einhild hatte sich gerade in ihre Kammer zurückgezogen und ihren grünen Samt-Surcot abgestreift, als ein lautes Klacken verriet, dass ein Steinchen gegen ihren geschlossenen Fensterladen geflogen war. Überrascht hielt sie inne. War Palmiro etwa schon aus Kleve zurück? So rasch hatte sie nicht mit ihm gerechnet und auch nicht damit, dass er sie schon wieder zu solch ungastlicher Zeit aufsuchen würde.
Als ein zweites Steinchen gegen den Fensterladen klackte, verdrehte sie nur die Augen und öffnete eine Seite des Fensters ein Stückchen. »Was soll das denn? Wir sind doch keine Kin…« Sie stockte, denn unter ihrem Fenster stand keineswegs Palmiro. »Conlin!«
»Guten Abend, Reinhild.« Conlins Stimme klang dunkel und sehr ernst. »Kommst du herunter? Auf ein Wort?«
»Ein Wort wird wohl kaum ausreichen«, zischte sie und schloss das Fenster energisch wieder. Kurz warf sie ihrem Surcot einen Blick zu, der ordentlich über ihrer Kleidertruhe hing, machte sich dann aber ohne ihn auf den Weg nach unten. Es war ja nicht so, als hätte Conlin sie nicht schon einmal nur im Unterkleid gesehen, und das, was sie heute trug, war aus fein gesponnenem sandfarbenem Leinen und noch ordentlich an den Seiten verschnürt. Ihr Haar war unbedeckt, doch auch das war zu verschmerzen, immerhin waren sie verlobt.
»Dass du dich auch mal wieder hierher verirrst«, fauchte sie ohne irgendeine weitere Begrüßung, nachdem sie hinaus in den Hof getreten war und das Hoftor einen Spalt geöffnet hatte. »Ich glaubte schon, dir wäre der Weg hierher entfallen.«
Conlin schwieg, bedeutete ihr, ihm zu folgen, und legte, bevor sie sich auf die Bank nahe dem Gemüsebeet setzten, seinen Mantel darauf. Es war noch immer sommerlich warm, doch nachts kühlte sich die Luft inzwischen deutlich ab und mit ihr alle Oberflächen, die sich als Sitzgelegenheiten eigneten.
Reinhild blieb vor der Bank stehen, betrachtete den Mantel, nahm ihn schließlich, anstatt sich daraufzusetzen, und hüllte sich darin ein. Vielleicht war das ein Fehler, denn sofort stieg ihr Conlins Geruch in die Nase und verursachte ihr Herzklopfen, doch rückgängig machte sie ihre Entscheidung nicht. »Verrätst du mir, weshalb du mich seit Tagen, nein, seit Wochen meidest und es nicht einmal für notwendig befunden hast, mir mitzuteilen, dass der Erzbischof dich zum Amtmann des Schultheißen ernennen will?«
»Dein Vater hat es dir erzählt.« Nachdem sie sich nun doch gesetzt hatte, ließ er sich neben ihr nieder.
»Ja, hat er. Ich hätte es aber auch von jedem beliebigen Bürger in Koblenz erfahren können, denn diese Angelegenheit ist mittlerweile Stadtgespräch. Weißt du eigentlich, wie beschämend und empörend es ist, wenn ich auf offener Straße darauf angesprochen werde, jedoch nichts auch nur ansatzweise Kluges dazu äußern kann, weil mein Verlobter schlicht und ergreifend vergessen hat, diese Neuigkeit mit mir zu teilen?«
»Ich habe es nicht vergessen.«
»Dann verabsäumt.«
»Auch das nicht.«
Zorn stieg in ihr auf. »Was denn dann? Aus welchem Grund hast du es unterlassen, mir davon zu erzählen?«
»Ich hatte keine Gelegenheit dazu.«
»Ach. Nicht einmal den kurzen Moment, den es braucht, um an meine Tür zu klopfen, wohlgemerkt bei Tageslicht, und zu sagen: Liebwerte Reinhild, ich werde der Amtmann des Koblenzer Schultheißen?«
Conlin hustete. »Liebwerte?«
»Meinetwegen auch wohledle, was weiß ich, was ich in deinen Augen bin.«
»Reinhild …«
»Ja, im Zweifelsfall sagst du nur Reinhild, das braucht dann sogar noch weniger Zeit.«
»Ich war nicht in der Stadt.«
Sie hielt inne. »Nicht … Wo warst du denn? Niemand hat mir gesagt, dass du fortgeritten bist.«
