Kapitel 20

 

Melody

 

Nach einer zwanzigminütigen Autofahrt durch einen Vorort der echt reichen Leute bog Will in die Einfahrt des Hauses seiner Schwester in New Jersey. Als der Motor aus und nur noch das Ticken des abkühlenden Autos zu hören war, schnallte ich mich ab und wollte die Tür öffnen, doch Will hielt mich auf.

„Warte“, sagte er und legte seine Finger um meinen Ellbogen. „Bist du sicher, dass du dafür bereit bist?“

Ich nahm die Hand vom Türgriff und sah ihn fragend an. „Bereit für was genau?“ Ich war neugierig zu erfahren, worauf ich an diesem Punkt noch nicht vorbereitet sein sollte. Da waren der Vagina-Händedruck, die Nippel-Show, Marlene, Melissa, die Vagina-Post, Cassie beim Mittagessen … Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es viel schlimmer werden konnte.

Er seufzte wie jemand, der besser wusste als ich, dass hinter der nächsten Ecke immer etwas noch Schlimmeres lauern konnte. „Meine Eltern werden auch da sein.“

Das war mir bekannt. Georgia hatte ihn angerufen und es ihm gesagt. Er hatte es kommentiert mit: noch eine Schicht ihrer Zwiebel der Intrigen.

„Ja, ich treffe heute deine Eltern.“ Ich machte eine Pause und suchte in seinen Augen nach einer Erklärung. „Das klingt doch ziemlich einfach.“

Er schüttelte leicht den Kopf. „Nichts ist einfach bei Dick und Savannah.“ Sein gestresstes Gesicht brachte mich zum Kichern. „Lach nicht“, sagte er, aber das kleine Grinsen auf seinen Lippen widersprach seinen Worten.

„Ich lache ja gar nicht.“

„Du lachst so was von.“

„Gut, ich lache ein bisschen, doch dein Gesichtsausdruck war nicht gerade hilfreich.“

„Welcher Gesichtsausdruck?“

„Der hier“, sagte ich und imitierte seine Augenfältchen und die zusammengepressten Lippen. „Als hättest du Verstopfungen oder würdest jeden Moment den Schalthebel auf Drive stellen und aufs Gas treten.“

Sein Ausdruck entspannte sich und er lachte leise. „Letzteres.“

„Ich lerne nur deine Eltern kennen, Will. Wie schlimm kann das werden?“

„Schlimm? Eher gefährlich.“

Ein überraschtes Lachen entkam mir. „Es sind doch keine Serienkiller.“

„Nein, aber was sie nicht an Totenzahlen schaffen, erreichen sie stattdessen mit der Einmischung in mein Liebesleben und mit unangebrachten Kommentaren über ihr eigenes Sexleben.“

„Deine Mutter ist Sextherapeutin. Es würde mich wundern, wenn sie nicht offener damit umgehen würde als die meisten Leute.“

„Ich wünschte, es wäre bloß der offene Umgang“, murmelte er.

„Komm schon, William“, sagte ich ermutigend und öffnete die Tür. „Lass uns zu deinen Eltern gehen. Gott weiß, dass es nicht schlimmer sein kann, als meine Eltern zu treffen. Ich meine, mein Vater hat dich gefragt, ob du Kondome hast, und zwar noch vor unserem ersten Date.“

Er grinste nur, und ich gab ihm keine Zeit mehr, im Auto herumzuhängen. Ich stieg aus und nahm meine Handtasche. Will folgte meinem Beispiel, schälte sich aus dem Fahrersitz und umrundete das Auto. Mit seiner Hand an meinem unteren Rücken gingen wir zur Haustür.

„Denk dran“, sagte er an der Treppe. „Ich hab dich gewarnt.“

„Ach, sei still“, erwiderte ich neckend und grinste. „Es wird schon schiefgehen.“

Er drückte auf die Klingel und nach ein paar Sekunden schwang die Tür auf und ein riesiger Mann mit einem Kleinkind auf der Hüfte erschien.

„William!“, begrüßte er Will. „Schön, dass du vorbeikommst.“

„Du weißt, dass das nicht dein Haus ist?“

„Tja, Savannah übertrug mir die Aufgabe, die Gäste zu begrüßen. Sie sagte, ich hätte das sinnlichste Lächeln, das sie je gesehen hat“, antwortete der Riese mit einem Grinsen und Zwinkern. „Und wer mag das hier sein?“, fragte er und hielt mir seine freie Hand hin.

„Thatch, das ist Melody“, stellte Will uns vor. „Melody, das ist Thatch, der beste Freund meines Schwagers. Und der kleine Kerl auf seinem Arm ist sein Sohn Ace.“

„Schön, dich kennenzulernen.“ Ich schüttelte Thatchs Hand. „Und es freut mich, dich kennenzulernen, du Süßer.“ Ich kitzelte Aces Bauch.

