6. KAPITEL

Eingehüllt in einen Morgenmantel, den Natasha an einem Haken hängend gefunden hatte, trat sie aus dem Bad. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Erst nach einer Ewigkeit hatte sie genügend Mut gesammelt, um ihren Zufluchtsort zu verlassen.

Es dauerte einen Moment, bis sie erkannte, dass sie sich vollkommen umsonst gequält hatte, denn Leo war nicht mehr da. Das Bett war frisch bezogen worden, sodass es den Eindruck erweckte, es sei nie benutzt worden. Sogar ihre Kleider waren ordentlich über den Sessel gelegt worden.

War Bernice gekommen und hatte sauber gemacht? Die bloße Vorstellung ließ sie vor Verlegenheit erröten. Natasha wandte den Blick vom Bett ab und schaute sich suchend nach ihrer Reisetasche um.

Sie wünschte, jemand hätte ihr gesagt, dass sie sich nach ihrem ersten Mal so fühlen würde. Angespannt und gereizt und furchtbar unsicher.

Plötzlich wurde die Schlafzimmertür geöffnet. Natasha wirbelte herum und erwartete fast, Bernice oder eine der anderen Angestellten zu sehen. Doch es war Leo.

Er war vollständig bekleidet. Die Art und Weise, wie er seinen Blick über ihren Körper wandern ließ, verwandelte ihre Verlegenheit in etwas ganz anderes.

Leise schloss er die Tür hinter sich und schlenderte wie ein Krieger auf sie zu, der eine zweite Runde von diesem unglaublichen Sex mit seiner Frau verlangte. Je näher er kam, desto unruhiger wurde sie. Wie konnte er nur so entspannt lächeln, als sei alles in seiner Welt absolut perfekt? Fühlte er sich denn nie unbehaglich oder nervös oder auch nur schüchtern?

Nicht dieser Mann, entschied sie und erschauerte innerlich, als er unmittelbar vor ihr stehen blieb. Seine Ausstrahlung war von so eindringlicher Intensität, dass sie unwillkürlich die Hand hob und den Kragen des Morgenmantels enger zusammenzog.

„Dein Haar ist nass“, sagte er und fuhr mit einer Hand über ihren Kopf.

„Deine ultramoderne Dusche besitzt einen eigenen Willen“, entgegnete sie. Nachdem sie den Hebel betätigt hatte, waren aus allen Richtungen Wasserstrahlen auf ihren Körper geprasselt.

„Ich hole dir einen Fön“, murmelte er und streichelte ihre noch immer gerötete Wange. „Aber um die Wahrheit zu sagen, du siehst sehr bezaubernd aus. Und wenn ich der Ansicht wäre, du könntest mehr von mir ertragen, würde ich dich sofort wieder ins Bett tragen.“

Natasha schüttelte seine Hand ab. „Das würde ich nicht zulassen.“

„Vielleicht“, erwiderte er sanft, „könnte ich dich einfach verführen, meine Schöne.“ Er neigte den Kopf, um einen zärtlichen Kuss zu stehlen.

„Aber du hast Glück, im Moment sterbe ich vor Hunger. Zieh dir etwas Bequemes an, während ich dusche. Dann essen wir.“

Zielgerichtet schlenderte er ins Bad. Arrogant … arrogant … arrogant! dachte Natasha. Wütend griff sie nach ihrer Reisetasche und warf sie aufs Bett. Sie hatte keine Ahnung, was sie in ihrer Hektik eigentlich eingepackt hatte. Zuoberst kamen ein altes Paar Jeans und ein blassgrünes T-Shirt zum Vorschein.

Wunderbar, überlegte sie und betrachtete die beiden unscheinbaren Kleidungsstücke. Gleich darauf fand sie ein normales Höschen – Gott sei Dank keinen weiteren Tanga! Darunter kam ein Kostüm zum Vorschein, dem Blauen nicht unähnlich, das sie den ganzen Tag über getragen hatte. Nur war dieses von einer sehr langweiligen Farbe, irgendetwas zwischen Creme und Beige. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, es gekauft zu haben.

