Kapitel 29

 

Melody

 

Die Nacht in einem Hotel zu verbringen machte Spaß und war eine nette kleine Atempause vom wahren Leben. Zumindest, wenn man im Urlaub war. Doch nicht, nachdem man zusammen mit weiß Gott wie vielen Fernsehzuschauern gesehen oder hauptsächlich gehört hatte, wie der Freund auf seinem Fernseher, in seiner Wohnung eine Kollegin vögelte … Das war furchtbar.

 Ich hatte mich die ganze Nacht herumgewälzt, und als ich endlich eingeschlafen war, hatte ich ein Gemisch aus Szenen aus The Doctor Is In geträumt. Meine Fantasie hatte es wild mit mir getrieben, und ich war hellwach und wollte den Albträumen entfliehen, noch ehe der Handywecker losging.

Was erklärte, wieso ich ausnahmsweise einmal pünktlich bei der Arbeit war.

Mit verschlafenen Augen und wie betäubt von zu vielen Emotionen innerhalb von zwölf Stunden schlurfte ich ins Büro, nachdem ich mir schnell bei meinen Eltern frische Sachen geholt hatte und bei Starbucks einen dreifachen Espresso. Weil ich todmüde war, hatte ich überlegt, vier Espressi zu nehmen, aber ich war nicht sicher, ob mein Herz den zusätzlichen Stress vertragen würde. Es war gestern Abend schon genug gebeutelt worden.

Ich stellte meine Handtasche in den Schrank und konzentrierte mich darauf, alles für einen Tag voller Termine vorzubereiten. Doch während ich die Untersuchungsräume mit frischen Papierlagen und den medizinischen Instrumenten ausstattete, konnte ich meine rasenden Gedanken nicht beruhigen. Ich musste immer wieder an die Sendung denken. Und an Wills Geräusche hinter der Tür. Und daran, wie leicht er mich hatte belügen können. Noch nie, hatte er ohne zu zögern gesagt.

Als um 9:00 Uhr alle außer Will da waren, wusste ich nicht mehr, wie lange ich mich zusammenreißen konnte. Wie lange ich im Büro bleiben konnte. Ich war nicht mal sicher, meinen Job erledigen zu können, einen Job, den ich eigentlich gar nicht wollte. Seit einem Monat oder so kämpfte ich mit der Erkenntnis, dass ich nicht in einer Arztpraxis arbeiten wollte. Natürlich genoss ich den Kontakt mit den Schwangeren, doch tief in mir wollte ich mich um die Frauen kümmern, die wirklich Hilfe brauchten. Frauen wie Carmen und Syreeta und Bethany und … Es war eine endlose Liste, und das nur hier in New York. Aber ich blieb wegen Will. Ich liebte es, ihn den ganzen Tag zu sehen und mich unter seinen stetigen Bestätigungen selbst weiterzuentwickeln.

Nun … das war ja jetzt wahrhaftig vorbei.

Oder nicht? Jemand möge mir helfen. Ich hasse es, mich so zu fühlen.

Ich fand keinen Ausweg aus meiner persönlichen Hölle.

Will trat mit seiner Aktentasche durch die Eingangstür, während ich am Computer arbeitete, und als mich der reservierte Blick aus seinen blauen Augen traf, rasten alle Emotionen durch mich hindurch. Wut, Traurigkeit, Liebeskummer. Es fühlte sich an, als ob mir der Boden unter den Füßen wegsackte.

Gott, allein sein Anblick schmerzte wie ein Messer in meinem bereits verletzten Herz.

Schnell wandte ich den Blick ab und versuchte, mich auf den Bildschirm zu konzentrieren, doch er gab mir keine Gnadenfrist. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, dass er auf mich zukam, bis er neben mir stand.

„Mel?“, fragte er leise mit Besorgnis in der Stimme.

„Ja?“, antwortete ich, hatte aber nicht genug Kraft, ihm in die Augen zu sehen.

„Ich hab dich gestern vermisst“, wisperte er.

„Tut mir leid“, murmelte ich und suchte nach einer schnellen Ausrede, dieses Gespräch zu beenden, sonst würde ich anfangen zu heulen. „Ich musste … äh … Janet helfen … und es ist spät geworden.“

„Scheiße. Geht es ihr gut?“

„Äh, ja, alles in Ordnung.“ Mir war klar, dass diese Szene hier meine Schuld war, weil ich ihm gestern aus dem Weg gegangen war, aber ich wollte die Sache nicht auf der Arbeit diskutieren.