Er kicherte und streckte seine Ärmchen nach mir aus. „Nimm mich!“

Will und Thatch lachten in sich hinein.

„Das ist zu direkt, junger Mann“, sagte Thatch zu Ace. „Du musst es langsam mit den Ladys angehen lassen. Erst Dinner, dann knuddeln.“

„Onkel Will!“, rief eine dünne Stimme und ein kleines Mädchen kam angerannt. Ihre Zöpfe hüpften, als sie schnurstracks in Wills Arme rannte.

„Wie geht’s meinem Lieblingsmädchen?“, fragte Will und setzte sich Julia, die ich von dem Foto auf seinem Schreibtisch kannte, auf die Hüfte. Sie küsste seine Wange und Will grinste.

„Wer is‘ das?“, wollte sie wissen und sah mich an.

„Julia, das ist meine Freundin Melody“, antwortete er und lächelte in meine Richtung. „Melody, das ist meine Nichte Julia.“

„Hi, Julia“, begrüßte ich sie und zog sanft an ihrem blassrosa Kleidchen. „Das ist ein hübsches Kleid.“

„Danke“, sagte sie grinsend und sah zu Ace auf Thatchs Arm. „Ace!“, rief sie und wand sich aus Wills Armen.

Er setzte sie ab und Thatch stellte Ace auf seine winzigen Nike-Schuhe. Ace lächelte Julia an und sie erwiderte das Lächeln. Sie unterhielten sich in Kleinkindergeplapper, gackerten wie Hühner und rannten gemeinsam den Flur entlang.

„Fang dich, Lia!“, rief Ace. Julia raste weiter und kicherte dabei.

„Nur ansehen und nicht anfassen, Sohn“, riet Thatcher.

Ich konnte ein Lachen nicht zurückhalten.

„Daran wirst du dich gewöhnen“, wisperte Will in mein Ohr. „Thatch ist das komplette Gegenteil von konventionell.“

„Cassie ist seine Frau, oder?“, fragte ich leise und Will nickte. „Das ergibt Sinn.“

Cassie war auch keine gewöhnliche Frau. Sie war direkt und selbstsicher, und schon nach einer Minute wurde einem klar, dass sie ein wenig wild war. Vielleicht sogar ein bisschen durchgeknallt. Und ich war zu neunzig Prozent sicher, dass sie keinen BH getragen hatte. Nur eine bestimmte Art von Frau traute sich das.

Thatch wandte sich wieder an uns und kreuzte die Arme vor der Brust. Aber er sagte nichts, stand bloß da und grinste uns an, als kümmerte ihn nichts auf der Welt. Langsam wurde es unangenehm.

„Hast du etwas dagegen, wenn wir reingehen?“, fragte Will und grinste sarkastisch. „Du weißt schon, ins Haus meiner Schwester?“

Schließlich machte er eine Geste zum Eintreten und bellte dabei: „Dick, Savannah, Georgia! Will ist da!“

Als wir eintraten, sah ich sofort einen Hund so groß wie ein Pferd auf einem Hundekissen schlafen, daneben hatte sich eine fette, flauschige Katze eingerollt. Echt, das war das verdammt Niedlichste, was ich je gesehen hatte. „Das sind wohl beste Freunde, was?“, fragte ich Will und nickte Richtung Hundekissen.

Er schnaubte und lachte. „Sogar mehr als das.“

„Stan und Walter sind ein Pärchen“, informierte mich Thatch. „Sei vorsichtig mit Walter. Er ist ein Arschloch.“

„Ich nehme an, Walter ist der Hund.“

„Nein. Walter ist der verfluchte Dämonenkater. An deiner Stelle würde ich den Augenkontakt vermeiden und mich von seinem geliebten Stan fernhalten.“

Ich sah irritiert zu Will und er lächelte.

„Glaub mir, das ist eine lange Geschichte.“

„Und die will ich unbedingt hören.“ Das wollte ich wirklich. Man stelle sich vor, eine Deutsche Dogge und ein dämonischer Kater, die sich liebten! Wo war das Fernsehteam, wenn man eins brauchte? Das war bares Geld für eine Realityshow.

„Später“, wisperte Will, legte eine Hand auf meinen unteren Rücken und führte mich den Flur entlang. Ehe wir in dem geräumigen Wohnzimmer ankamen, bog ein fröhliches Exemplar von Mann um die Ecke. Eine kleine, hinreißende Frau klebte an seiner Seite. Beide lächelten breit, und allein an ihrem Aussehen erkannte ich, dass es Wills Eltern waren.

