Will
Mel stand in der Ecke und notierte etwas in einer Akte, und ich musste gewaltsam den Blick von ihr losreißen und mich auf die Arbeit konzentrieren. Sie lenkte mich immer ab, ihre cremefarbene Haut und die auffallenden Züge zogen mich jeden Tag in den Bann, doch heute war etwas anders.
Ich konnte es nicht richtig deuten.
Gestern bei meiner Schwester war alles überraschend gut gelaufen, wenn man die Umstände bedachte, nämlich Thatch, Cassie und meine Eltern, und alle in einem Raum. Doch auf dem Weg nach Hause war Melody nachdenklich gewesen. Man will nicht, dass seine Freundin in dieser Stimmung ist. Sie hatte sogar tatsächlich zum Übernachten nach Hause zu ihren Eltern gehen wollen, anstatt bei mir zu bleiben.
Rote Fahne!
Natürlich übernachtete sie nicht jede Nacht bei mir, aber wenn ich vorgab, darum zu betteln, tat sie so, als hätte ich sie überredet und blieb. Nicht letzte Nacht. Sie sagte Dinge wie: „Ich glaube, ich gehe heute nach Hause. Ich bin müde, brauche frische Kleidung und ich würde gern ausnahmsweise mal pünktlich zur Arbeit kommen.“
Ich argumentierte, dass ich für ihre Pünktlichkeit sorgen könne, wenn sie hierbliebe, doch das lehnte sie ab. Zwar hasste sie die Luftmatratze und die Work-outs ihrer Fitness-Barbie-Mutter, ihre Ausreden schienen jedoch trotzdem glaubhaft.
Dank meines inneren Unsicherheitsmonsters hatte ich sie so oft gefragt, ob wirklich alles okay sei, dass es schon an einen Psychotherapieversuch grenzte, aber sie lächelte jedes Mal und behauptete, bloß müde zu sein.
Mir fiel nichts mehr ein, wie ich sie dazu bringen könnte, ehrlich zu mir zu sein. Mir fehlte die praktische Beziehungserfahrung, um zu wissen, was ich tun musste. Ich wusste nur, dass das Beziehungsflugzeug Steuerelemente hatte, die ich ohne Flugschein nicht bedienen konnte.
Am Ende entschied ich mich, ihr zu glauben. Das entsprach nicht dem, was Männer an Wissen über Frauen antrainiert bekamen, aber es war alles, was mir einfiel.
Es gibt zwar nicht wirklich ein Männertraining für Frauen, aber wenn man einen Vater wie Dick Cummings hat, besteht die Teenagerzeit aus langen Vorträgen über das, was Frauen glücklich und zufrieden macht. Heute wünschte ich, diese Gespräche hätten mehr beinhaltet als: „Wie finde ich den G-Punkt“.
Pech für mich, dass Melody heute immer noch in dieser Stimmung war. Ich musste es hinnehmen. Ich brauchte alle Konzentration für meine Patientinnen.
„Wir fangen mit dem Brustabtasten an. Lehnen Sie sich zurück und entspannen Sie sich“, sagte ich zu unserer Patientin und lächelte.
Sie gehorchte sofort, zog das Papierhemd zur Seite und massierte fröhlich ihre Brüste. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Melodys Augen größer wurden.
„Ich konnte nichts ertasten, aber es ist einfach auch so viel Masse da“, erwiderte Samantha Wilson. „Hoffentlich können Sie alles besser abdecken.“
Ich lächelte und schüttelte den Kopf über ihre offensichtliche Anmache. Doch es war nicht wirklich eine, sie scherzte nur. Sie war keine neue Patientin, wie dieser Tage die meisten, und ich kannte ihren Fall bereits länger. Sie hatte einiges durchgemacht, wie Brustkrebs mit sechsunddreißig vor vier Jahren, hatte sich daraufhin neue Brüste machen lassen und bei der Gelegenheit die Oberweite bekommen, die sie nach ihren eigenen Worten schon immer haben wollte.
Wir alberten stets miteinander herum, seit sie bei ihrem ersten Termin die Initiative ergriffen und mir eröffnet hatte, wie lebendig sie sich fühlte, wenn sie hemmungslos scherzen und ohne Hintergedanken flirten konnte, egal, ob es angebracht war oder nicht. Sie hatte mir nie ernst gemeinte Angebote gemacht, und ich hatte auch nie die Grenze überschritten. Ich kannte sogar ihren Ehemann Justin recht gut. Wir trafen uns ein paarmal im Jahr beim Golfen.
