelzballen. »Die hier sehen schön aus. Von welchem Tier sind die?«
»Ich … äh …« Stirnrunzelnd musterte Benedikt den Ballen. »Das müssten Fuchsfelle sein.«
»Echt? So viele?« Hannes machte große Augen. »Da muss man aber viele Füchse für jagen.« Er zog Benedikt weiter. »Und die hier?«
Die Felle im nächsten Ballen konnte Benedikt nicht identifizieren. »Das weiß ich leider nicht«, antwortete er deshalb wahrheitsgemäß.
»Und die da auf dem Tisch?« Schon war Hannes weitergegangen und beäugte einen Stapel Pelze, der ausgebreitet auf einem langen Tisch lag.
Benedikt hüstelte. »Das … also … Ich bin nicht sicher.«
»Das sind Nerze«, erklärte Mathys, der gerade mit einem Korb voller fertig verarbeiteter Pelzmäntel an ihnen vorüberging. »Man nennt sie auch Mynken.« Er grinste Benedikt erheitert zu, was diesen maßlos ärgerte.
»Was sind denn Nerze?«, wollte Hannes prompt wissen.
Wenn Benedikt das nur so genau wüsste. »Ich glaube, das sind …« Er betrachtete die Felle. »Das sind kleine Tiere, nur etwas größer als … äh … Ratten.«
»Ratten? Bäh! Verkauft Palmiro auch Rattenfelle?«
Rasch schüttelte Benedikt den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ratten sind Schädlinge und ihr Fell wohl kaum brauchbar.«
»Gut geraten«, raunte ihm Mathys zu, als er mit einem weiteren Korb an ihnen vorüberging. »Das dort in dem hohen Regal an der Wand sind übrigens Rauchwaren.«
»Was sind Rauchwaren?«, fragte Hannes natürlich augenblicklich.
Benedikt fluchte innerlich. »Das … nun, also, Rauchwaren …« Sicherheitshalber ging er, den Jungen noch immer an der Hand, auf das Regal zu und betrachtete die aufgeschichteten Felle. »Das sind wohl Felle, die schon zugeschnitten wurden.« Zumindest sah es so aus. »Aber sie sind noch nicht zu richtigen Pelzen verarbeitet. Siehst du?« Er hob vorsichtig eines der Felle an.
»Wir dürfen aber doch nichts anfassen«, mahnte Hannes. »Palmiro hat es nicht erlaubt.«
Viel zu hastig ließ Benedikt das Fell wieder los und ärgerte sich sogleich, dass er einem kaum Sechsjährigen auf den Leim gegangen war. »Stimmt. Wir sollten jetzt etwas anderes …«
»Warum weißt du eigentlich nicht alles über die Sachen hier?«, unterbrach Hannes ihn. »Du bewachst doch Palmiro und so, oder? Und die Pelze und alles.«
»Dafür wurde ich angeheuert«, bestätigte er mit einem mulmigen Gefühl.
»Aber wie bewachst du Sachen, wenn du gar nicht genau weißt, was das alles ist?«
Beinahe stieg so etwas wie Verlegenheit in ihm auf. »Ich kann ein Warenlager bewachen oder dessen Besitzer, ohne alles über die Waren wissen zu müssen. Wichtig ist doch, dass ich dafür sorge, dass hier alles sicher ist und nichts gestohlen werden kann, oder?«
Der Junge legte den Zeigefinger seiner freien Hand an die Nase. »Hm … ja, das kannst du wohl.«
»Dabei ist es doch unerheblich, ob es ein Fuchspelz oder ein Nerzfell oder ein bestickter Ledergürtel ist.«
»Ja …« Hannes war anzusehen, dass es in ihm arbeitete. »Aber wenn doch etwas gestohlen wird, musst du doch wissen, was es war.«
»Das wird Don Palmiro dann schon selbst wissen.«
»Ja …« Hannes’ Finger landete wieder auf seiner Nase, und Benedikt konnte die nächste Frage schon erahnen, bevor der Junge sie aussprach. »Aber wenn die Diebe kommen, während Palmiro weg ist? Er muss oft herumreisen, hat er gesagt, um neue Sachen einzukaufen oder Kunden zu besuchen und denen die Pelze und andere Dinge zu bringen, die sie bei ihm gekauft haben. Dann musst du ihm doch sagen oder aufschreiben, was für Sachen fehlen.«
Einigermaßen beeindruckt musterte Benedikt den kleinen Jungen. Er hatte zwar nicht die geringste Ahnung von Kindern, aber dieses hier schien für sein Alter bereits ungewöhnlich klug zu sein, um solche komplexen Gedanken nicht nur zu hegen, sondern auch in Worte fassen zu können.