»Ich musste ein paar Dinge klären, weil das Holz, das Oswald für die Zollschranke gekauft hat, die uns angeblich auf dem Weg nach Mayen gehört, verschwunden ist. Es stellte sich heraus, dass Unbekannte das Holz entwendet, jedoch auf halbem Weg ins nächste Dorf am Wegesrand abgeladen haben. Also konnte ich es wieder einsammeln und zum Gut bringen. Als ich das erledigt hatte, stand der Schultheiß höchstpersönlich vor unserer Tür auf Gut Langenreth und forderte mich auf, ihn zu begleiten.«
»Johann Mohr hat dich aufgesucht?«
»Und darauf bestanden, dass ich ihn einige Tage begleite, damit er mich in einige der Amtsgeschäfte einweihen kann.«
»Aber du bist noch nicht einmal vereidigt.«
»Das ist der nächste Punkt.« Er seufzte. »Der Erzbischof will die Vereidigung vorziehen. Anscheinend haben sich seine Pläne geändert, und er wird nicht, wie ursprünglich gedacht, bis Ende September in Trier weilen. Also werde ich übermorgen bereits in aller Frühe nach Trier aufbrechen, dort meinen Eid leisten und an diversen Gesprächen und Banketten teilnehmen müssen und erst zwei oder drei Tage vor unserer Hochzeit wieder hier sein können.«
»Aber … die Vorbereitungen …«
»Ich weiß.« In einer sichtlich frustrierten Geste fuhr er sich durchs Haar. »So zwischen Tür und Angel hatte ich nicht vor, dich zu heiraten, doch der Erzbischof ist nun mal unser Lehnsherr und Kurfürst. Wenn wir bereits verheiratet wären, hättest du mich nach Trier begleiten können, oder auch, wenn die Hochzeit nicht so kurz bevorstehen würde. Ich bin sicher, deine Eltern hätten dich begleitet. So aber habe ich dich mit dem Hinweis auf die ganzen Vorbereitungen, die du noch treffen musst, beim Erzbischof entschuldigt.«
»Ach.«
»Ja, ach.« Wieder fuhr er sich durchs Haar, dann übers Kinn, auf dem sich ein Bartschatten zeigte. »Ich weiß selbst, dass das alles nicht gerade ideal ist, und ich fürchte, das war noch nicht die letzte schlechte Nachricht.«
»Was denn noch?« Reinhild faltete ihre Hände im Schoß.
»Der Erzbischof hat freundlicherweise Verständnis für unsere Hochzeit …«
»Freundlicherweise?« Ihr schwante nichts Gutes.
Conlin zog nun regelrecht den Kopf ein. »Er will, dass ich bereits zwei Tage nach der Hochzeit meinen Eid vor dem Rat der Stadt Koblenz wiederhole und danach umgehend mit dem Schultheißen nach Trier zurückkehre, um an weiteren Gesprächen teilzunehmen. Vermutlich erhalte ich auch Instruktionen, wie ich mit den diversen Amtsgeschäften umzugehen habe. Danach wiederum will Mohr mit mir eine Rundreise durch das Umland von Koblenz machen, um mich mit unserem rechtlichen Einzugsgebiet und dessen Grenzen bekannt zu machen und die Kollegen aus den angrenzenden Städten und Dörfern kennenzulernen.«
»Himmel.« Reinhild zog den Mantel fester um ihre Schultern. »So bald also schon. Wie lange wirst du fort sein?«
»Das ist ungewiss. Mohr gehört nicht zu der Sorte Männer, die es je eilig haben. Ein paar Wochen, schlimmstenfalls bis Mitte oder Ende November, nehme ich an.« Unvermittelt wandte er sich ihr zu und berührte sie am Arm. »Persönliche Befindlichkeiten interessieren weder Mohr noch den Erzbischof. Ich könnte Oswald erwürgen, weil er dies alles ohne mein Wissen in die Wege geleitet hat. Aber ich werde während der Vereidigung zum Amtmann auch den Titel des Grafen vom Langenreth übertragen bekommen, also …« Er lächelte schwach. »Du wirst dann eine Gräfin sein.«
»Wunderbar.« Reinhild fasste sich an den Kopf. »Darauf war ich nie aus. Ich weiß, es ist der richtige Weg, aber ich war nie …«
»Ich weiß.« Er drückte ihre Schulter leicht, bevor er die Hand unbeholfen wieder sinken ließ. »Als Tochter eines Grafen steht dir dieser Rang zu. Sieh es also als Glücksfall an.«
»Tust du das denn?« Zweifelnd musterte sie ihn.