Das Wichtigste an unserer Patient-Arzt-Beziehung war, dass wir uns nach jeder Behandlung gut fühlten. Und das war alles, was ich von meinem Job erwartete.
„Nun ja, ich bin schließlich hier der Arzt.“
Sie lachte.
„Dann wollen wir mal schauen.“
Anmutig wie das Model von Der Preis ist heiß nahm sie die Hände von ihren Brüsten. „Bitte schön, Doc.“
Ich lächelte und fing mit dem Abtasten an, aber meine Berührungen waren nicht verspielt. Es war nicht dasselbe, wie aus Spaß mit Brüsten zu spielen, und es war auch nichts Heißes daran. Es war dasselbe Vorgehen, das ich schon tausendmal angewendet hatte. Ich konzentrierte mich auf das Gewebe, suchte nach Anzeichen für einen Rückfall. Ich sah auf und erkannte, dass Melody fast schmerzhaft das Gesicht verzog und auf meine Hände starrte. Automatisch hielt ich inne, was Samantha beunruhigte.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie ängstlich.
In meiner Miene stand ernsthafte Sorge, das wusste ich auch ohne Spiegel, aber sie galt nicht der Patientin, sondern meiner Freundin. Trotzdem zwang ich meine Konzentration wieder auf die Patientin, so wie es sein sollte.
„Ja“, beruhigte ich sie. „Entschuldigen Sie, Samantha. Fühlt sich alles gut an. Sie müssen sich keine Sorgen machen, okay?“
Ihre Erleichterung war fast greifbar.
Bis zum Ende der Untersuchung vermied ich es, Melody anzusehen, und gab mir alle Mühe, mit Samantha so sachlich wie möglich umzugehen. Der Patientin machte es nichts aus und es fühlte sich gut an, es durch einen kompletten Termin zu schaffen, ohne dass ich mir wie ein totaler Idiot vorkam.
„Ich schreibe Ihnen noch eine Überweisung für einen Ultraschall und eine Mammografie aus. Und Ihnen muss ich sicher nicht erzählen, wie wichtig es ist, diese Untersuchungen machen zu lassen. Sie sind frei, schön und eine Überlebende. Das soll auch so bleiben, okay?“
Sie nickte bestätigend und umarmte mich. „Ich weiß. Vielen Dank, dass Sie sich so um mich kümmern, Dr. Cummings.“
Ich drückte sie kurz und ließ sie los. „Das ist selbstverständlich. Bis zum nächsten Mal, Sammy. Und sagen Sie Justin, er soll mich anrufen, wenn er im Frühling am St. Luke’s Golfturnier teilnehmen will.“
„Das will er bestimmt“, sagte sie mit einem Lächeln.
Endlich fertig mit meinen medizinischen Pflichten ging ich zur Tür und sah erst dann Melody wieder an. Die Falte zwischen ihren Augenbrauen war fast verschwunden, aber sie blickte mich immer noch nicht direkt an. „Mel?“
Ruckartig hob sie den Kopf. „Ja?“
„Wenn du fertig bist, komm bitte in mein Büro.“
Sie nickte und wandte sich an Samantha, um ihr die letzten Anweisungen zu geben. „Lassen Sie sich mit dem Anziehen Zeit und kommen Sie dann zu mir nach vorn. Ich kümmere mich um Ihre Papiere und gebe Ihnen den nächsten Termin.“
Ich ging durch die Tür, als Samantha sich bedankte, und direkt in mein Büro. Ich vervollständigte die Patientenakte und wartete auf Melody. Ich hatte noch etwas anderes zu tun, wollte aber nicht von ihr erwischt werden.
Eine Minute später trat Melody ein und fragte kurz und bündig: „Überweisungen fertig?“
Normalerweise immer der Gentleman wäre ich aufgestanden und hätte ihr die Scheine in die Hand gedrückt, aber heute blieb mein Hintern auf dem Stuhl und ich hielt sie ihr hin, damit sie ganz reinkommen musste. Sie kam zu mir und griff nach den Überweisungen, aber ich ließ nicht los, obwohl sie daran zog. Sofort sah sie genervt aus, aber ihre Züge glätteten sich, als ich grinste.
„Komm zurück, wenn du ihr die Überweisungen gegeben hast, okay?“
Sie nickte kurz und ich ließ los. Sobald sie aus der Tür war, zog ich einen Zungenspatel hervor und machte mich an die Arbeit.