»Mit der Zeit werde ich mir die erforderlichen Kenntnisse schon noch aneignen.« Das gehörte zu seiner Tätigkeit als Spion dazu, auch wenn er zugegebenermaßen noch nie einen Kaufmann ausspioniert hatte. Das ging den Jungen freilich nichts an, und ebenso wenig, dass Benedikt wohl kaum so lange hier sein würde, um sich wirklich tiefgehende Kenntnisse über den Pelz- und Geschmeidehandel verschaffen zu müssen. Deshalb entschied er sich für einen anderen Ausweg aus dieser Situation. »Es wird auch gar nicht erst zu solch einer Situation kommen, denn ein Anwesen, das ich überwache, wird nicht bestohlen.«
Der Junge sah neugierig zu ihm auf. »Echt nicht?«
»Nein.« Benedikts Selbstsicherheit kehrte zurück. »An mir kommt kein Dieb oder Räuber vorbei, auch wenn er sich noch so gewitzt deucht.«
Nun war Hannes sichtlich beeindruckt. »Auch nicht, wenn die sich anschleichen, wenn es ganz laut donnert und wenn es stürmt und sie sich verkleiden und niemand sie bemerkt?«
Benedikt lächelte. »Der Dieb, den ich nicht bemerke, muss erst noch geboren werden, mein Junge. Ich war viele, viele Jahre Soldat und habe so viele Wachdienste für verschiedene Heere geleistet, dass ich alle möglichen Winkelzüge kenne, die ein Angreifer oder ein Räuber versuchen könnte.«
»Wirklich?« Hannes blickte ehrfürchtig zu ihm hoch, dann zog er ihn überraschend mit sich nach draußen zu der unfertigen Laube und setzte sich auf die Bank. »Warst du wirklich ein Soldat und großer Ritter?«
Zögernd ließ Benedikt sich neben dem Jungen nieder. »Ein Soldat, ja, seit meinem dreizehnten Lebensjahr. Aber kein Ritter. Ich habe vielen Herren gedient und in vielen Schlachten gekämpft.«
»Ich will mal ein großer Ritter werden, so wie Großvater und Onkel Richwin und Onkel Frieder. Und auch ein Soldat, und dann kämpfe ich in vielen Schlachten und gewinne sie alle!« Er sah Benedikt neugierig an. »Warum bist du kein Ritter und auch kein Soldat mehr? Du bist doch nicht alt.«
»Alt genug.« Nachdenklich blickte Benedikt auf den arglosen Jungen hinab. »Ich bin von Adel, doch mein Vater starb, als ich sehr jung war, und sein älterer Bruder hatte nicht vor, mich zum Ritter auszubilden. Ich war zwar sein Knappe, aber als Vater starb, wollte mein Onkel, dass ich Mönch werde.«
»Und das wolltest du nicht.«
»Nein, das wollte ich nicht.«
»Also bist du Soldat geworden.«
»Ja.«
»Und warum jetzt nicht mehr?«
Benedikt dachte an seine Zeit als Söldner zurück.