»Ich versuche, mich dazu zu überreden, es nicht als völlige Katastrophe zu empfinden.« Für einen Moment schwieg er, und es wirkte, als habe er noch mehr schlechte Nachrichten. »Ich weiß, wir haben noch nicht darüber gesprochen, wo wir nach der Hochzeit leben werden. Dein Vater hat mir das Anwesen An der Arken angeboten, doch es muss erst renoviert werden und …«
»Und?« Erwartungsvoll sah sie ihn an. Trotz der nächtlichen Dunkelheit konnte sie erkennen, wie angespannt er war.
»Ich muss dich bitten, für eine Weile auf Gut Langenreth zu wohnen.« Ehe sie auch nur Luft holen konnte, um zu protestieren, hob er beschwichtigend die Hand. »Jemand muss sich um mein neues Gewerbe kümmern.«
Entgeistert starrte sie ihn an. »Ich soll das tun? Conlin, ich habe doch so gut wie keine Ahnung von Sicherheiten oder Lombardgeschäften!«
»Ich vielleicht?« Nun fasste er sie am Arm. »Ich kann die Geschäfte jetzt nicht ruhen lassen, damit würde ich mir selbst das Genick brechen. Du führst bereits die Bücher und wirst als meine Gemahlin befugt sein, mein Siegel zu führen. Dein Vater wird dir natürlich mit Rat und Tat zur Seite stehen.«
»Du hast bereits mit ihm darüber gesprochen?« Erschüttert lehnte sie sich auf der Bank zurück. »Dafür war wohl zumindest Zeit.«
»Er war einverstanden, weil er weiß, dass du eine kluge, umsichtige Frau bist.«
Sie schluckte hart gegen das plötzliche Herzklopfen an. »Aber könnte ich die Geschäfte nicht auch von hier aus führen? Gottfried hat mir das Haus praktisch vererbt. Es gehört streng genommen Hannes, aber ich habe lebenslanges Wohnrecht.«
»Ich wünschte, ich könnte dir das erlauben.«
»Erlauben?«, echote sie empört. »Was soll das heißen?«
»Verzeih. Das war nicht sehr glücklich ausgedrückt.« Er beugte sich ein wenig vor, suchte ihren Blick. »Ich muss dich bitten … Es geht nicht anders. Du musst dich um Mutter und Amalia kümmern – und um Oswald.«
»Was?« Ihr wurde eiskalt vor Schreck.
»Ich weiß, das ist viel verlangt, aber jemand muss ein Auge auf ihn haben und … geeignete Schritte einleiten, falls sein Zustand sich wieder verschlimmert.«
»Heilige Maria!« Sie bekreuzigte sich mit zitternder Hand.
»Ich will dich nicht dazu zwingen.« Er schnappte sich ihre Hand und drückte sie. »Aber ich kann nicht zulassen, dass er in meiner Abwesenheit irgendwelchen Schaden anrichtet. Wir beide sind nun in der Pflicht, uns um alle Belange der Familie zu kümmern.«
»Und Oswald ist solch ein Belang.« Sie schauderte. »Wie soll ich mit ihm fertigwerden? Er ist so viel stärker als ich und wird nicht auf eine Frau hören.« Sie schluckte. »Das hat er noch nie getan.«
»Es gibt genügend Knechte und Wachleute auf dem Gut. Sobald du meine Frau und damit die Gräfin bist, werden sie auf dich eingeschworen und alles tun, was du anordnest. Oswald hat, als er bei klarem Verstand war, aus freien Stücken auf seinen Titel und alle damit verbundenen Privilegien verzichtet. Abgesehen davon, dass er natürlich nach wie vor mein Bruder ist, ist es beinahe so, als würde er nicht mehr existieren. Er will sogar in ein strenges Kloster eintreten, als Rekluse oder dergleichen. Bruder Genericus hat allerdings davon abgeraten. Die wenigsten Äbte werden freiwillig jemanden wie Oswald aufnehmen, und falls doch, dann nur gegen hohe Geldzahlungen, die wir uns aber nicht leisten können.«
Reinhild versuchte, sich ihr zukünftiges Leben auf Gut Langenreth vorzustellen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Zu vieles lag im Ungewissen. »Was ist mit Hannes? Ich will ihn nicht in Oswalds Nähe wissen. Was, wenn dein Bruder herausfindet, dass er …«
»Reinhild.« Conlin ergriff auch ihre andere Hand. »Niemand wird es herausfinden. Hannes ist auf Gut Langenreth sicher. Anni kann sich weiterhin um ihn kümmern. Oswald schert sich nicht einmal um die Söhne, von denen er weiß. Weshalb sollte er plötzlich ein Interesse an Hannes entwickeln? Amalias Kinder sind in einem eigenen Stockwerk untergebracht, und auch Hannes und Ida werden dort betreut. Hannes ist darüber hinaus in zwei, drei Jahren alt genug, um seinen Pagendienst auf Burg Kempenich anzutreten.«
»Also darüber müssen wir noch einmal sprechen.« Verlegen blickte Reinhild auf ihre Hände in Conlins. Die Berührung schenkte ihr mehr Kraft und Zuversicht, als sie sich je hätte vorstellen können.