„Will, mein Junge! Bist du gewachsen?“, fragte sein Vater.

Ich straffte den Rücken und Wills Wangen färbten sich rot. Ich hatte ihn noch nie erröten sehen. Was war ihm so peinlich?

„Hi, Dad“, grüßte Will leise. Und dann murmelte er: „Gott helfe mir.“

„William, du siehst heute so gut aus.“ Seine Mutter küsste ihn auf beide Backen. „Ich nehme an, das ist Melody?“

„Da nimmst du richtig an“, sagte er und legte einen Arm fest um meine Schultern. „Melody, das sind meine Eltern, Dick und Savannah.“

„Sie sieht umwerfend aus, William“, lobte seine Mutter. „Lange Beine, tolles Hinterteil und ein wunderschönes Gesicht. Ist sie nicht schön, Dick?“

„Sie ist so schön, dass ich mich frage, warum sie mit unserem Sohn zusammen ist.“

Ich unterdrückte den Drang, zu kichern, und sah zu Will. Er wirkte leicht verzweifelt, doch vor allem lächelte er mich stolz an.

„Na dann, kommt rein, kommt rein …“ Savannah deutete zum Wohnzimmer, wo alle, inklusive Georgia und Cassie, gemütlich vor dem Fernseher saßen.

„Georgia“, ergriff Dick das Wort, „heb deinen trägen schwangeren Hintern und begrüße die Freundin deines Bruders.“

Georgia hob den Mittelfinger und Cassie lachte. „Georgia hat heute schlechte Laune.“

„Dick“, mischte sich Savannah ein. „Sie ist bestimmt müde von all dem Schwangerensex mit Kline. Ihre sexuelle Aura umgibt uns praktisch alle.“ Ihr Blick glitt über die versammelten Personen und sie grinste. „Das macht uns alle geil.“

„Jesus, Mom“, hauchte Will und seufzte.

„Gib dich nicht so prüde, William. So habe ich dich nicht erzogen.“

Ein irre gut aussehender Mann sprang aus seinem Sessel und hielt mir seine Hand hin. „Ich bin Kline. Georgias Mann, und Will ist mein Schwager.“

„Hi, ich bin Melody.“

„Glaub mir“, sagte Kline amüsiert. „Ich weiß sehr gut, wer du bist, nach diesem Mittagessen mit Will und den Tratschweibern.“

„Das ist eine Beleidigung!“, rief Georgia aus.

Kline grinste nur.

„Wir sind keine Tratschweiber“, fügte sie hinzu und sah Cassie an. „Hilf mir gefälligst, Cass.“

Cassie grinste und schüttelte den Kopf. „Und ob wir Tratschweiber sind. Und du bist die Schlimmste von allen.“

„Bin ich nicht!“

„Bist du doch“, sagte Thatch, setzte sich neben seine Frau, legte den Arm um sie und zog sie an sich. „Und dass du weder lügen noch ein Geheimnis bewahren kannst, selbst wenn dein Leben davon abhinge, macht es um einiges schlimmer.“

„Ich kann lügen“, widersprach Georgia und blickte durch den Raum. Als ihr niemand zustimmte, wandte sie sich an ihre Mutter. „Mom?“

„Tut mir leid, Süße, aber du bist die schlechteste Lügnerin auf der Welt.“

Dick lachte in sich hinein. „Das stimmt, Georgia. Schon als Kind warst du eine schlechte Lügnerin.“

„War ich nicht! Ich hab eine Menge vor euch verheimlicht.“

Savannah grinste. „Schatz, wir wissen sogar, dass du dein Kopfkissen besprungen hast, eine Woche nachdem du mit dem Masturbieren angefangen hast.“

„Mom!“ Georgias Wangen wurden rot.

Dick wirkte sehr amüsiert. „Das stimmt, Georgia. Deine Mutter musste sich einmal im Monat in dein Zimmer schleichen, um sicherzustellen, dass das Ding auch mal gewaschen wurde.“

Will lachte über die Beschämung seiner Schwester und sie zeigte ihm den Mittelfinger.

„Halt den Mund, Will. Jeder im Haus wusste, dass deine stundenlangen Duschen nicht allein der Körperhygiene galten.“

„Wow. Vielen Dank, Gigi.“

Sie lächelte ihn lieblich an. „Gern geschehen.“

„Wartet mal …“, sagte Cassie und sah Thatch an. „Hab ich gerade gehört, dass meine kleine Georgia ein Sex-Kissen besaß?“

Thatch grinste. „Cool, oder? Der Abend heute ist echt fantastisch.”

