Melody
Sanft, aber entschlossen tippten meine Finger auf der Tastatur, als ich noch ein paar Notizen zu meinem letzten Nachsorgetelefonat eintrug. Schon seit über einer Stunde war das Büro leer, und ich genoss die friedliche Stille, während ich danach die heutige Aufgabenliste durchging.
Das Event vom Wochenende war ein voller Erfolg geworden. Ich war beglückt von Stolz und meiner Bestimmung, was alles in mir ausfüllte, was noch Erfüllung brauchte. Und Will schaffte es, den allerletzten Rest zu füllen.
Doch so sehr das Event meine innere Leere behoben hatte und so gut ich mich fühlte, trieb es mich auch mehr an. Ich musste noch härter arbeiten, noch mehr Kontakt aufnehmen und noch mehr Frauen helfen.
Als ich Syreeta Johnsons Akte auf den neuesten Stand gebracht hatte, strich ich ihren Namen von der Liste der Patientinnen, die ich anrufen musste. Ehe ich zur nächsten Akte übergehen konnte, vibrierte mein Handy auf dem Tisch und ich bekam eine Nachricht von meiner Mutter.
Fitness-Janet: Bleibst du heute Nacht bei Will?
Ich: Weiß ich noch nicht. Ich bin noch im Büro. Warum?
Fitness-Janet: Nur so.
Das war etwas seltsam, aber ich hatte schon mit vierzehn gelernt, Janets Motive und Gründe nicht zu hinterfragen. Meistens wollte ich es lieber nicht wissen. Mein Pech, dass sie diese Unterhaltung anscheinend weiterführen wollte.
Fitness-Janet: Was glaubst du, wann du es wissen wirst?
Ich: Keine Ahnung, Mom. Ich bin noch dabei, Patientinnen anzurufen, bevor ich Feierabend mache.
Fitness-Janet: Also kann ich annehmen, dass eine gute Chance besteht, dass du heute bei Will bleibst?
Auch wenn es verrückt klang, es sah sehr danach aus, dass Janet mich heute los sein wollte …
Ich: Willst du, dass ich heute bei Will bleibe?
Fitness-Janet: Macht es mich zu einer schlechten Mutter, wenn ich Ja sage?
Yep. Sie wollte mich los sein. Und ich wollte mit Sicherheit nicht wissen, wieso. Traumatische Erlebnisse hatten mich gelehrt, dass es wahrscheinlich etwas mit meinem Vater ohne Hosen zu tun hatte.
Ich: Da ich neunundzwanzig Jahre alt bin, würde ich sagen: Nein.
Fitness-Janet: Okay, gut. Würdest du dann bitte beute bei Will übernachten? Ich hätte gern ein bisschen Zeit mit deinem Vater.
Ich: Klar, Mom. Ich werde bei Will schlafen.
Fitness-Janet: Hurra! Dein Vater hat einen sexy Film mitgebracht und wird sich sehr freuen, dass wir ihn ansehen können.
Igitt. Widerlich. Manchmal war es schwer, eine Mutter zu haben, die so offen war und einem einfach alles erzählte.
Ich: Gott, Mom. Lass uns diese Unterhaltung beenden, bevor sie in Bereiche führt, über die ich nichts wissen will.
Fitness-Janet: Pornografie, sexuelle Erfahrung und das sexuelle Ventil sind sehr gesund, Melody. Dafür braucht man sich nicht zu schämen.
Ich: OMG! Tschüss, Mom.
Notiz an mich selbst: So schnell wie möglich zu Hause ausziehen.
Obwohl ich sehr oft bei Will war, wollte ich doch meine eigene Wohnung haben. Wenn auch nur als Rückversicherung. Ein sicherer Unterschlupf. Ein Ort weit weg von dem Risiko, Bill und Janet beim Sex zu erwischen. Das wollte ich nun wirklich nicht sehen.
Notiz an mich selbst: Wohnungen besichtigen gehen.
Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es halb sieben war. Das Büro war jetzt wie ein Geisterhaus und ich hatte noch ein Telefonat zu erledigen. Mist. Ich musste mich beeilen, wenn ich vor sieben hier raus sein wollte.
Ich suchte nach Bethany Hylands Daten und rief sie an.
„Melody“, begrüßte sie mich mit einem Lächeln in der Stimme. „Ich hatte es im Gefühl, dass Sie mich heute anrufen würden.“
Die Freude in ihrem Tonfall ließ mich von Ohr zu Ohr grinsen. „Wie war der Termin beim Spezialisten?“
„Es lief sehr, sehr gut“, antwortete sie und ich atmete erleichtert auf.