»Soll er doch eher auf die Mantenburg? Ich bin sicher, dein Vater hat nichts dagegen. Frieder und Richwin können Hannes ebenfalls in ihre Dienste nehmen.«
»Nein, also …« Sie straffte die Schultern. »Hannes will Kaufmann werden.«
»Was?« Verdutzt starrte Conlin sie an.
»Benedikt vom Heidenstein hat sich vor einiger Zeit lange mit ihm unterhalten, und seither redet er von nichts anderem mehr, als dass er mal Händler sein möchte, so wie Palmiro, Antonio, Martin und Luzia … Er hat mich sogar um einen Abakus gebeten, damit er jetzt schon mehr über das kaufmännische Rechnungswesen lernen kann.«
Irritiert runzelte Conlin die Stirn. »Ist der Junge wirklich erst fünf Jahre alt?«
»Er wird in drei Wochen sechs.« Reinhild lächelte stolz. »Hannes besitzt einen ungewöhnlich klugen Kopf. Er ist seinen Altersgenossen in vielen Bereichen weit voraus. Das war er schon immer. Schon mit drei hat er die ersten Buchstaben und Wörter zu lesen gelernt. Und er macht sich über so viele Dinge Gedanken, von denen andere Kinder in seinem Alter nicht einmal etwas wissen.«
»Und nun will er also kein Ritter mehr sein.«
»Nein, aber wehrhaft, so sagt er, will er dennoch sein und Unterricht im Schwertkampf, Bogenschießen und Zweikampf erhalten.«
Conlin grinste. »Ein weiterer wehrhafter Kaufmann in der Familie. Was sagt denn dein Vater dazu?«
»Er weiß es noch nicht. Glaube ich zumindest, denn sonst hätte er sich bereits dazu geäußert.«
»Tja …« Conlin seufzte übertrieben. »Dann wäre die Nachfolge hinsichtlich meines Gewerbes wohl schon mal geregelt.«
Verblüfft hob Reinhild den Kopf. »Du hast nichts dagegen einzuwenden?«
Er hob nur die Schultern. »War es nicht meine zukünftige Gemahlin, die mir die Vorteile einer Verbindung von Adel und Handel um die Ohren gehauen hat?«
Hitze stieg in Reinhilds Wangen »Nun … ja.«
»Diesen klugen Rat werde ich wohl kaum in den Wind schlagen, denn jene zukünftige Gemahlin ist eine überaus weise Person.«
Sie hielt die Luft an. »Ist sie das?«
»O ja, habe ich das noch nicht oft genug betont? Jeder Mann mit einem Funken Verstand legt Wert auf eine Gemahlin, die ihren Kopf zu mehr als dem Tragen von Hauben und Schleiern zu benutzen weiß. Oder wie die kleine Adelina einst zu mir sagte: Ohne eine kluge Frau an seiner Seite steht ein Mann dumm da.«
Reinhild gluckste. »Wie wahr. Wer ist Adelina?«
Conlin zog sie sanft in seine Arme. »Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir, wenn wir einmal mehr Zeit haben.« Sachte streiften seine Lippen die ihren.
Reinhilds Herz machte einen großen Satz und pochte danach in doppelter Geschwindigkeit weiter. »Leider wird uns diese Zeit wohl vorerst nicht beschieden sein, oder?«, flüsterte sie.
»Leider nicht«, raunte Conlin gegen ihre Lippen. »Was überaus schade ist.« Nun küsste er sie mit etwas mehr Nachdruck.
»Ja«, sie küsste ihn ihrerseits, »sehr schade. So hatte ich mir die Sache nicht vorgestellt.«
»Die Sache?« Seine Stimme vibrierte warm an ihren Lippen.
»Nun ja … Die Hochzeit … und all das.«
»All das?« Mit der rechten Hand umfasste er ihre Wange.