„Haltet sofort alle die Klappe wegen dem Kissen!“

„Wir haben es noch auf dem Dachboden zu Hause, falls jemand es sehen will“, fügte Savannah zuvorkommend hinzu.

Georgia seufzte frustriert. „Oh. Mein. Gott.“

Kline grinste und legte tröstend den Arm um die Schultern seiner Frau. Als er sie eng an sich zog und sie ihr Gesicht an seiner Brust verbarg, machte er lautlose Mundbewegungen Richtung Savannah. „Ich will das Kissen.“

Savannah zwinkerte und flüsterte stumm: „Komm morgen vorbei.“

„Oh!“, rief Cassie und stellte den Fernsehton lauter. „Es fängt gleich an.“

Will seufzte und murmelte so wenig enthusiastisch wie möglich: „Yippie.“

Als der Vorspann von The Doctor Is In! lief, setzten wir uns nebeneinander auf die Couch.

„Wir sollten gehen“, wisperte er in mein Ohr. „Wir sollten abhauen und viele Stunden nackt in meinem Bett verbringen.“

Ich grinste und schüttelte den Kopf. „Du kommst hier nicht raus, indem du mich mit Sex lockst.“

„Gott, ich liebe diese verdammte Sendung“, stellte Thatch mit einem breiten Lächeln auf den Lippen fest.

„Ich bin gespannt, ob sich Dr. Obszön in dieser Folge wieder nackt auszieht“, sagte Cassie und warf sich Popcorn in den Mund.

„Hallo? Ich bin hier“, beschwerte sich Will, aber sie ignorierte ihn.

„Oder sie zeigen ihn noch mal so, dass es aussieht, als ob er sich einen runterholen würde!“

„Man kann nur hoffen“, sagte Thatch mit dem Mund voller Brezeln, „dass Dr. Obszön heute wieder wild und unanständig wird.“

„Ich bin nach wie vor hier, Leute.“

„Yep“, entgegneten Thatch und Cassie gleichzeitig.

Die Folge fing damit an, dass Will den Flur des Krankenhauses entlang- und auf die Schwesternstation zuging, wo eine blonde Krankenschwester stand, die einen so engen Kittel trug, als wäre er an ihren Körper geklebt worden. Die Schwester hielt ihn auf.

„Dr. Cummings?“, fragte sie, klimperte mit den Wimpern und lächelte ihn verführerisch an. „Hätten Sie eine Minute Zeit?“

„Für dich, Mandy“, sagte er mit einem flirtenden Lächeln, „hab ich immer eine Minute.“

„Ohhh! Dr. Obszön wird Mandy flachlegen!“, rief Dick.

Mir wurde sofort schlecht. Es war nicht nur eine leichte Übelkeit. Nein. Ich würde jeden Moment in Klines und Georgias Wohnzimmer kübeln.

„Sie sind so süß, Dr. Cummings“, sagte Mandy und tätschelte Wills Bizeps. „Oh, waren Sie im Fitnesstraining?“

„Ihr gefallen Dr. Obszöns Muckis!“, freute sich Thatch Richtung Fernseher.

Jesus Christus. Sollte das ein verdammter Porno werden?

Noch nie hatte ich mich so unwohl gefühlt wie in diesem Moment mit Wills Familie, während ich zusah, wie er auf dem Bildschirm mit einer Schlampenschwester namens Mandy flirtete.

Was dumm war, oder? Es war nur eine blöde Realityshow, vor Monaten gefilmt. Ich hatte Will erst nach der Ausstrahlung der Pilotfolge kennengelernt. Als das gedreht wurde, hatte ich keinen Anspruch auf ihn. Er war damals Single.

Aber, verdammt noch mal, es schmerzte, das sehen zu müssen.

Was passierte bloß mit mir?

Du bist eifersüchtig.

War ich eifersüchtig? Okay. Ja. Ich war Frau genug, es zuzugeben. Ich war verflucht eifersüchtig. Will gehörte mir! Er war kein Stück Fleisch für Schlampen wie Mandy, in das sie ihre Krallen bohren konnten.

Will gehörte mir? Heilige Scheiße, hatte ich das gerade gedacht? Ich klang wie ein territoriales Weibsbild, das einen Kreis um ihren Freund pinkelte.

Ich war nicht der eifersüchtige Typ. So hatte ich noch nie empfunden, auch nicht bei Eli. Aber verdammt noch mal, jetzt hatte sich die grünäugige Göttin des Neides bemerkbar gemacht.

Ich suchte in den Untiefen meines Verstandes nach einer Antwort auf die Frage: Wieso bist du so verdammt eifersüchtig?

Es überwältigte mich, wie schnell ich auf die Antwort kam.

Weil du ihn liebst.