Kapitel 35

 

Melody

 

Ich bin verloren ohne dich.

Gott, ich kannte das Gefühl.

Der Druck in meiner Brust bedeutete entweder, dass mein Herz Turnübungen machte, oder dass es einen Fluchtweg aus meinem Körper suchte.

Mein Herz will ihn.

Seit ich mit ihm Schluss gemacht hatte, war nichts mehr, wie es gewesen war. Ich vermisste sein Lachen, sein Lächeln und seinen Sinn für Humor, der meine Tage auf ihrer Achse immer Richtung Sonne gedreht hatte. Ich vermisste ihn, und mein Bauchgefühl sagte mir, dass alle Zeit der Welt das nicht ändern würde. Aber er hatte mich verletzt. Und zwar ziemlich tief.

„Du hast mir so wehgetan, Will“, wisperte ich.

Ein schmerzlicher Ausdruck formte seine Lippen zu einem Strich. „Ich weiß“, sagte er dann mit Bedauern in der Stimme und Reue in den Augen. „Es tut mir so leid, dass ich dich verletzt habe, Mel. Gott, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr. Der Gedanke, dass du glaubst, ich hätte etwas vor dir verheimlicht oder nicht auf deine Gefühle geachtet, bringt mich fast um. Ich will dir nichts verheimlichen. Ich will alles mit dir teilen. Mein Leben. Ich will, dass mein Leben dein Leben ist.“

„Ich verstehe es einfach nicht“, sagte ich. „Als wir uns im Untersuchungsraum unterhalten haben …“ Ich sah zu seiner Schwester. Es war mir unangenehm, dass sie bei allem zuhörte, aber sie tat ihr Bestes, in sich selbst zusammenzusinken. „Da hast du gesagt Noch nie. Dass du so etwas noch nie bei der Arbeit getan hast.“

Er seufzte. „Ich war mal anders. Jung und dumm, locker drauf“, erklärte er mit einem selbstkritischen Lächeln auf den Lippen. „Ich weiß, das klingt jetzt nicht, als ob ich der weltbeste Fang wäre, aber ich bin einfach ehrlich. An den Sex mit Emily im Bereitschaftsraum hab ich mich nicht mal mehr erinnert. Die Wahrheit ist, dass unser Stelldichein im Untersuchungszimmer nicht das erste Mal war, dass ich mit jemandem aus der Klinik zusammen war, aber es war das letzte Mal. Als ich deine Frage beantwortet habe, dachte ich nicht einmal an den Scheiß. Ich habe meinen Schwanz aus der Praxis rausgehalten, und seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, auch überall anders. Und was wir an dem Tag getan haben, habe ich nie mit einer anderen gemacht. Ich habe mit niemandem getan, was wir beide tun. Du und ich, Mel, wir machen Liebe, sogar wenn wir ficken.“

Es war nicht die blumenreiche Entschuldigung, die ich mir von Scott Eastwood erträumt hätte, aber sie klang sehr viel ehrlicher. Dennoch haftete Unsicherheit an mir wie der Blutegel, der sie war.

„Meine Vergangenheit ist meine Vergangenheit, Mel“, sagte er leise. „Ich kann sie nicht rückgängig machen. Vor dir war mein Dating-Status eine bedeutungslose Mischung aus Flirts und gelegentlichem Sex, und mehr war da nicht. Ich war nicht an längeren Beziehungen interessiert oder gar am Heiraten, wie bei dir.“

Heiraten? Er wollte mich heiraten?

Er verschränkte seine Finger mit meinen und sah mir tief in die Augen. „Es tut mir leid, dass du denken musstest, dass ich dich belüge. Und dass du diese schreckliche Serienfolge ohne Vorwarnung ansehen musstest. Ich weiß, dass es nicht dasselbe ist, aber ich hatte auch immer einen Knoten im Magen, wenn die Folgen mich wieder mit etwas anderem negativ überraschten, und kann mir daher vorstellen, wie du dich gefühlt haben musst. Aber am meisten bedauere ich, dass du gedacht haben musst, ich wäre gedankenlos mit deinen Gefühlen umgegangen und nicht besser als Dr. Obszön.“ Mit dem Daumen streichelte er meinen Handrücken. „Verzeih mir bitte, dass ich dir wehgetan habe, Mel.“

Es brauchte nur eine einfache Berührung und schon fühlte ich mich wie zu Hause angekommen. Ich betrachtete unsere verschränkten Finger und wusste es sofort: Wir gehörten zusammen. Der Drang, zu schluchzen, war fast unaufhaltsam. Gott, es kam mir vor, als ob ich bereits hundert Jahre nach seiner Berührung gehungert hätte.