»Es war einfach genug. Soldaten leben ein hartes Leben. Ich war der Schlachten und des Tötens müde.«
Hannes schwieg ungewöhnlich lange. Plötzlich umfasste er Benedikts Hand mit seinen beiden Händen. »Ist das schlimm? Das Kämpfen? Ich will auch mal ein großer Ritter sein und für das Gute kämpfen und Witwen und Waisen beschützen, so wie die großen Ritter in den Sagen und Balladen.«
Benedikt blickte mit seltsam mulmigen Gefühlen auf seine Hand. »Sagen und Balladen sind das eine, die wirkliche Welt ist aber etwas ganz anderes.«
»Großvater und Onkel Frieder und Onkel Richwin sind auch Ritter, und so will ich auch mal sein«, wiederholte der Junge.
»Ziehen sie oft in die Schlacht?«
Hannes überlegte, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, gar nicht. Großvater sagt immer, dass Kriege nur Geld kosten und Verdruss über die Menschen bringen.«
»Dein Großvater scheint ein kluger Mann zu sein.«
Hannes nickte begeistert. »Der klügste überhaupt. Er bringt mir bei, richtig mit dem Schwert zu kämpfen, und später, wenn ich älter bin, auch mit dem Bogen und der Lanze.«
»Daran tut er gut, denn wehrhaft sollte ein Mann stets sein.«
»Auch wenn er dann gar nicht in die Schlacht zieht?«
Benedikt nickte. »Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Schlachten kämpft man oft, als Soldat sogar so gut wie immer, für andere, für den Dienst- oder Lehnsherrn. Wehrhaft ist ein Mann aber zunächst einmal, um sich selbst zu schützen und bei Bedarf auch seine Familie oder sein Hab und Gut.«
»Wenn einen Räuber überfallen.«
»Zum Beispiel.«
Hannes senkte den Kopf. »Mein Vater wurde auch überfallen und Palmiro und Conlin und meine Mutter. Vater ist dabei gestorben, obwohl er auch gekämpft hat. Mutter hat gesagt, er ist ein Held, weil er ein Mädchen gerettet hat.«
Diese Worte aus dem Mund des kleinen Jungen machten Benedikt betroffen, doch das ließ er sich nicht anmerken. »Wenn er in solch einem Kampf gefallen ist, dann darfst du ihn wahrlich einen Helden nennen.« Kurz hielt er inne. »Nicht immer reicht die Wehrhaftigkeit eines Mannes aus, um ihn vor dem Tod zu bewahren.«
»Ja.« Hannes schniefte, doch seine Augen blieben trocken. »Es war gut, dass Conlin und Palmiro da waren, weil sonst wäre Mutte-Mutter vielleicht auch jetzt tot. Sie kann ja nicht kämpfen, weil sie eine Frau ist. Und Frauen sind nicht wehrhaft.«
»Vielleicht sollten sie das sein«, erwiderte Benedikt halb scherzhaft, aber auch halb im Ernst.
Hannes gluckste. »Mutte-Mutter mit einem Schwert? Das könnte sie bestimmt gut. Sie kann nämlich fast alles.«
»Ach ja?«
»Ja, fast. Nur singen kann sie nicht so gut. Das klingt immer irgendwie schief. Und die Laute schlägt sie auch nicht so gut. Tante Mariana kann das viel besser.«
»Soso.« Darauf wusste Benedikt nichts zu antworten.
Hannes schien das nicht zu bekümmern, denn er redete bereits weiter. »Mutte-Mutter sagt, sie hat auch nie gern gerechnet, aber trotzdem bringt sie es mir bei, und jetzt rechnet sie auch für Palmiro und für Herrn Conlin, der bald mein Stiefvater sein wird. Mutter-Mutter sagt, sie haben sich verlobt.«
»Und wie findest du das?« Benedikt wusste nicht recht, warum er die Frage gestellt hatte, doch inzwischen fühlte er sich in der Gegenwart des Jungen nicht mehr so befangen.