„Mel“, sagte er und seine Stimme wurde unsicher. „Was ist los?“

„Nichts“, log ich und begann, Notizen in den PC einzugeben. „Ich bin nur gerade dabei, die Eintragungen zu einem Nachsorgetelefonat zu erfassen.“

Er legte eine Hand auf meine Hände und verhinderte mein Tippen. „Kannst du das kurz unterbrechen und in mein Büro kommen?“

Ich sah zu ihm hoch.

„Bitte“, sagte er mit flehenden blauen Augen, sodass ich nicht Nein sagen konnte.

Ich nickte und folgte ihm stumm in sein Büro.

Er schloss leise die Tür und stellte die Aktentasche neben seinen Schreibtisch. Dann blickte er in meine Augen, seine Brauen besorgt zusammengezogen.

„Was ist los, Mel?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Nichts.“

Alles.

Ich bekomme die Geräusche von dir und Emily nicht aus dem Kopf. Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, dass du mich im Dunkeln gelassen hast über alles, was während der Dreharbeiten passiert ist. Ich kann nicht aufhören, mich zu fragen, ob mehr dahintersteckt, dass du unseren Kollegen nichts von unserer Beziehung sagen willst. Ich kann nicht aufhören, deine Lüge wieder und wieder gedanklich durchzugehen. Ich habe Angst, dass ich mein Herz jemandem geschenkt habe, der es trotz seiner Versprechen zerstören wird.

Das war der Kern der Sache. Trotz all seiner Fehltritte glaubte ich wirklich, dass Will mich für das Beste hielt, was ihm je passiert war. Ich war nur nicht sicher, ob er auch das Beste für mich war.

„Sprich mit mir“, forderte er und runzelte die Stirn immer stärker, als ich nicht antwortete. „Melody“, seufzte er und kam mit langen Schritten schnell auf mich zu. Er zog mich in seine Arme und drückte mich fest. „Bitte sag mir, was los ist.“

Ich reagierte nicht. Ich konnte nicht. Ich stand einfach nur in seiner Umarmung, mit steifem Rücken, die Arme an meinen Seiten.

„Sag was … irgendwas“, wisperte er. „Du machst mir Angst.“

Du brichst mir das verdammte Herz!

„Ich kann das nicht“, brach es aus mir heraus.

Will starrte mich mit großen Augen an. „Was?“

Ich löste mich aus seiner Umarmung und brachte etwas Abstand zwischen uns, den ich jetzt benötigte. „Ich kann das nicht“, wiederholte ich und zeigte mit der Hand auf ihn und mich. „Ich kann das mit uns nicht.“

„Du willst nicht mit mir zusammen sein?“

„So ist es nicht.“ Ich will viel zu sehr mit dir zusammen sein. Ich würde für dich alles aufgeben, was ich je gewollt habe.

„Wie ist es dann genau?“

„Ich glaube, du bist noch nicht bereit für eine langfristige Beziehung, Will“, erklärte ich und sein Blick war irritiert. „Ich habe mir selbst versprochen, dass ich nie mehr in dieselbe Falle renne wie bei Eli.“

Das klang sogar für meine Ohren bescheuert, doch ich blieb dabei, um mich vor ihm zu schützen und ihn vor dem Chaos in meinem Kopf.

Sein Kinn klappte herunter und ein Hauch von Wut färbte seine müde Stimme. „Ich bin nicht Eli.“

„Ich weiß, aber …“

„Aber was?“, fragte er verwirrt. „Du weißt, dass ich nicht bin wie er, aber du benutzt die Fehler deines Ex trotzdem gegen mich?“

Alles, was ich so angestrengt zu verbergen versucht hatte, blubberte in mir hoch und kochte über. „Nein“, sagte ich in einem angriffslustigen Ton. „Ich benutze deinen Fehler gegen dich.“

Rage zeichnete sich auf seinen Zügen ab. „Wann hab ich einen Fehler gemacht?“

„Ich hab die letzte Folge gesehen, Will“, erhellte ich ihn und er straffte den Rücken. „Du weißt schon, die, in der du und Emily in den Bereitschaftsraum gegangen seid für ein kleines Schäferstündchen.“

„Nein, tatsächlich weiß ich das nicht. Du weißt doch, dass ich keine verfickte Ahnung hab, was die wann ausstrahlen!“