Ist das dein Gaumenzäpfchen, oder bist du nur froh, mich zu sehen?
Ich wusste, dass das albern war, doch es brachte sie normalerweise zum Lächeln. Ich stand auf, wedelte mit dem Spatel, damit die Tinte schneller trocknete, und steckte ihn in meine Tasche. Nach etwa zwei Minuten wurde ich hibbelig, lief um den großen Schreibtisch herum und setzte mich auf den Sessel davor. Nach weiteren zwei Minuten stellte ich mich wieder hin. Ich wartete noch zwei Minuten, aber Melody war nach wie vor nicht da. Ich ging durch den Flur und in alle Behandlungsräume, doch dort war niemand.
Vorn war Tumult zu hören, als ich näher kam, also beeilte ich mich. „Was ist hier los?“, fragte ich, nachdem ich am Empfang war, und bemerkte, dass Marlene und Melody mitten im Kampfgetümmel standen.
„Marlene ist dran mit der Mittagessensbestellung“, erklärte Betty mit einem Kopfschütteln.
Ich blickte über die Schulter und sah, dass der Wartebereich voller Patientinnen war, die auf mein Personal starrten, als würde dieses extra für ihre Unterhaltung eine Realityshow geben.
Scheiße. Ich trat vor, um das zu unterbinden. „Ladys!“
Zwei saure Gesichter wandten sich mir zu und knurrten fast dabei. Ich zuckte zurück, fing mich wieder und hielt dagegen. „Was genau ist los?“
Beth begann erneut zu reden. Ich rollte die Augen und sprach dazwischen. „Erst Melody.“
„Ich habe ein italienisches Sub-Baguette und eine Cola bestellt, und sie hat es vermasselt.“
„Ich hab gar nix vermasselt!“, widersprach Marlene laut.
„Und wie, sie hat Loadys Bestellung total vermasselt“, freute sich Melissa hinter dem Tresen.
Ich sah sie scharf an. „Melo… Mar… Melissa, das geht Sie nichts an.“ Guter Gott, fingen hier alle Namen mit M an?
Geh der Sache schnell auf den Grund, Will, ehe die Patientinnen die Handys zücken und Videos auf YouTube posten. Das Schild mit dem Handyverbot wird nicht lange Wirkung zeigen.
„Alle beruhigen sich erst mal“, sagte ich, seufzte und sah meine schöne, frustrierte Freundin an. „Okay, also was genau ist passiert?“
Sie seufzte ebenfalls, fing aber sofort an zu erklären. „Marlene hat die Bestellungen aufgenommen. Ich gab ihr zehn Dollar. Als sie zurückkam, wollte ich meine Bestellung bei ihr abholen. Das lief ungefähr so ab:
‚Hey, Marlene, kann ich mein Essen haben?‘
Sie murmelte etwas und fragte dann: ‚Was hast du bestellt?‘
‚Ein italienisches Sub-Sandwich und eine Cola.‘
Sie wühlte in der Tüte und fand nichts. ‚Das hab ich nicht.‘“
„Hatte ich auch nicht!“, rief Marlene dazwischen, aber Melody sah sie nur streng an und sprach weiter.
„Ich antwortete, dass ich das aber doch bestellt hatte. Sie wühlte noch einmal in der Tüte. ‚Ich hab einen Toast mit Gürkchen. Willst du den?‘
‚Einen Toast mit Gurken? Ich hab dir zehn Dollar für ein Sub und eine Cola gegeben.‘
Sie zuckte nur mit den Achseln und drückte mir den Toast in die Hand.
‚Aber was ist mit meinen zehn Dollar?‘
‚Tja, so ist das Leben‘, sagte sie nur.“
Melody atmete schwer. Ich sah auf ihre Hände. Toast mit Gürkchen.
Um Himmels willen lach jetzt nicht, Will. Nicht lachen, nicht lachen …
„Darf ich vielleicht auch mal etwas dazu sagen?“, warf Marlene schnippisch ein.
Ich presste die Lippen zusammen, schüttelte den Kopf und atmete tief durch, um mich zu sammeln. Als ich den Drang zu lachen unter Kontrolle hatte, konnte ich wieder sprechen.
„Nein, dürfen Sie nicht“, sagte ich zu Marlene.
Ich nahm Melody den nun triefenden und zermatschten Toast aus der Hand, warf ihn in den Mülleimer und wartete darauf, dass Melody mir in die Augen sah.