»Wir werden nicht einmal Zeit für eine …« Sie stockte verlegen.
»Eine richtige Hochzeitsnacht haben«, vervollständigte er ihren Satz mit einem reichlich rauen Unterton. »Vermutlich nicht. Solche Feiern ziehen sich ja gern bis in die frühen Morgenstunden, und tags darauf muss ich mich schon auf die Reise vorbereiten.«
Ihr Herzschlag beschleunigte sich noch mehr. »Zu ärgerlich.«
***
»Fürwahr.« Widerstrebend löste Conlin sich von Reinhild. Sie schien heute so anders, so entgegenkommend. Nein, er würde sie nicht zu etwas drängen, ganz gleich, was Palmiro ihm geraten hatte. Vielleicht war es gut, wenn sie sich mit dieser Sache noch eine Weile Zeit ließen, auch über den Hochzeitstag hinaus. Zwar waren die Säfte in seinem Körper gänzlich anderer Meinung – sie schäumten allein bei den Küssen schon feurig durch ihn hindurch –, doch er wusste, dass Reinhild sich fürchtete. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er ihr diese Angst nehmen sollte, doch die Zeit würde hoffentlich eine Lösung mit sich bringen. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich jetzt auf den Heimweg mache.« Sorgsam zog er seinen Mantel um Reinhilds Schultern zusammen. »Es wird reichlich kühl. Nicht, dass du dich noch erkältest.«
»Mhm.« Als er sich erhob, tat sie es ihm gleich. »Du reitest jetzt noch bis zum Gut? Die Stadttore sind längst verschlossen.«
»Ein kleiner Obolus öffnet die Mannpforte«, scherzte er.
»Ich dachte, wir müssen sparen.« Sie zögerte sichtlich, trat dann aber einen Schritt auf ihn zu. »Wir haben zwar keine Gästekammer, aber du könntest die Nacht in meinem Bett verbringen. Und ich bei Hannes«, fügte sie hastig hinzu.
Conlin starrte sie verblüfft an. »Du bietest mir deine Gastfreundschaft an?«
»Warum sollte ich sie meinem Verlobten vorenthalten? Es ist schon spät, beinahe Mitternacht. Bis du zu Hause bist, hat es darüber hinaus vermutlich zu regnen begonnen, und dann wirst du ganz nass.« Als wolle der Himmel ihr Argument bekräftigen, öffnete er seine Schleusen für einen kühlen Sprühregen.
Conlin zog ein wenig den Kopf ein und führte sie an der Hand bis zum Stall. Unter dem Dachüberstand blieb er stehen. »Bist du sicher? Es könnte Gerede geben.«
»Die Leute reden immer, gleich, was wir tun oder nicht tun.« Ihre Stimme klang ein wenig brüchig, jedoch entschlossen. »Hol dein Pferd herein. Die Nachtwächter werden es längst gesehen haben. Wenn ihnen sonst kein Klatsch einfällt, werden sie morgen früh ihren Gemahlinnen davon berichten, und die wiederum ihren Nachbarinnen und so fort.«
Sie hatte natürlich recht, deshalb führte er sein Pferd, das er vor dem Tor gelassen hatte, in den Stall und nahm ihm den Sattel ab. Viel Platz war hier nicht, doch für eine Nacht war es wohl kein Problem, das Tier in der Gesellschaft eines Schweins, eines Esels und eines Maultiers zu belassen.
Reinhild hatte das Hoftor bereits geschlossen und wartete an der Hintertür auf ihn. Bevor sie das Haus betraten, legte sie mahnend den Zeigefinger an die Lippen und flüsterte: »Wir sollten das Gesinde nicht wecken.«
Sicherheitshalber zog er seine Stiefel aus, bevor er ihr über die schmale Stiege nach oben folgte, und stellte sie in ihrer Kammer neben der Tür ab.