Sanft drückte er meine Finger. „Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe, und vielleicht vergibst du mir nie mehr, doch ich verspreche, dass ich bloß dein Bestes will, Mel. Ich vermisse dich, aber wenn du denkst, dass du ohne mich besser dran bist, dann akzeptiere ich es. Ich tue alles, um dich nur nicht wieder zu verletzen.“

„Will“, wisperte Georgia. Überrascht sahen wir sie an. Sie holte Papiere aus ihrer Handtasche und hielt sie ihm hin. „Ich glaube, du solltest ihr das hier zeigen.“

Als er die Papiere genommen und die erste Seite überflogen hatte, lachte er kurz und humorlos. „Gigi, du bist echt verrückt. Ich habe keine Ahnung, wie du das in die Finger gekriegt hast. Das wurde erst gestern Morgen unterschrieben.“

Sie kicherte und rollte mit den Augen. „Zeig es ihr einfach.“

„Okay“, begann er, hielt inne und sah mich an. Eine Million Emotionen spiegelten sich in seinem Gesicht. Unsicherheit. Hoffnung. Entschlossenheit. Doch vor allem Liebe. „Das hier ist für dich, Mel.“ Er überreichte mir die Papiere und mein Herz stolperte vor Aufregung.

„Was ist das?“, fragte ich und betrachtete die weißen Blätter.

„Dein Traum.“

Ich sah seinen Gesichtsausdruck, aber nichts hatte sich geändert. Seine blauen Augen waren ein Meer der Liebe. Ich las die erste Seite auf der Suche nach einer Antwort.

Oh mein Gott!

Ich schnappte nach Luft, als ich die Überschrift sah.

Investorenvertrag für die Melody Marco Frauenklinik.

Mein Traum!

Sofort füllten sich meine Augen mit noch mehr Tränen und diesmal liefen sie mir über die Wangen. Ich war so damit beschäftigt gewesen, Will aus dem Weg zu gehen und nicht alle anderen Dinge, die ich wollte, aufzugeben, und in der Zwischenzeit hatte sich der clevere Hund um alles gekümmert und das hier aus dem Hut gezaubert.

Fassungslos blickte ich Will an. Dann wieder den Vertrag. Ich blätterte das ganze Dokument durch und sah, dass Kline, Thatch und Wes bei der Realisierung geholfen hatten. „Du hast das Geld für die Klinik aufgetrieben?“, fragte ich leise, wie eine Begriffsstutzige.

„Ich will, dass du glücklich bist, Mel. Selbst wenn ich nicht mit dir zusammen sein kann, will ich trotzdem das Beste für dich.“

Er tippte den Zungenspatel an, der sich immer noch in meiner geschlossenen Hand befand. Ich nahm die Papiere in die andere Hand, sodass ich den Spatel lesen konnte.

Deine Mandeln sind fast so groß wie dein Herz.

„Das ist übrigens gelogen, weißt du“, sagte er, womit er mich leicht erschreckte. „Dein Herz ist viel größer.“

Ich biss mir auf die Lippen, um gegen das Kitzeln der Tränen in meiner Nase zu kämpfen. „Das hast du für mich getan?“

Er antwortete sofort und ohne Zögern. „Ich würde alles für dich tun.“

„Himmel, Will“, wisperte ich und Emotionen schnürten mir die Kehle zu. „Das ist …“

„Du hast es verdient“, sagte er und legte einen Finger unter mein Kinn, damit ich ihn ansah. „Es ist deine Berufung, Mel. Das ist es, was du tun solltest. Und deshalb ist es auch deine Klinik.“

Will hatte nicht nur irgendwie Investoren für das gefunden, was meine Herzensangelegenheit war, sondern die Klinik sogar nach mir benannt. Das alles war fast zu viel für mich. „Wie meinst du das, meine Klinik?“

Er grinste. „Man sollte annehmen, dass die Melody-Marco-Klinik auch von Melody Marco geleitet wird.“

„Gott, Will!“ Mein Atem stotterte bei jedem Zug. „Ich hab keine Ahnung, was ich sagen soll …“

„Melody Marco, ich liebe dich“, sagte er. Mein Herz machte sich trommelnd bemerkbar. „Ich will keine andere. Nur dich. Du bist brillant und perfekt. Ich weiß ganz genau, dass ich niemals jemanden so lieben werde wie dich.“ Seine Worte berührten mein Herz und nähten langsam, aber sicher die Wunden zu. „Du bist alles für mich. Du bist die Einzige, mit der ich jeden Morgen aufwachen will, und diejenige, die ich festhalten will, wenn wir abends schlafen gehen. Wenn ich dich anschaue, sehe ich die Ewigkeit, und ich will kein Leben ohne dich.“

Ich wollte auch kein Leben ohne Will.