»Gut.« Hannes grinste. »Conlin ist auch ein Ritter. Na ja, nicht richtig, aber er hat schon auf ganz vielen Turnieren gekämpft, und er hat geholfen, meine Mutter zu beschützen, und ich glaube«, er senkte die Stimme zu einem Flüstern und beugte sich verschwörerisch zu Benedikt herüber, »Herr Conlin hat meine Mutte-Mutter lieb. Das hat er zwar nicht gesagt, aber ich sehe so was. Außerdem hat er sie geküsst. Nachts in unserem Hof. Ich hab’s gesehen, weil ich aufgewacht bin und den Nachttopf benutzt habe, und da hab ich was durchs Fenster gehört und geguckt und ihn gesehen, als er sie geküsst hat.« Er grinste breit. »Das verrätst du aber nicht, Herr Benedikt, ja?«
»Ich schweige wie ein Grab«, versprach Benedikt.
»Gut.« Hannes drückte seine Hand. »Wenn man jemanden küsst, dann hat man ihn doch lieb, oder?«
Verlegen wand Benedikt sich. Auf diesem Gebiet hatte er noch weniger Erfahrungen als im Pelzhandel. »Im Allgemeinen ist das wohl so.«
»Hast du auch jemanden lieb?«
In Benedikts Magen bildete sich ein Knoten. »Ich hatte als Soldat kaum Gelegenheit, Freundschaften zu schließen, die lange Bestand hatten, und eine Familie wollte ich auch nicht gründen. Solch ein Leben ist hart und voller Unwägbarkeiten. Das wäre für eine Familie nicht das Richtige gewesen.«
»Und jetzt?« Immer noch so vollkommen ohne Arg sah Hannes zu ihm auf. »Jetzt bist du kein Soldat mehr und könntest eine Frau finden und lieb haben.«
»Vielleicht.« Über so etwas hatte er sich nie Gedanken gemacht. »Aber so etwas ist auch eine große Verantwortung.« Die er definitiv scheute. »Das will gut überlegt sein.«
»Tante Enneleyn sagt immer, dass man viel überlegen und planen kann, aber am Ende macht das Leben doch, was es will. Großmutter sagt das auch.«
Dem konnte Benedikt schwerlich widersprechen.
Hannes schob die Unterlippe über die Oberlippe und schien eingehend über etwas nachzudenken, bevor er sich erneut an Benedikt wandte. »Ist es besser, ein Wachmann zu sein als ein Soldat? Palmiro ist auch kein Soldat oder Ritter, sondern ein Kaufmann wie Onkel Don Antonio. Und Conlin hat gesagt, dass er jetzt auch ein Gewerbe hat. Dabei ist er ein Edelmann, und die treiben doch keinen Handel, oder?«
»Heutzutage tun einige das sehr wohl«, erwiderte Benedikt. »Wenn die Ländereien nicht mehr genug abwerfen, muss eine neue Einnahmequelle gefunden werden.«
»Ist das denn besser, als ein Ritter und Soldat zu sein?«
Dieses Gespräch war weit tiefgründiger, als er es von einem nicht einmal Sechsjährigen erwartet hätte, und er wusste beim besten Willen nicht, ob er hier das Richtige tat. »Friedlichen Handel zu betreiben, ist aus meiner Sicht erstrebenswerter, als für einen Dienstherrn Tag für Tag das eigene Leben zu riskieren und andere Männer zu töten, die auch nicht für sich selbst in die Schlacht ziehen, sondern für die Ambitionen und nach dem Willen eines anderen.«
»Aber kämpfen lernen kann ich trotzdem?«
Benedikt lächelte. Seltsamerweise fühlte er sich irgendwie erleichtert.
»Selbstverständlich. Das ist aus meiner Sicht unerlässlich, denn Raubgesindel und anderes Gelichter, das dir nach Leib, Gut und Leben trachtet, gibt es überall. Dazu muss man nicht einmal in die Nähe eines Schlachtfeldes gelangen.«
»Ja.« Hannes nickte verständnisinnig. »Du kannst richtig gut kämpfen, oder? Mit dem Schwert und so?«
»Mit Kurz- und Langschwert, Dolch und auch ganz ohne Waffen«, bestätigte Benedikt.
»Ohne Waffen?« Auf Hannes’ Gesicht zeichnete sich Ehrfurcht ab. »Kannst du mir das auch beibringen, Herr Benedikt?«
Er räusperte sich. »Dazu solltest du noch ein wenig größer werden.«
»Au ja, werde ich ganz bald.«
Die zufriedene Miene des kleinen Jungen ließ ihn lächeln und beinahe vergessen, dass er, wenn Hannes alt genug war, längst nicht mehr hier sein würde.