»Viel Platz ist hier nicht wegen des großen Bettes«, erklärte sie überflüssigerweise. Das breite Ehebett mit Himmel, der auf vier massiven Pfosten ruhte, nahm tatsächlich den größten Teil des Raumes ein. »Meine Schwiegereltern haben es uns geschenkt.« Sie rieb ein wenig fahrig über den Rock ihres Unterkleides. »Es ist viel zu groß, aber sehr bequem.« Zu seiner Überraschung schloss sie die Tür und wandte sich ihm dann wieder zu. »Ich … weiß nicht recht … wie es jetzt weitergehen soll.«
Ein scharfer Stich durchzuckte seine Eingeweide. Es dauerte einen Moment, bis er seine Stimme fand. »Du wolltest bei Hannes schlafen.«
»Wollte ich?« Sie lächelte ein wenig zerstreut und zugleich so offensichtlich verlegen, dass es ihm einen weiteren Stich versetzte. »Oh … ja, stimmt. Das sagte ich. Etwas in der Art wäre schicklich, nicht wahr?«
»Überaus schicklich.« Sein Puls geriet außer Kontrolle. »Reinhild?«
»Ja.« Sie nickte auf seine unausgesprochene Frage. »Ich bin mir sicher. Es … muss sein.«
»Nichts muss sein«, unterbrach er sie hastig. »Du bist zu nichts …«
»Verpflichtet? Doch, spätestens nach unserer Hochzeit bin ich das«, entgegnete sie leise. »Aber … Ich fürchte, ich habe so gut wie keine Ahnung vom, nun ja, vom Ehelager. Mit …« Sie schluckte und wich seinem Blick aus. »Mit Oswald war es nicht … schön, und danach … Gottfried und ich haben nie … die Ehe vollzogen. Er hat mich geliebt, aber … nicht so. Ich weiß einfach nicht … was ich nun tun soll. Oder nicht tun. Es gab eine Zeit, eine lange Zeit, während der ich Gott täglich dafür gedankt habe, dass ich meine Pflicht als Ehefrau nicht zu erfüllen brauchte. Zumindest nicht auf diese Weise. Wahrscheinlich glaube ich immer noch, dass es immer so ist wie damals. Dabei ist das doch Unsinn, nicht wahr? Es gäbe keine glücklichen Eheweiber, wenn es immer … so …« Sie verstummte, als er nah an sie herantrat.
Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er tat oder tun sollte, als er sie an sich zog, ihr den Mantel von den Schultern streifte und zu Boden fallen ließ. In seiner Magengrube flatterte es nervös. Mit den Fingerspitzen strich er über ihre Wangen, hinab über ihren Hals, wo er eine heftig pulsierende Ader fand, und noch weiter über ihre Schultern und Arme, bis er ihre Hände fand und ergriff. Dann küsste er sie, vorsichtig fast, tastend, abwartend.
Ein wenig zittrig atmete sie aus, bevor sie den Kuss erwiderte, ebenso wie den Druck seiner Hände.
Ermutigt umfasste er ihre Wangen, neigte ihren Kopf etwas nach hinten, strich mit der Zunge über ihre Unterlippe, bis sie sie einließ und mit der ihren empfing. Heiße Schauer und Stiche durchrieselten und durchzuckten ihn. Er wollte sie, brauchte sie, hier, heute, jetzt! Tastend strich er an ihre Seiten, fand die Verschnürungen ihres Kleides.
Sie half ihm, die Schnüre zu lockern, und wehrte sich auch nicht, als er es ihr über den Kopf zog. Da das Wetter so warm war, trug sie weder Hemd noch Unterröcke, sondern lediglich eine einfache Bruoch.
Als er im Schein der kleinen Öllampe, die sie in eine Schale mit Wasser gestellt hatte, ihren schlanken Körper, ihre helle, weiche Haut, ihre sanft gewölbten Brüste erblickte, durchfuhr ihn ein neues Gefühl: Begierde. Es zerrte an ihm, berauschte ihn. Ehe er sich aufhalten konnte, hatte er sie bereits fest an sich gezogen. Wie oft hatten ihn bereits Träume von diesem Augenblick gequält! Doch er hatte sich gelobt, ihr Zeit zu lassen, auf ihre Ängste mit Verständnis zu reagieren. Verfluchte Träume! Verfluchte Reinhild. Er küsste sie erneut, diesmal ohne jede Zurückhaltung. Seine Zunge suchte ihre, fand sie, neckte sie. Im nächsten Moment strich er bereits mit Lippen und Zähnen an ihrem Kinn entlang, über ihren Hals, bis zu jener pulsierenden Ader. Als er dort die Haut einsaugte, stieß Reinhild einen eigentümlich gurrenden Laut aus und taumelte. Sogleich hielt er sie noch fester, schob sie in Richtung des Bettes. Er wollte sie, Himmel, wie sehr! Seine Hose wurde ihm bereits unangenehm eng, das Blut rauschte in seinen Adern und ein großer Teil davon sammelte sich dort unten und pulsierte beinahe schmerzhaft.
