Kapitel 8

 

Melody

 

„Lust auf einen kleinen Spaziergang, Loady?“, fragte Will und zwinkerte amüsiert.

Ich blickte von meinem gemütlichen Platz im Pausenraum hoch, wo ich gerade durch die neueste Vogue blätterte. „Nicht, wenn Sie mich weiterhin so nennen.“

„Ich dachte, Sie lieben den Namen.“ Er spielte den Verwirrten.

Ich kratzte mich mit dem Mittelfinger am Kopf. Er kam näher und sah über meine Schulter.

„Oh. Wow. Sie sind wahrscheinlich schwer beschäftigt.“

Ich lächelte und blätterte die Seiten des Magazins langsam und dramatisch um. „Ich bin damit beschäftigt, meine beste Darstellung als Melissa zu geben.“ Aber mein Herz widersprach seinem Vorschlag nicht. Kein bisschen. Es hüpfte in meiner Brust.

Vor ein paar Tagen hatte Will mich zum ersten Mal gebeten, in die Klinik rüberzukommen. Natürlich war das kein Date oder so etwas. Es ging nur um die Arbeit.

Ich war allerdings nicht überrascht, dass ein Teil meines Hirns versuchte, die Dinge so zu drehen, wie sie gar nicht waren. Eine Geburt war eine ziemliche Sauerei. Natürlich trugen wir Schutzkittel, aber als heute Nachmittag eine unserer Patientinnen in die Klinik kam, war sie bereits fast am Gebären. Will konnte nur noch Handschuhe anziehen und schon war es so weit. Ich überlegte, ob das eine der Frauen war, denen Marlene mit dem Tode gedroht hatte, falls sie zu früh ins Krankenhaus kommen würde.

Jedenfalls hatten ihre Körperflüssigkeiten Wills Hemd ruiniert und ich hatte ihn beim Umziehen angetroffen. Ich war versehentlich in den Umkleideraum für Männer gegangen und war nicht überrascht von dem, was ich dort sah. Seither fantasierte ich schon eine peinliche Anzahl von Tagen davon. Glatte, gut geformte Muskeln, gebräunte, geschmeidige Haut und die schönsten seitlichen Bauchmuskeln, die ich je gesehen hatte, waren erst der Anfang. Ich dachte außerdem über die Dinge nach, die ich nicht sehen konnte. Hauptsächlich seinen Penis.

Er grinste. „Hey, sie ist in Ordnung. Vielleicht manchmal etwas träge, aber sie arbeitet hart.“

Ich hob eine Augenbraue. „Definieren Sie bitte hart“, scherzte ich, doch der Scherz ging nach hinten los. Meine Gedanken wanderten direkt ins Unanständige.

Will … hart.

Heilige Todsünde.

Meine Neigung, über Wills Penis nachzudenken, wurde langsam beängstigend. Es war ja wohl nicht normal, ständig an einen bestimmten Penis zu denken. Besonders nicht, wenn der Besitzer des Penis mein Boss war. Aus irgendeinem Grund war sein Penis eine Art phallusförmiges mystisches Wesen in meinem Kopf geworden. Ich musste herausfinden, wie ich das stoppen konnte.

Finde eine Möglichkeit, ihn zu sehen. Wenn du ihn gesehen hast, weißt du Bescheid und hast deine Ruhe.

Von wegen. Ich müsste weiter darüber nachdenken …

Wills Grinsen wurde breiter und meine Wangen wurden rot. Ich hatte mich viel zu weit von dem entfernt, was als normal zu bezeichnen war. Es war eine Sache, die sexuelle Anspielung des Wortes hart zu erkennen, aber eine ganz andere, darüber hinauszustürmen und sich Wills Penis nackt und hart vorzustellen.

Ich brauchte Hilfe. Einen Psychiater. Eine Hirnoperation. Irgendetwas.

Sein Grinsen war so perfekt, als hätte ein Künstler es in sein Gesicht gemeißelt.

Ich seufzte. „Oh, mein Gott, ich meinte nicht diese Art von hart.“ Wenn er nur wüsste.