Bethany war in der sechsundzwanzigsten Schwangerschaftswoche und beim letzten Ultraschall hatten wir einen beunruhigenden Fleck auf dem Herz des Kindes entdeckt. Wir hatten sie zu einem Spezialisten schicken müssen, aber leider reichte Bethanys Versicherung dafür nicht ganz aus. In ihrem Fall bedeutete das, entweder zu dem Spezialisten zu gehen, oder mit dem Geld etwas zu essen für die Familie zu kaufen. Nachdem ihr Mann arbeitslos geworden war, durchlebten sie harte Zeiten.
Doch nach vielen Telefonaten und mit einiger Hartnäckigkeit konnte ich Dr. Wilton überreden, den Fall kostenlos zu übernehmen. Sie war eine Ärztin, mit der Will eng zusammenarbeitete, wenn es um schwierige Fälle ging, die eine intensive Beobachtung des Kindes während der gesamten Schwangerschaft bedurften.
„Was hat Dr. Wilton gesagt?“, fragte ich, zu neugierig, um auf den Arztbericht aus ihrem Büro zu warten.
„Sie sagte, sie mache sich momentan keine Sorgen, aber sie möchte mich den Rest der Schwangerschaft weiterhin sehen“, erklärte sie. „Dr. Wilton war so nett, Melody. Ich bin sehr froh, dass Sie sie für uns gefunden haben. Manchmal frage ich mich, ob Sie ein echter Engel sind. Sie können gar nicht wissen, wie dankbar ich Ihnen für das bin, was Sie für mich und das Baby getan haben.“
Mein Herz ging auf und Tränen brannten in meinen Augen bei diesen lieben Worten. „Danke, Bethany“, sagte ich mit einem Knoten in meinem Hals. „Und ich freue mich, dass der Termin mit Dr. Wilton so gut gelaufen ist.“
„Ich mich auch.“
„Okay, ich mache jetzt Feierabend, aber wir sehen uns dann nächste Woche bei dem Termin mit Dr. Cummings.“
„Noch mal vielen Dank, Melody.“
„Gern geschehen. Einen schönen Abend.“
„Ihnen auch.“
Ich beendete den Anruf mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen. Ich schaltete den Computer aus und verließ den Empfang. Als ich meine Handtasche aus dem Schrank im Pausenraum holte, steckte ein weißer Umschlag darin. Hoffentlich der Bonus für den höllischen Göttinnentassentest. Ich öffnete ihn und fand ein Stück unbeschriebenes Papier mit einem aufgeklebten Schlüssel vor. Ich las die Notiz daneben und musste lächeln. Dann nahm ich das Handy und schrieb Will eine Nachricht.
Ich: Mir ist heute etwas Seltsames passiert.
Eine Minute später antwortete er.
Will: Was?
Ich: Während der Arbeit hat jemand eine Nachricht mit dem Schlüssel zu seiner Wohnung in meine Tasche gesteckt.
Will: Ohne Scheiß. Was stand da?
Ich: Liebste Mel, wir treffen uns in meinem Bett, nackt, um 21:00 Uhr.
Will: Das klingt doch fantastisch.
Ich: Ich wünschte, ich wüsste, wer das war. Er hat es zwar unterschrieben, aber seine Handschrift ist totaler Müll. Könnte glatt ein Arzt gewesen sein, der ein Rezept unterschreibt.
Will: LOL. Mein Mädchen hat Humor. Ich liebe das.
Sein Mädchen. Wills Mädchen. Ich fühlte mich wie ein kompletter Schwächling, weil es mir so gefiel.
Ich: Gibt’s auch Essen oder nur Sex?
Will: Ich hol uns was auf dem Weg nach Hause. Ich habe ein Meeting um 19:30 Uhr, aber das sollte nicht lange dauern.
Ich: Ich bin nur dabei, wenn du Pancakes mitbringst. Oh ja, bring Schokoladen-Pfannkuchen mit!
Will: Pfannkuchen? Zum Abendessen?
Wieso stellte er das infrage? Frühstück zum Abendessen war die beste Erfindung überhaupt.
Ich: Äh … na klar!
Will: Das ist irgendwie abgefahren.
Ich: Wirst sehen, Will, das ist das beste Abendessen, das es gibt.
Will: Okay, ich bring Pfannkuchen mit. Und du bringst deine kleine perfekte Pussy mit.
Seine Worte schickten ein Kribbeln meine Wirbelsäule hoch. Gott, ich liebte es, wenn er so schmutzig daherredete.
Ich: Deal.
Will: Und Mel?
Ich: Ja?
Will: Ich hoffe, sie ist nackt und für mich auf dem Bett gespreizt, wenn ich nach Hause komme.
Ich: Oder was?
Will: Zungenschläge.
Ich: Das ist keine Strafe.
Will: Ich hab ja nicht gesagt, dass sie im Orgasmus enden.