»Das ist eine hervorragende Zielsetzung.«
***
Schon vor einer Weile hatte Palmiro seine neue Kundschaft verabschiedet. Meister Tunner und seine Gemahlin hatten für ihren jüngsten Sohn und dessen kürzlich erst angetraute Gemahlin eine Ausstattung mit Pelzdecken für die Schlafkammer sowie wärmende Winterumhänge mit Pelzfütterung bestellt. Allmählich sprach sich in Koblenz herum, dass er Qualität zu angemessenen Preisen anbot. Sein Vorteil war selbstverständlich, dass es außer ihm in Koblenz keine Pelzhändler gab. Seine Idee, sich diesem Gewerbe zu verschreiben, trug entsprechend rasch Früchte. Bisher hatten nur fahrende Händler regelmäßig die Märkte und Jahrmärkte der Stadt besucht. Ein ortsansässiger Kaufmann mit Kontor und gut bestücktem Lager diente der Bequemlichkeit der Einwohner.
Jenes Lager erforderte selbstverständlich einiges an Pflege, Arbeit und Sicherheitsvorkehrungen. Auch wenn Palmiro die überlegene, nicht selten an Arroganz grenzende Art seines neuen Wachhauptmannes zuweilen gehörig gegen den Strich ging, musste er doch zugeben, dass der Mann in vielerlei Hinsicht recht hatte. Die eingelagerten Warenwerte erforderten mehr Vorsichtsmaßnahmen, als Palmiro ursprünglich einkalkuliert hatte. Das kostete Geld, welches er so ohne Weiteres nicht aus dem Ärmel schütteln konnte. Zumindest nicht, wenn er sich teilweise immer noch selbst um die Wache kümmern musste. Zwar würde sein Vater oder auch Graf Johann ihm mit Geld aushelfen, wenn er darum bäte, doch das verbot ihm sein Stolz. Er wollte es allein schaffen und beweisen, dass er ein Mann – und ein guter Kaufmann – geworden war.
Das bedeutete, dass er sich noch mehr auf Mathys verlassen musste, was an sich kein großes Problem war. Mathys war vielleicht als Spion der Inquisition nach Koblenz gekommen, doch inzwischen war er ein Freund geworden. Palmiro spürte bei allen Schatten, die Mathys’ Seele immer noch umgaben, dass er ein guter Mann war.
Anders sah es mit Benedikt vom Heidenstein aus. Ihm würde Palmiro auch vertrauen müssen. Selbst wenn er sich tatsächlich mit Graf Johann anlegen würde, schon rein aus Prinzip würde der Graf dies wohl sogar von ihm erwarten, konnte er doch den Nutzen nicht von der Hand weisen, den ein kluger Mann wie Benedikt bot. Den Schutz, die Sicherheit.
Nur … Konnte er einem Mann vertrauen, dessen Seelenlicht nicht zu ihm durchdrang? Das vielleicht gar nicht vorhanden war? Gab es so etwas? Seelenlose Menschen? Und falls ja, was führten sie wohl im Schilde?
Nachdem Meister Tunner und seine Gemahlin sich verabschiedet hatten und Mathys mit dem Wagen in Richtung des St.-Kastor-Stifts aufgebrochen war, hatte er nach Hannes rufen wollen, um ihn von dem unwilligen Aufpasser zu befreien. Der Himmel wusste, weshalb er Hannes bei Benedikt gelassen hatte. Um den arroganten Kerl zu ärgern? Ihn zum ersten Mal verunsichert zu sehen? Doch dann hatte er beobachtet, wie Hannes Benedikt an der Hand zur Laube führte, und hatte nicht widerstehen können, die beiden für einen Moment zu beobachten.