Er wackelte mit den Augenbrauen. „Das haben Sie gesagt, nicht ich.“

„Der Ausdruck auf Ihrem Gesicht sagt mir alles, was ich wissen muss.“

Will zwinkerte mir zu, und ich fragte mich sofort, ob er mit mir flirtete.

Ja, bitte. Flirte auf Teufel komm raus, Will!

Hey, tritt auf die Bremse.

Auf keinen Fall flirtete er wirklich.

Manchmal hasste ich mein Gehirn. Es war, als wäre es seit meiner Trennung von Eli total durchgedreht. Vielleicht war es der Sexentzug? Das letzte Mal, dass ich Sex gehabt hatte, rutschte immer weiter in die Vergangenheit, und man hatte auch nur wenig Zeit zum Masturbieren, wenn das Bett in dem Raum stand, in dem die Mutter ständig Fitnesstraining machte.

Genau. Ich brauchte wahrscheinlich bloß Sex.

Sex mit Wills Penis.

Ach, verflucht noch mal. Ich musste diese Unterhaltung in eine andere Richtung lenken. Medizinische Fragen. Patientenakten. China. Pullover stricken. Irgendwo hin.

Normalerweise war mein Verstand kein Kaleidoskop aus Schwänzen. Wirklich nicht.

„Wo wollen Sie spazieren gehen?“, fragte ich und hoffte, dass es mir half, mich nicht so pervers zu fühlen.

„Da Dr. Meadows mit den Patienten in den Belegbetten überfordert ist, hatte ich angeboten, für ein oder zwei Stunden im Krankenhaus die Aufnahmegespräche zu übernehmen.“

Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. „Sie möchten also nur, dass ich mit Ihnen zum Krankenhaus rüberlaufe?“

„Eigentlich hatte ich gehofft, dass Sie sich gemeinsam mit mir die Patienten ansehen“, erklärte er mit einem Grinsen.

„Oh, ich habe Sie verwöhnt, oder?“, neckte ich ihn. „Ich bin so eine tolle Helferin, dass Sie ohne mich nicht einmal zum Krankenhaus rübergehen wollen. Was tun Sie, wenn Sie für vierundzwanzig Stunden Bereitschaftsdienst haben?“

„Normalerweise heule ich einfach“, witzelte er. „Gott, manchmal heule ich sogar während der  Geburten.“

Ich kicherte. „Auf diese Weise werden Sie Patienten verlieren.“

„Sehen Sie? Jetzt müssen Sie mitkommen. Meine Karriere steht auf dem Spiel.“

Ich stöhnte. „Sie werden nicht lockerlassen, bis ich Ja sage, oder?“

Er zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich nicht.“

„Und wer übernimmt Ihre Patientinnen in der Praxis? Sie haben noch vier Termine heute.“

„Erstaunlicherweise hat sich Dr. Elders aufgerafft und ist bereit, auszuhelfen.“

Ich grinste. „Ich bin schockiert.“ Was an Qualitäten für Will sprach, fehlte Dr. Elders gänzlich. Es war unfassbar, wie verschieden zwei Ärzte in derselben Klinik sein konnten. Außerdem bezweifelte ich, dass Dr. Elders Penis auch nur annähernd so schön war wie Wills.

Verflucht!

Will zwinkerte. „Ja, oder?“

„Ich glaube, da steckt mehr dahinter. Ich wette, Sie mussten ihn mit irgendwas bestechen.“

Er stritt das nicht mal ab, sondern zuckte bloß ohne Scham mit den Schultern. „Tickets für die Mavericks.“

„Ich wusste es!“ Ich deutete mit dem Zeigefinger auf seine Brust. „Wie gut sind die Sitzplätze?“

„Es ist das Spiel gegen New England. Tribüne.“

Ich stieß einen leisen Pfiff aus. „Oh Mann, muss toll sein, solche Karten einfach so rumliegen zu haben.“

„Es hilft, dass mein Schwager mit dem Besitzer befreundet ist und meine Schwester die PR macht und ich somit nicht für die Karten bezahlen musste.“

„Das Ding mit Freunden in hohen Positionen?“

„So ungefähr“, sagte er. „Aber es ist mehr wie Freunde mit gleicher niedriger Moral in hohen Positionen.“

Ich schüttelte den Kopf. Seine Freunde waren offenbar nette Leute.