»Reinhild«, seine Stimme kratzte in seiner Kehle, »hab keine Angst vor mir.«
Sie krallte eine Hand in seine Schulter, die andere ließ sie in sein Haar wandern. »Ich habe keine Angst vor dir.«
Er wusste, dass sie nicht ganz die Wahrheit sagte, denn sie hatte jeden Muskel angespannt und vibrierte beinahe in Erwartung von … ja, was? Einem Schmerz? Er wollte verdammt sein, wenn er ihr in irgendeiner Weise wehtat. Zumindest war sie keine Jungfer mehr, diese Schmerzquelle schied also schon einmal aus. Dennoch wusste er nicht, was gut und richtig sein würde, und seine Sehnsucht, sein Verlangen, sie zu besitzen, vernebelten ihm zusehends die Sinne. Er wollte sie, wollte sie spüren!
Schon fand er ihre linke Brust, umschloss sie mit der Hand und erschauerte ob der köstlichen Empfindungen, die dies in ihm auslöste.
***
Reinhild stieß zitternd die Luft aus, als sie Conlins rechte Hand an ihrer Brust spürte, seine Linke an ihrem Rücken, wo er sanft, aber bestimmt abwärts streichelte, bis er ihre Bruoch erreichte. Dort machte er jedoch nicht halt, sondern – Himmel! – umfasste ihr Hinterteil, knetete es gerade so fest, dass es ein eigenartiges Prickeln in ihr auslöste, das sich noch verstärkte, als er seinen Unterleib gegen ihren drängte. Sie spürte die harte Erhebung, die seine Erregung nur zu deutlich verriet. Für einen Moment war sie an jenen Abend zurückversetzt, da sie sich von Oswald hatte verführen lassen. Auch er hatte sich an sie gedrängt, sein hartes Gemächt an ihr gerieben, ihre Röcke hochgeschoben, sie ins Heu gedrängt und …
»Reinhild, bleib bei mir.« Conlins raue Stimme dicht an ihrem Ohr brachte sie ins Hier und Jetzt zurück. »Hab keine Angst vor mir. Ich bin nicht …« Er stockte. »Ich bin ich. Sieh mich an!«
Zögernd folgte sie seiner Aufforderung und erschrak fast über die Intensität, mit der sein Blick auf sie gerichtet war. Sie erschauerte erneut.
»Ich bin ich«, flüsterte er dicht an ihren Lippen. »Conlin, niemand sonst.«
Sie schluckte, doch ihr Herz schlug unbeirrt bis in ihre Kehle hinauf. »Ich weiß. Ich … Was nun?«
Ein Lächeln trat in seine Augen. »Alles, was du möchtest.«
Erstaunt merkte sie auf. »Was ich möchte?«
Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen. »Nun, ich hoffe, es ähnelt sehr dem, was ich möchte, aber diese … Sache … ist eine … Betätigung von zwei Menschen. Warum sollte da nur einer von beiden seinen Willen bekommen?«
Ein verführerischer Gedanke. Reinhild lächelte. »Ich bin fast nackt.«
In seinen Augen funkelte es schalkhaft. »Das stimmt auffallend und mich ausgesprochen froh.«
»Du trägst noch alle deine Kleider.«
»Das lässt sich leicht ändern, sollte es dein Begehr sein.«
Vorsichtig strich sie über sein Wams. »Ist es.«
Conlin trat einen Schritt zurück und öffnete die Nesteln an seinem Wams, streifte es ab, warf es zu Boden. Sein Hemd gesellte sich nur Augenblicke später dazu.
Bewundernd betrachtete Reinhild seinen kräftigen, von Muskeln durchzogenen Oberkörper, die feinen Härchen auf dem Brustkorb, die starken Arme, und bemerkte beinahe zu spät, dass er auch seine Hose abstreifte und mit ihr die einfache Leinenbruoch. Erst als er, vollkommen unbekleidet, wieder auf sie zutrat, machte ihr Herz einen halb erschreckten, halb erwartungsvollen Satz. Sie versuchte, nicht zu seiner aufgerichteten Männlichkeit zu schielen, bekam sie jedoch im nächsten Moment zu spüren, als er sie fest an sich zog.
Im ersten Moment wollte sie sich wieder anspannen, doch als sie seine Erregung fühlte, übertrug sich das Gefühl unerwartet auf sie selbst und löste wieder dieses Prickeln in ihrer Mitte aus. Binnen Momenten wuchs es zu einem verlangenden Pulsieren an, als er sie erneut küsste, nach ihrer Zunge suchte, sie sanft auf das Bett schob. Er glitt neben sie, küsste, streichelte, ging mit Mund und Zunge auf Entdeckungsreise bis zu ihren Brüsten hinab.