Hey, Moment mal! Ich wollte Orgasmen. Ich wollte viele Orgasmen von Will!
Ich: Nackt auf dem Bett. Verstanden.
Will: Bis später.
Da ich keine Lust hatte, Bill und Janet beim Filmansehen zu überraschen, war ich nach der Arbeit nicht hingefahren, um mir frische Kleidung zu holen, sondern gleich zu Wills Wohnung.
Was meine jetzige Situation erklärte. Ich lag ausgestreckt auf Wills Ledersofa, trug nur eins seiner T-Shirts und mein Höschen, sah fern und scrollte dabei durch Facebook. Ich selbst postete nicht viel in den sozialen Medien, aber es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht gern den Scheiß anderer Leute las.
Ich wischte mit dem Finger über das Display und überflog die Nachrichten über Lieblingsessen der Leute, Hochzeits-Countdowns, blablabla, und ein Eintrag erhaschte meine sofortige Aufmerksamkeit.
Patty Lister:
OMG! Wer von euch schaut gerade The Doctor Is In? Habt ihr das eben gesehen??? Wird Dr. Obszön mit Emily schlafen???
Seit der Folge bei Kline und Georgia hatte ich mir die Serie nicht mehr angesehen. Aber aus irgendeinem irrsinnigen Grund konnte ich nicht widerstehen und schaltete auf den Sender, auf dem Wills Sendung lief. Sofort erschien sein gut aussehendes Gesicht auf dem Bildschirm. Er schien recht freundlich mit einer kleinen blonden Krankenschwester umzugehen. Sie standen in einer Ecke im Krankenhausflur. Sein Arm war an der Wand abgestützt und er grinste auf sie hinab.
Himmel, dieser Mist ist immer noch zu schmerzhaft, um ihn anzusehen.
Aber ich konnte nicht aufhören. Ich konnte den Fernseher nicht abschalten. Ich konnte nicht einmal wegsehen. Sei flüsterte etwas in sein Ohr und er sah sie mit Hitze im Blick an.
Oh Gott, bitte lass das nicht schlimmer werden.
Ich war nicht sicher, ob mein Herz mehr davon aushalten würde.
Doch unglücklicherweise wurde es schlimmer. Die Kamera zeigte nun, wie Will die Schwester an die Hand nahm und sie zu dem Raum führte, wo Ärzte in Bereitschaft auf ihren Einsatz warteten. Er schob sie durch die Tür, gab ihr einen Klaps auf den Hintern, und sie kicherte, als sich die Tür hinter ihnen schloss.
Der Bildschirm wurde von einem Werbespot mit einer tanzenden Ziege übernommen, und ich wollte mich übergeben.
Ich muss aufhören, mir das anzusehen. Aufhören!
Wahrscheinlich hätte ich auf die weisen Worte meines Gehirns hören sollen. Wirklich, das hätte ich. Hatte ich aber nicht. Ich wusste nicht, ob ich ein Idiot oder ein Masochist war.
Ich blieb stumpfsinnig auf der Couch liegen und mein Blick klebte am Bildschirm. Vier Werbungen später war ich mit dem Bild der geschlossenen Tür konfrontiert, während das Mikrofon Flüstern und Kichern und das verdammte Gestöhne der zwei Leute dahinter einfing.
Mein Magen drehte sich um. Ich hörte, wie Will und eine Krankenschwester namens Emily Sex hatten.
Ich höre tatsächlich meinem Freund zu, wie er mit jemand anderem Sex hat.
Oh. Mein. Gott.
Ich kannte Emily kaum. Ich hatte nur ein- oder zweimal mit ihr gesprochen, als ich Will bei einer Geburt assistierte. Aber ich kannte Will. Ich kannte ihn so gut, dass ich sein Stöhnen auch dann erkannt hätte, wenn ich nicht die zweifelhafte Ehre gehabt hätte, zu sehen, wie er mit seiner Fickfreundin in diesen Raum gegangen war.
Das tat furchtbar weh.
Und das war eine Untertreibung. Es war schlimmer als diese Göttinnentasse, die sich vorzeitig geöffnet hatte. Das waren nur physische Qualen gewesen, aber die jetzigen waren emotionaler Natur, kamen aus tiefster Seele und waren herzzerreißend.
Wieso zum Geier hatte ich mir das angesehen?
Immer wieder hatte er mir erklärt, dass die Sendung die Dinge falsch darstellte. Er hatte zugegeben, während der Aufnahmen mit ein paar Krankenschwestern geflirtet zu haben, doch er hatte stets darauf geachtet, nicht mehr zu tun als zu flirten, sodass die Kamera keinesfalls Sachen wie Ficken daraus machen konnte.