„Also, ist das ein Ja?“

„Was?“

„Kommen Sie mit?“

„Mitkommen?“

Mit Will kommen? Oh ja. Ich würde es lieben, mit dir zu kommen, vorzugsweise mit deinem Penis in mir.

„Zum Krankenhaus“, erklärte er.

Heilige Scheiße. Ich brauchte ehrlich Hilfe. „Ja, natürlich. Ich meine, Sie haben mir nicht wirklich eine Wahl gelassen, weil ich ansonsten den Rest des Tages mit Dr. Elders zu tun hätte.“

„Mögen Sie ihn nicht?“

Ich sah ihn düster an. „Er ist alt. Er ist gemein. Und er hasst so ziemlich jeden.“

„Er ist praktisch die männliche Version von Marlene“, flüsterte er verschwörerisch und brachte mich zum Lachen.

„Okay, Dr. Cummings.“ Ich sprang vom Stuhl auf. „Zu Ihren Diensten. Wenn Sie schon nicht ohne mich leben können und so.“

Er grinste und deutete zum Flur. „Nach Ihnen, Schwester Loady.“

Ich zeigte ihm den Mittelfinger über die Schulter und sein weiches Lachen folgte mir durch das Büro und durch die Türen.

Noch nie hatte ich so viel Spaß bei der Arbeit gehabt, und ich war nicht mal sicher gewesen, diese Stelle überhaupt haben zu wollen.

Gott, ich saß in der Scheiße.

 

Nach einer schnellen Tour durch die Bereiche, die ich noch nicht erkundet hatte, besonders der Räume für die Erstgespräche und Untersuchungen, begannen wir auf ruhige und geordnete Weise mit den Patiententerminen. Ungefähr zwei Stunden waren wir damit beschäftigt und konnten die Patientenanzahl von fünfzehn auf zwei senken.

Die Schwangeren kamen meistens, um zu erfahren, ob die Geburt schon begonnen hatte. Nachdem wir das beurteilt hatten, wurden sie einem Arzt zugewiesen, der Bereitschaft hatte. Zum Glück für Dr. Meadows, der momentan bis zu den Ellbogen in einer Geburt nach der anderen steckte, mussten wir nur eine Frau in der Klinik behalten. Zwischen humorvollem Geplänkel und der Patientenversorgung hatten Will und ich es geschafft, die anderen mit entsprechenden Instruktionen nach Hause zu schicken.

Während Will die Berichte fertigstellte, betrachtete ich die Akte der nächsten Patientin.

Carmen Dominguez.

Alter: 25

Grund des Aufenthalts: Bauchschmerzen.

Schwangerschaft: Nicht bestätigt. Patientin glaubt, im achten oder neunten Monat zu sein.

Letzter Besuch: Keine Schwangerenbetreuung.

Letzte Periode: Patientin weiß es nicht.

Frühere Schwangerschaften: Mit achtzehn Jahren Fehlgeburt im dritten Monat. Versorgung in Venezuela.

Frühere Operationen: Blinddarm-OP mit zwölf Jahren in Venezuela.

Frühere Krankengeschichte: Unbekannt.

Relevante persönliche Geschichte: Patientin vor einem Jahr in die USA immigriert.

Während all meiner Jahre als Krankenschwester und Arzthelferin war ich darauf bedacht, mich über den Patienten zu informieren, ehe ich in den Untersuchungsraum ging. Ich selbst mochte es auch nicht, auf dem Untersuchungsstuhl zu liegen, während ein Arzt wortlos durch meine Akte blättert. Da hatte man das Gefühl, eine Sache auf einer Checkliste zu sein anstatt ein lebender, atmender Mensch mit medizinischen Fragen und Sorgen. Und heute war es für diese Frauen genauso. Sie wollten, dass jemand ihre Berichte las und nicht nur flüchtig durchblätterte. Also studierte ich den Rest von Carmens Akte, und der Mangel an medizinischen Informationen versetzte mich in Alarmbereitschaft.

Leider passierte das häufiger, als man glauben mochte. Meistens lag es an der gesellschaftlichen Klasse, an schlechter Bildung, Sprachbarrieren, finanziellen Engpässen und fehlender Krankenversicherung. Aber egal warum, bei Schwangerschaften bedeutete dies oft nachteilige Auswirkungen für gleich zwei Personen.