Aus dem Moment waren lange Minuten geworden, in denen er sich hinter dem Stamm der Esskastanie verborgen gehalten hatte. Nun war er noch verwirrter als zuvor, denn was Benedikt zu Hannes gesagt hatte, wie er auf die Fragen des Jungen eingegangen war, das hatte alles nichts von einem seelenlosen Menschen. Im Gegenteil! Es ließ auf eine besonders tiefgründige Seele schließen. Warum nur, warum konnte Palmiro diese Seele nicht finden, nicht erspüren, so wie bei jedem anderen Menschen?
Als er bemerkte, dass sich das Gespräch der beiden dem Ende zuneigte, beschloss er, Benedikt von seiner Aufsichtspflicht zu befreien. Entschlossen stieß er sich vom Stamm der Kastanie ab und betrat absichtlich geräuschvoll die Laube. »Hier habt ihr euch versteckt. Na, Hannes, ich hoffe, Herr Benedikt hat dir keine Bären aufgebunden.«
Hannes kicherte. »Nö, gar nicht. Er hat gesagt, ich soll lieber Kaufmann sein anstatt Soldat.«
»Ach, hat er das?« Mit hochgezogenen Brauen musterte er Benedikt.
»Ja.« Hannes nickte eifrig. »Weil ich dann trotzdem kämpfen lernen kann, aber ich muss keine Männer töten, die für andere Dienstherren kämpfen, sondern mich nur gegen Räuber und Gelichter wehren, und das ist besser. Aber Witwen und Waisen darf ich dann trotzdem verteidigen, oder, Herr Benedikt?«
Benedikt räusperte sich sichtlich unbehaglich. »Das ist stets wünschenswert.«
»Gut. Palmiro?« Hannes sprang auf und ergriff Palmiros Hand. »Kann ich ein Kaufmann werden?«
»Tja.« Palmiro lächelte leicht. »Wenn du das möchtest, wird das wohl möglich sein. Deine Mutter wird sich sehr freuen, wenn du nicht schon bald als Page zur Burg Kempenich geschickt wirst.«
»Gut. Zeigst du mir jetzt die Pelze, Palmiro? Herr Benedikt kennt sich damit nicht aus.«
»Das mache ich. Versprochen ist versprochen.« Ehe er sich von dem Jungen wieder zum Lager ziehen ließ, wandte er sich an Benedikt. »Ihr könnt also nicht mit Kindern reden? Seltsam. Dabei habt Ihr gerade ein kleines Wunder bewirkt. Reinhild wird Euch ewig dankbar sein.«
Benedikt zuckte mit den Achseln. »Ein kluger Kopf braucht nur ebensolche Worte, um überzeugt zu werden.«
»Mag sein.« Palmiro lächelte leicht. »Ich hätte jene klugen Worte nur nicht ausgerechnet von einem Mann erwartet, der mehr als die Hälfte seines Lebens ein Soldat gewesen ist.«
Benedikt erhob sich und erwiderte seinen Blick mit mildem Spott, der aber von noch etwas anderem begleitet wurde, das Palmiro nicht definieren konnte. »Von wem denn sonst? Glaubt mir, es ist allemal besser, den Kopf für das eigene Wohl sowie Hab und Gut hinzuhalten als für die Pläne und Ambitionen eines Fremden.«
»Und dennoch habt Ihr den Dienst an der Waffe für den Wachdienst bei einem weiteren Fremden eingetauscht.«
Für einen langen Moment schwieg Benedikt, dann nickte er mit ausdrucksloser Miene. »Zumindest bleiben mir hier die Schlachtfelder erspart.«
»Wohl wahr«, stimmte Palmiro zu. »Auf Kriegszug werde ich Euch nicht schicken. Das scheint Euch sehr wichtig zu sein.«
»Ist es«, erwiderte Benedikt knapp.
Palmiro nickte nur und wollte sich wortlos abwenden. Benedikts nächste Worte ließen ihn jedoch leicht zusammenzucken.
»Ihr seid ein lausiger Spion, Don Palmiro. Dachtet Ihr, die alte Kastanie würde Euch Schutz vor meinen Augen und Ohren bieten? Armselig, wirklich armselig.«