Sogar nachdem ich ihm gesagt hatte, dass mich die Flirtparade der Patientinnen störte, hatte er sich nie geöffnet und mir Details erzählt oder mir geraten, mir die nächsten Folgen lieber nicht anzusehen. Er hatte mehr als genug Gelegenheiten gehabt, offen und ehrlich zu mir zu sein und mir zu sagen, was während der Dreharbeiten alles passiert war. Wie er war, bevor wir zusammenkamen.
Ich betrachtete die Sache nicht komplett unrealistisch. Mir war klar, dass die Sendung vor unserer Beziehung gedreht worden war. Aber ich verstand nicht, wie er vergessen konnte, mich über seine sexuellen Eskapaden mit unseren Arbeitskolleginnen zu informieren, sodass ich mir nicht wie eine Närrin vorkommen musste.
Okay, vielleicht war ich eine Närrin, weil ich mich so darüber aufregte. Ich konnte es nicht sagen. Doch egal, ob gerechtfertigt oder nicht, ich konnte meine Gefühle nicht ignorieren.
Es fühlte sich an wie bei Eli. Der Kavalier, der alles leicht abtat, obwohl darüber gesprochen werden sollte.
Will hätte mich informieren sollen. Hatte er aber nicht.
Ich versuchte, tief durchzuatmen und nachzudenken. Ich glaubte nicht, dass er vorhatte, mich zu betrügen.
Doch ich war verletzt.
Es fühlte sich genauso an wie der Mist, den mein Ex mit mir gemacht hatte. Als ich die Entscheidung getroffen hatte, mit Eli Schluss zu machen, hatte ich mir geschworen, mich nicht mehr mit Männern einzulassen, denen meine Gefühle egal waren.
Gott, was, wenn das der Grund war, dass er es nicht den Angestellten sagen wollte? Was, wenn ich wirklich bloß eine weitere Krankenhausaffäre war, zusätzlich zu denen, die er schon seit Jahren hatte? Vielleicht hatte er mir einen Gefallen damit getan, unsere Beziehung nicht öffentlich zu machen. Ich hätte öffentlich wie eine Idiotin dagestanden. Jetzt fühlte ich mich nur innerlich so.
Wie eine Motte ins Feuer fliegt, wollte mein Gehirn nun jeden Moment, den ich mit Will erlebt hatte, analysieren. Hatte ich irgendwo einen Hinweis übersehen? Eine Art rote Flagge? Innerhalb von Sekunden lieferte meine Erinnerung mir ein Bild: Will und ich in einem der Untersuchungsräume, kurz davor, Sex zu haben.
„Der Job bringt Vorteile mit sich“, hatte er mit einem Kondom in der Hand festgestellt.
Dass er über Sex bei der Arbeit so herumgealbert hatte, hatte mich überrascht und schockiert. Er hatte es bemerkt und meine unausgesprochene Frage sofort beantwortet. Er hatte mir direkt in die Augen geschaut und Noch nie gesagt.
Und dennoch saß ich nun hier und hörte Emily bei der Arbeit über seinen überdurchschnittlichen Penis stöhnen.
Verdammt! Er hatte mich belogen.
Mein Körper revoltierte bei diesem Gedanken. Mein Magen zog sich zusammen, mein Herz schmerzte und meine Augen füllten sich mit Tränen. Warum konnte er nicht ehrlich zu mir sein?
Es war erstaunlich, wie schnell Zweifel aufkommen konnten und sofort das Vertrauen in jemanden infrage gestellt wurde.
Verfluchter Mist, ich hasste diese Gefühle. Ich hatte mich geirrt, es war nicht wie bei Eli. Es war eine Million Mal schlimmer.
In diesem Moment wollte ich nicht in Wills Nähe sein. Ich wollte nicht da sein, wenn er nach Hause kam, und ich wollte auch kein langes, ermüdendes Gespräch, in dem er sich anstrengte, die Situation zu klären, bis ich am Ende die Schuld auf mich nahm. Ich wollte überall sein, nur nicht bei Will.
Ich sprang von der Couch auf, zog die Praxiskleidung und die Schuhe wieder an, schnappte mir meine Tasche und verließ die Wohnung. Da ich nicht zu Bill und Janet konnte, war ich fünf Minuten später in einem Taxi und fuhr zum Hyatt Regency Hotel. Als ich in einem der Zimmer war, schickte ich Will eine kurze Nachricht, dass ich nicht da sein würde, und schaltete erst mal das Handy stumm.
Ich: Janet hat angerufen. Sie braucht mich. Ich bin heute nicht bei dir.
Die Lüge hinterließ einen bitteren Nachgeschmack auf meiner Zunge, aber es war mir egal. Ich hatte sowieso keinen Appetit. Scheiß auf Will und seine beschissenen Pfannkuchen.