„Das hat mich auch nicht aufgeregt, Will!“, brüllte ich zurück. „Du hattest mehr als genug Gelegenheiten, mir offen und ehrlich zu erzählen, was bei den Dreharbeiten alles passiert ist“, sagte ich durch zusammengebissene Zähne. „Aber sogar nachdem ich dir gestanden hatte, dass ich mich nicht gut dabei fühle, zuzusehen, wie du mit dem weiblichen Personal flirtest und wie eine Parade flirtender Patientinnen durch das Büro marschiert, hast du mir nicht gesagt, dass du mit einer geschlafen hast.“ Ich machte eine Pause, als mir ein schrecklicher Gedanke kam. „Oder mit mehreren.“

„Jesus“, murmelte er. „Mich interessiert keine andere als du. Siehst du das nicht? Kannst du nicht sehen, dass ich dich liebe?“, fragte er und fuhr sich verzweifelt mit der Hand durchs Haar. „Ich will keine andere als dich, Melody. Du bist alles, was mich interessiert.“

„Deine Taten sprechen lauter als deine Worte, Will.“

„Was zum Geier soll das heißen?“

„Wenn du es ernst mit mir meinen würdest, hättest du an meine Gefühle gedacht und dafür gesorgt, dass ich alles von den Dreharbeiten gewusst hätte. Du hättest mich nicht im Dunkeln und von diesem Zug überfahren gelassen. Ich musste mit ansehen, wie du …“ Ein Kloß verstopfte meine Kehle bei der Erinnerung. „… wie du auf deinem verdammten Fernseher Sex mit einer anderen hattest. Ich musste alles hören. Dein Stöhnen, ihr Stöhnen, alles!“

„Gott“, wisperte er, gepeinigt vom Klang meiner Stimme. „Das tut mir so leid, Mel. Das ist …“ Er hielt inne, anscheinend fehlten ihm die Worte.

Ich sprach für ihn weiter. „… verdammt furchtbar.“

„Aber Mel, ich wusste nicht, dass sie das gefilmt haben. Natürlich hätte ich es dir sonst gesagt …“

„Und weißt du, was am schlimmsten ist?“, fragte ich und schnitt ihm die Worte ab, die eine Lüge gewesen wären. „Herauszufinden, dass die eine Person, die man liebt, so spielend leicht lügen kann.“

„Was? Wann habe ich gelogen? Wovon sprichst du?“

„Untersuchungsraum sechs, Will“, sagte ich, aber er verstand noch immer nicht. „Erinnerst du dich an den Tag, als du mich in Raum sechs gezogen hast, um Sex zu haben? Ich jedenfalls kann das nicht aus meinem Kopf kriegen.“ Ich ahmte auf schlechte Weise seine Stimme nach. „Noch nie.“

Er starrte mich an und in seinen Augen spiegelten sich eine Menge Emotionen. Traurigkeit. Reue. Angst. Doch in diesem Moment konnte ich kein bisschen Mitleid für ihn empfinden.

„Eine Beziehung braucht Offenheit“, sagte ich. Er wollte etwas sagen, doch ich hielt eine Hand hoch. „Es tut mir Leid, Will. Aber ich kann das nicht. Ich kann mit dir keine Beziehung haben.“

Ich wusste nicht, was schlimmer war: Dass Will mein Herz gebrochen hatte, oder dass ich die Beziehung zu einem Mann beenden musste, von dem ich gedacht hatte, mein ganzes Leben mit ihm verbringen zu können.

„Also … das war’s dann?“, fragte er und starrte mich an, die Augen ein Meer voller Schmerz. „Du gehst, ohne mir die Möglichkeit einer Erklärung zu geben? Du gibst einfach auf?“

Ich gebe nicht auf, ich rette mich selbst.

Aus der Beziehung mit Eli war ich ohne Narben entkommen. Aber wenn ich bei Will blieb, würde ich mit meinem Herz russisches Roulette spielen. Und ich wusste, dass er die Macht hatte, mich unendlich zu verletzen.

„Es tut mir leid, Will“, wiederholte ich, und ehe ich mir selbst den nächsten Schritt ausreden konnte, fügte ich hinzu: „Heute ist mein letzter Arbeitstag. Betrachte dies als meine offizielle Kündigung.“

Er schnappte schockiert nach Luft, und ich hatte nicht die Kraft, ihm in die Augen zu sehen. Ohne ein weiteres Wort sah ich zu Boden und verließ das Büro.

Fünfzehn Minuten später saß ich in der U-Bahn, fuhr zu meinen Eltern, war ohne Job, ohne Will und fühlte mich verlorener als je zuvor in meinem Leben.