„Komm mit, ich gebe dir ein Mittagessen aus.“
Die Situation war mir ganz recht. Ich hatte schon früher einmal eine Angestellte zum Mittagessen eingeladen, sodass es ziemlich harmlos wirken musste. Und es gab mir die Gelegenheit, zwischen Melody und mir endlich reinen Tisch zu machen.
„Hol deine Sachen“, sagte ich zu ihr, während immer noch alle zusahen. Marlene fluchte leise. Ich sah sie warnend an. „Alle anderen gehen wieder an die Arbeit oder zum Essen in den Pausenraum.“
Melody stakste hölzern durch den Flur und kam mit ihrer Handtasche über der Schulter zurück.
Ich hatte meine Brieftasche bereits in der Hosentasche und lief mit ihr zum Ausgang.
Als wir zu dem kleinen Mittagsrestaurant an der Ecke gingen, breitete sich Stille zwischen uns aus. Ich bestellte ein italienisches Baguette-Sandwich für sie und ein weiteres für mich und wir setzten uns ganz hinten an einen Tisch. Fast schon in der Küche. Ich brauchte nun wirklich keine neugierigen Augen und Ohren, die meine Gespräche belauschten, um sie dann auf Instagram zu veröffentlichen. Die netten Besitzer kannten mich gut und waren so freundlich, diesen Tisch für mich frei zu halten.
Melody begann stumm zu essen.
„Also …“, fing ich an. Sie sah mich über das Sandwich hinweg an. „Was ist los mit dir?“, fragte ich.
Sie kaute schnell und legte das Sandwich dann ab. „Du hast doch gesehen, was Marlene gemacht hat. Gott, manchmal macht mich diese Frau wahnsinnig.“
„Ich hab’s gesehen, aber ich spreche von dir und mir. Du benimmst dich seltsam, Mel. Hab ich etwas falsch gemacht?“ Ich hatte ehrlich keine Ahnung.
Sie seufzte zweimal, ehe sie sich mir öffnete. „Nein. Wobei … irgendwie schon, aber nicht wirklich. Du bist einfach nur du.“
„Na, das bringt die Sache ja auf den Punkt“, scherzte ich und lächelte schief.
„In der Sendung gestern hast du viel geflirtet. Mehr als normalerweise. Und mit dieser Krankenschwester.“ Sie zuckte mit einer Schulter. „Ich nehme an, dass ich etwas eifersüchtig bin.“
Ich lachte und sie schaute mich finster an.
„Entschuldige“, sagte ich. „Es ist nur so, dass du dir keine Sorgen machen musst. Du bist die einzige Frau, die mich interessiert. Ich schwöre es.“
Sie nickte, sah aber immer noch unsicher aus. Gott, ich hasste diese Unsicherheit in ihren Augen. Ich wollte keine andere als Mel. Sie war mir so sehr unter die Haut gegangen, dass ich überhaupt keine andere Frau mehr bemerkte.
„Mel“, begann ich und war gerade dabei, Ich liebe dich zu sagen, als sie mich unterbrach.
„Ich weiß. Es ist alles gut. Es waren nur ein paar verrückte Tage. All die Patientinnen, die mit dir flirten, und dann die neue Folge. Als ob bei diesen Frauen jemand an einem Knopf gedreht hätte, seit du vor der Kamera gewichst hast. Sonst geht es mir gut, wirklich.“
„Ich hab nicht vor der Kamera gewichst, und das weißt du auch!“, verteidigte ich mich fast brüllend. Ich hatte bloß meine Schnürsenkel lockerer gebunden, verflucht noch mal. Es war erstaunlich, was ein Kamerawinkel ausmachen konnte.
Sie zog einen Schmollmund.
Da der Moment etwas zu nüchtern für eine Liebeserklärung war, griff ich in meine Tasche und holte das andere Ding heraus, das ich zu bieten hatte. Ich schob es über den Tisch zu und seufzte.
„Noch ein Zungenspatel?“, fragte sie und ein Lächeln umspielte ihren Mund.
„Sieht so aus“, sagte ich grinsend.
„Wo nimmst du die alle her? Das wird langsam unheimlich.“
„Lies einfach.“
Ich sah zu, wie sie die Beschriftung länger studierte, als es normalerweise dauerte, so wenige Worte zu lesen, und als sie mich wieder ansah, hatte ich meine Mel zurück.
„Ich weiß, dass ich mich immer freue, dich zu sehen.“
Da sind wir schon zwei.