Ich wollte ihn. Ich wollte uns. Und ich wollte ebenfalls die Ewigkeit.

„Ich liebe dich“, wisperte ich tränenerstickt. „So, so sehr.“

„Jaaa!“, rief Georgia.

Doch Will schien sie nicht zu hören. Er nahm mich in die Arme, hob mich hoch und schlang meine Beine um seine Hüften. „Ich liebe dich auch so verdammt sehr, Melody.“

Ich rieb mein Gesicht an seinem Hals und inhalierte seinen Duft nach frischer Wäsche und Aftershave. Will. Gott, ich hatte ihn vermisst, das hier vermisst, und uns. Allein der Gedanke, mein Leben ohne ihn verbringen zu müssen, ließ mir den Atem stocken.

Ich bin endlich zu Hause.

Ich lehnte mich leicht zurück, und als mein tränenverschleierter Blick auf seinen traf, sagte er: „Also akzeptierst du die Position als Klinikchefin?“

Ich kicherte trotz der Tränen. „Ich glaube, es wäre irgendwie seltsam, wenn Melody Marco woanders arbeiten würde.“

Ein sanftes Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Diese Frauen brauchen dich, Mel.“

„Und ich brauche sie“, sagte ich und schlang die Arme fest um seinen Nacken. „Aber da ist noch etwas anderes, was ich noch dringender brauche.“

„Was?“

Fast musste ich über sein echt verwirrtes Gesicht lachen. Dann fiel mir ein, dass ich diesen Zweifel in ihm gesät hatte. Ich legte all meine Gefühle in das Wort. „Dich.“

Mit der Nase streichelte er meine und vor Freude hielt er mich noch fester. „Du liebst mich wirklich?“

Ich nickte. „Ich liebe dich.“

„Gott sei Dank“, murmelte er und seine Lippen verschmolzen mit meinen.

Der Kuss begann langsam und zärtlich, bis wir beide den Funken unserer besonderen Verbindung spürten. Wills Kuss wurde drängender, und ich erwiderte ihn fest und tief, ohne darauf zu achten, wo wir uns befanden und wer zusah.

„Ohhh!“, rief Georgia erfreut aus und klatschte in die Hände.

Ihre Stimme holte uns in die Gegenwart zurück und ich kicherte an Wills Mund.

Er sah mich an. „Ich glaube, es ist an der Zeit, hier zu verschwinden.“

„Äh … ja, bitte“, stimmte ich lachend zu.

Will lächelte.

In diesem Moment kam Kline angerannt und schlitterte durch die Tür. Mit seinen langen Fingern stoppte er sich selbst am Türrahmen. „Georgia?“, fragte er besorgt.

Will und ich sahen uns mit großen Augen an. Perfektes Timing.

Georgia lächelte. „Hi, Liebling. Weißt du, was? Ich habe endlich mal gut gelogen.“

Kline war ein intelligenter Mann und begriff schnell. Außerdem entging ihm nicht, dass Will und ich unbesorgt wirkten, was Georgia anging.

„Dann hast du also keine Wehen?“

Georgia zuckte lässig mit den Schultern.

Ich blickte Will an und verlor mich in seinem Lächeln. Georgia und Kline kamen allein zurecht. Ich wollte die Versöhnung mit Will feiern.

„Bring mich nach Hause, Will“, wisperte ich in sein Ohr. Aber das löste nicht die Spontanität aus, auf die ich gehofft hatte. Stattdessen hielt er inne und sah mich mit seinen blauen Augen ernst an.

„Du bist zu Hause, Melody.“

Ich schmolz dahin. Diese Worte waren viel schöner als alles, was ich mir hätte ausdenken können. Selbst schöner als die verruchten Nacktszenarien, die mir in den Sinn kamen …

Gott, ich liebe ihn.

Ich gab ihm einen sanften Kuss auf die Lippen und flüsterte: „Dito, Doc.“