Ich ging in den Raum vier und fand Carmen auf der Untersuchungsliege auf der Seite liegend und mit verzogenem Gesicht vor.

„Hi, Carmen“, grüßte ich und zog die Tür zu. „Ich bin Melody, Dr. Cummings Arzthelferin.“

„Hallo“, antwortete sie mit starkem spanischen Akzent. Sie betrachtete mich zögerlich und hatte die Hände auf ihrem schwangeren Bauch.

„Was führt Sie heute zu uns?“

„Mein Bauch schmerzt“, sagte sie und streichelte von oben bis unten über ihren Bauch.

„Wie lange schon?“ Ich streifte mir Handschuhe über. Manche Schmerzen waren ganz natürlich, aber auch Vorwehen konnten wehtun.

„Seit ein paar Stunden“, antwortete sie und verzog unbehaglich das Gesicht.

Oh Mann, das konnten mehr als nur Vorwehen sein. „Okay. Legen Sie sich auf den Rücken, ich sehe mir jetzt Ihren Bauch an.“

Sie folgte meinen Anweisungen, und ich konnte nicht übersehen, dass sie die Augenbrauen zusammenzog und ihre Lippen zu einer Linie wurden.

„Ist das der Schmerz, wegen dem Sie gekommen sind?“, fragte ich und legte meine Hand auf ihren Bauch.

„Sí … äh … ja“, flüsterte sie gequält.

Ihr Bauch war fest wie eine Trommel. Wehen. Wenn sie so weit war, wie ich vermutete, war Carmen ganz schön hart im Nehmen.

„Und das ist schon seit ein paar Stunden so?“, fragte ich und überprüfte mit meiner Armbanduhr die Abstände. Fünfunddreißig Sekunden. „Wissen Sie noch, wann es anfing?“

„Äh, vor dem Frühstück“, sagte sie und ihr stockte erneut der Atem.

Ehe ich weitermachen konnte, bekam sie wieder eine Wehe. Carmen griff an ihren Bauch und ich half ihr, durch die Wehe zu atmen.

„Tiefe Atemzüge, Carmen. Durch die Nase einatmen und durch den Mund aus.“ Ich nahm das Ultraschallgerät, verteilte Kontaktgel auf ihrem Bauch und suchte mit dem Gerät auf Carmens Bauch nach dem Herzschlag des Kindes.

Nichts.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Carmen mit knirschenden Zähnen.

Ich lächelte sie ermutigend an. „Ich werde mich um Sie und Ihr Baby kümmern“, sagte ich ruhig. „Bitte legen Sie sich auf die linke Seite und konzentrieren sich darauf, Ihrem Baby so viel Sauerstoff wie möglich zu geben, okay?“

„Okay“, erwiderte sie, aber Angst kroch in die Winkel ihrer Augen.

Ich suchte weiterhin den Herzschlag, fand ihn jedoch nicht, sodass ich den Knopf an der Wand drückte, der das Team wissen ließ, dass ich sofortige Assistenz brauchte.

Bum-bum.

Endlich hörte ich den Herzschlag, aber er war nicht normal. Er galoppierte nicht wie sonst. Er war zu langsam, viel zu langsam. Ich griff nach Carmens Handgelenk, um ihren Puls zu fühlen, damit ich nicht versehentlich ihren Herzschlag gefunden hatte statt dem des Babys. Es war tatsächlich der des Kindes.

„Carmen, verspüren Sie Druck im Vaginalbereich? Haben Sie das Gefühl, pressen zu wollen?“

Sie nickte hektisch. „Ich glaube, ich muss jetzt auf die Toilette.“ Sie stöhnte und ihre Augen weiteten sich. „Oh nein, es fühlt sich so an, als ob ich gerade pinkele.“

„Das ist in Ordnung“, sagte ich beruhigend. „Die Fruchtblase ist soeben geplatzt.“ Ich fing die Flüssigkeit mit Papiertüchern auf und warf diese in den Mülleimer. Dann zog ich mir sterile Handschuhe an. „Carmen, entspannen Sie bitte Ihre Beine, ich untersuche nun den Muttermund.“

„Okay“, flüsterte sie.