So etwas hatte sie nicht erwartet! Weder seine Zärtlichkeit noch die köstlichen Empfindungen, die sie wie heiße Wellen durchrieselten. Das war gänzlich anders als das, woran sie sich von damals noch erinnern konnte. Anders und … besser, schöner, unglaublicher!
Als Conlin seine Hand zwischen ihre Schenkel schob, sie dort umfasste, leichten Druck ausübte, keuchte sie erschrocken auf. »Was … tust du da?« Sie hob das Becken an, als er die Liebkosung wiederholte. Das Pulsieren war kaum noch auszuhalten!
»Gefällt es dir?«
Erstaunt blickte sie ihm in die Augen, dann an sich hinab. »Ich glaube … ja … Aber …«
»Aber?«
»Habe nun nicht ich zu viel an?«
Conlin lachte rau. »Auch das lässt sich ändern, wenn du es wünschst.«
Hitze stieg in ihre Wangen, doch sie nickte auf seinen fragenden Blick hin und half ihm, ihre Bruoch abzustreifen. Kaum war dieses letzte Stück Stoff fort, als seine Hand sich wieder zwischen ihre Schenkel stahl. Diesmal sogen sie beide hörbar die Luft ein, als er erneut leichten Druck ausübte.
Himmel, wie wurde ihr? Sie spürte Hitze und Feuchtigkeit dort unten und dass beides gegen seine Finger pulsierte.
Conlins Blick wurde beinahe schwarz, sein nächster Kuss gierig und hungrig. Hitze strahlte auch von seinem Körper ab. Einem Körper, den sie ganz dringend zu spüren wünschte. Ohne nachzudenken, fuhr sie mit beiden Händen über seine Arme, seinen Rücken, die Seiten, den Brustkorb.
Dann weiter hinab. Ihr Handrücken streifte seine Männlichkeit, woraufhin er scharf einatmete.
»Ich will dich, Reinhild«, raunte er an ihrem Mund. »So sehr.«
Das drängende Verlangen in seiner Stimme ließ sie erneut erschauern und ihren Körper gänzlich ohne ihr bewusstes Zutun reagieren. Vergessen waren alle schmerzlichen, furchteinflößenden Erinnerungen. Zurück blieben Begehren und das Sehnen danach, endlich eins mit ihm zu werden.
Sie fasste an seine Schulter, zog ihn zu sich, auf sich. Einladend öffnete sie ihre Schenkel, erwartungsvoll, mit wild pochendem Herzen.
***
Gerade als sein Verlangen allzu schmerzlich wurde, öffnete Reinhild sich ihm, freimütig, einladend. Ihr Blick war dunkel, die Augen groß, erwartungsvoll und voller Zustimmung und Vertrauen auf ihn gerichtet. Heißes Begehren überschwemmte ihn und noch etwas anderes, Bekanntes und doch völlig Neues: Hingabe und Liebe.
Gott, ja, er liebte diese Frau. Wie hatte er das so lange nicht sehen können?
Noch ehe dieser Gedanke sich wieder gänzlich im Nebel der Leidenschaft auflösen konnte, gab er sich dem herrlichen Verlangen hin und drang in sie ein. Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen, doch er hatte nun einmal diesen Pakt mit der Verdammnis geschlossen. Er würde ihr nicht wehtun.
Als sie ihn spürte, sich von ihm erobern ließ, biss sie sich auf die Unterlippe. Ihre Augen weiteten sich noch mehr, scharf sog sie die Luft ein, als er sie vollständig ausfüllte.
Jeder einzelne Muskel in seinem Körper spannte sich an, sein Blick verhakte sich mit ihrem. Er wagte es nicht, sich zu bewegen, wollte ihr Gelegenheit geben, sich an ihn zu gewöhnen, und gleichzeitig dieses einmalige, unfassbare, wundervolle Gefühl auskosten. Es war, als finde er hier und jetzt gerade sein Herz – und sein Zuhause.
»Was nun?« Ihre Stimme war nur ein Hauch, doch in ihr schwang dieselbe Leidenschaft, die auch er empfand, und so viel mehr. So unfassbar viel mehr!
»Was immer du willst«, antwortete er lächelnd.
Sie lächelte ebenfalls, zog seinen Kopf zu sich hinab. Ihre Lippen trafen sich, dann ihre Zungen – und dann ließen sie sich von den Wellen der Lust hinwegtragen an Orte, die sie beide vorher nicht gekannt hatten.