„Das wird sich wie ein Druck anfühlen. Bleiben Sie bitte möglichst entspannt und atmen Sie gleichmäßig weiter.“

„Okay.“

Als meine Finger den Muttermund berührten, wusste ich sofort, was los war. Sie war um die sechs Zentimeter offen, hatte einen vorzeitigen Blasensprung und einen Nabelschnurvorfall. Was das genaue Gegenteil von einer guten Lage war. Nabelschnurvorfälle waren recht selten, doch wenn sie auftraten, musste die Geburt unverzüglich eingeleitet werden. Und da Carmens Muttermund nicht vollständig geöffnet war, bedeutete das wahrscheinlich einen Kaiserschnitt.

In dem Moment betrat Dr. Cummings den Raum. „Alles in Ordnung?“

„Sechs Zentimeter. Empfängnistag unbekannt, aber die Patientin glaubt, sie müsste im achten oder neunten Monat sein. Blasensprung vor fünfundvierzig Sekunden. Nabelschnurvorfall. Ich halte den Kopf des Babys hoch. Herzschlag war bei fünfzig, hat sich inzwischen stabilisiert auf hundert, seit der Kopf nicht mehr auf der Nabelschnur liegt.“

Will sagte sofort dem OP-Team für den Kaiserschnitt Bescheid und wandte sich dann an mich. „Sicher, dass es der Kopf ist und keine Steißlage?“

„Ja. Ich kann die Fontanelle ertasten.“

„Ist alles in Ordnung? Ist mein Baby okay?“, fragte Carmen. Unter dem Stress wurde ihr Akzent noch stärker.

Ich schielte auf den Monitor, der anzeigte, dass selbst ohne den Druck des Kopfes auf die Nabelschnur der Herzschlag ständig unter die Frequenz von einhundert sackte.

„Carmen, ich bin Dr. Cummings“, stellte er sich vor. „Wir haben hier ein kleines Problem. Der Kopf des Babys drückt auf die Nabelschnur und wir müssen es so schnell wie möglich rausholen. Wir werden einen Kaiserschnitt vornehmen.“

Ihre Augen weiteten sich. „Pero … jetzt sofort?“

„Ja“, antwortete er. „Aber ich verspreche Ihnen, dass wir für Sie und ihr Baby alles tun werden, was wir können.“ Sein Blick traf meinen, und er nickte mir zu, um mir zu bedeuten, dass ich mich auf dem Bett bereitmachen sollte. „Fertig für die Fahrt, Mel?“

„Kann losgehen“, sagte ich, nachdem ich mich in eine Position begeben hatte, in der ich am wenigstens ins Wanken kommen würde, während ich den Kopf des Babys weiterhin stützen konnte. Will schob das Bett aus dem Raum.

„Glauben Sie, Sie können den Kopf so lange halten, bis ich umgezogen bin und den Kaiserschnitt vorgenommen habe?“, fragte er mich, als er das Bett in den Kreißsaal fuhr.

„Ja, kein Problem.“ Glücklicherweise war das nicht mein erster Nabelschnurvorfall.

Carmens Blick traf meinen und ich sah den blanken Horror einer machtlosen Mutter in ihren Augen.

„Sie sind in guten Händen, okay? Sie müssen nur ruhig bleiben und weiter tief atmen. Sie machen das bisher sehr gut.“

„Okay“, flüsterte sie und eine einsame Träne rann aus ihrem Augenwinkel.

„Sind Sie ganz allein hergekommen?“, fragte ich, als das Bett durch die OP-Tür rollte. Dann half uns das Team, die Kittel anzuziehen und alles vorzubereiten. Ich bekam einen Mundschutz und eine Haube übergezogen. Carmen nickte und ihr wurde ebenfalls eine Haube über die Haare gestreift.

„Sollen wir jemanden für Sie anrufen, der herkommen soll?“

Sie schüttelte den Kopf und weitere Tränen rollten über ihre Wangen. „Mein Mann ist arbeiten und hat kein Handy.“

„Das macht nichts, Carmen“, versicherte ich. Das Team half mir und Carmen auf den Geburtstisch. „Wie heißt Ihr Mann?“

„Miguel.“

„Und wo arbeitet er?“

„Bei einer Baufirma.“

„Wissen Sie, bei welcher?“

Phillips und Neiman.“

Ich sah über meine Schulter und blickte ins Gesicht der diensthabenden Schwester. „Können Sie mir den Gefallen tun, dafür zu sorgen, dass jemand diese Baufirma anruft und dem Ehemann Bescheid sagt?“

„Klar“, antwortete sie. „Wie ist der Name?“

„Miguel Dominguez.“

„Haben wir die Herztöne des Kindes?“, fragte Will und kam näher.

„Ja“, erwiderte eine der Schwestern. „Herztöne waren bei hundert.“

„Dann lasst uns anfangen“, verkündete er und stellte sich neben die Patientin. „Okay, Carmen“, sagte er hinter seinem Mundschutz und drückte Carmens Hand. „Sie werden jetzt gleich eine Medizin einatmen, die Sie schlafen lässt, damit wir die Operation schnell durchführen können.“ Der Anästhesist platzierte eine Maske auf Carmens Mund. „Einfach nur tief einatmen. Alles wird gut.“

Während Carmen langsam einschlief, bereitete Will die OP vor. Sein Blick traf auf meinen, und er nickte Richtung meiner Hand, die nach wie vor den Kopf des Babys stützte. „Können Sie es noch dreißig Sekunden länger aushalten?“

„Yep.“ Ehrlich gesagt, beim Blick in seine zuversichtlichen und stolzen Augen kam es mir so vor, als ob ich alles könnte.

Nachdem die Patientin betäubt war, ging Dr. Cummings an die Arbeit. Er vergeudete keine Zeit, machte einen Schnitt und arbeitete schnell, aber ohne Hektik. Ich hatte bereits eine Menge Ärzte Kaiserschnitte machen sehen, auch in stressigen Situationen, doch es war völlig klar, warum Will der Oberarzt auf der Gyn war. In Notfallsituationen blieb er kühl und gefasst. Niemals erhob er die Stimme gegenüber dem Team, was allein schon einen riesigen Unterschied ausmachte, denn so konnten alle anderen ebenfalls entspannt und konzentriert arbeiten.

Es brauchte eine Menge, um mich in medizinischen Angelegenheiten zu beeindrucken, besonders was Geburtshilfe betraf, aber ich konnte nicht umhin, von Will beeindruckt zu sein.

Momente später wurde der Raum von einem gesunden Babygeschrei erfüllt. Will hielt ein winziges Mädchen hoch. Die wartende Schwester nahm es ihm ab, und ich glaubte, alle im Raum atmeten erleichtert auf, als der Apgar-Test eine Neun auswies.

„Sie haben ihr das Leben gerettet, ist Ihnen das klar?“, sagte Will und sah mir in die Augen. „Sie haben dem kleinen Mädchen das Leben gerettet.“

Ich starrte ihn an.

„Sie waren echt gut, Mel“, sagte er, während er die OP beendete. „Wirklich gut.“

Ein Teil von mir war glücklich, aufgeregt und dankbar, dass ich in der Lage gewesen war, schnell zu reagieren und zu tun, was getan werden musste. Und mir wurde ganz warm von Wills Lob und Vertrauen in meine Fähigkeiten.

Aber ein anderer Teil von mir war traurig darüber, dass uns Carmen durch den Radar geglitten war. Sie hatte keine Betreuung während der Schwangerschaft gehabt. Wenn sie nicht von allein hergekommen wäre, hätte sie das Baby wahrscheinlich verloren. Das Gesundheitssystem hatte ein großes Problem. Kein Mensch, egal welcher Herkunft oder sozialer Schicht, sollte ohne ärztliche Versorgung auskommen müssen, und schon gar keine schwangere Frau. Wenn es in dieser Klinik eine Station für freie Behandlung gäbe, hätte Carmen ihre Schwangerschaftsvorsorge bekommen.

Das war etwas, worüber man nachdenken sollte. Viele Frauen in der Stadt könnten davon profitieren. Und was wäre ein besserer Ort dafür als das St. Luke’s?

Und schließlich würde es mir geben, was ich wollte.