Oder vielleicht entwickelte die neue Natasha, die gerade ihre Jungfräulichkeit an einen arroganten Griechen verloren hatte, einen neuen Geschmack. Zumindest fühlte sie sich verändert. An all seinen geheimen Plätzen schien ihr Körper zum Leben erwacht zu sein. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, durchlief sie ein seltsames Prickeln.

Auch Make-up hatte sie nicht eingepackt. Keinen Kamm, keine Bürste. Sie zog ein paar wirklich fade Röcke aus der Tasche, dann einige extrem unaufregende Tops. Zuunterst fand sie noch einen schwarzen Rock aus einem fließenden knitterfreien Material und ein schwarzes, aus Seide gehäkeltes Top.

Nur ein Paar Schuhe und kein zweiter BH. Seufzend blickte sie zu dem Sessel hinüber, auf dem ihre Kleider lagen. Dann würde sie eben den Satin-BH wieder anziehen müssen.

In diesem Augenblick spazierte Leo aus dem Badezimmer. Abgesehen von dem Handtuch, das er um seine Hüften geschlungen hatte, war er nackt. Vereinzelte Wassertröpfchen schimmerten noch in den schwarzen Haaren auf seiner Brust. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie den Blick tiefer wandern ließ. Der flache muskulöse Bauch faszinierte sie, sie konnte einfach nicht aufhören, ihn anzusehen.

Unvermittelt stieg heißes Verlangen in ihr auf. Endlich wusste sie, was das Prickeln zu bedeuten hatte, dass sie seit geraumer Zeit verspürte. Sehnsucht nach mehr.

Oh, verflixt, ich will ihn so sehr, schoss es ihr durch den Kopf, als er immer näher kam. Erst als er vor ihr stehen blieb, hob sie den Blick und schaute in seine dunklen funkelnden Augen. Es ist, als würde man ertrinken, dachte sie benommen. Denn seine zu schmalen Schlitzen verengten Augen besagten nichts anderes, als dass er die Reaktionen ihres Körpers richtig deutete.

„Ich habe mein Make-up vergessen“, sprudelte es in ihrer Panik aus ihr heraus.

„Für das Dinner allein mit mir brauchst du kein Make-up“, erwiderte er gleichgültig.

Natasha zwang sich, den Blick endlich abzuwenden und stattdessen das Chaos anzuschauen, das sie auf dem Bett angerichtet hatte. „Aber selbst für das Abendessen habe ich nichts anzuziehen.“

Er folgte nur ihrem Blick. „Trag das cremefarbene Kostüm“, schlug er vor.

„Ich hasse es.“

Stirnrunzelnd sah er sie an. „Natasha, was …?“

„Was ziehst du denn an?“, hörte sie sich fragen und hielt dann erschrocken den Atem an. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie einem Mann eine so dumme Frage gestellt. Sein Blick verfinsterte sich. Fast meinte sie, fühlen zu können, wie er über eine Antwort nachdachte. Am liebsten hätte sie die Frage zurückgenommen. Und noch mehr wünschte sie, sie wäre überhaupt nicht hier!

„Hör zu, Leo, ich …“

Doch es war zu spät. Leo gab ihr schon die völlig unerwartete Antwort auf ihr Problem. Er löste das Handtuch von seinen Hüften. „Ziehen wir gar nichts an.“

Die Ungeheuerlichkeit dieses Vorschlags raubte Natasha die Sprache. Dafür breitete sich rasend schnell glühende Hitze in ihrem Körper aus. Sie versuchte zu sprechen. Sie versuchte zu schlucken. Sie versuchte aufzuhören, ihn anzusehen. Nichts davon gelang ihr. Sie versuchte zurückzuweichen, als er die Hand nach ihr ausstreckte, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht.

Er griff nach ihrer Hand, mit der sie immer noch den Kragen des Morgenmantels gegen ihre Brust presste.

„Leo, nein …“, protestierte sie. Ihr Herz klopfte wild, weil sie genau wusste, was als Nächstes kommen würde.

„Leo … ja“, korrigierte er.

Zwei Sekunden später lag der Morgenmantel auf dem Boden. Frisch geduschte Haut schmiegte sich an frisch geduschte Haut. Ihre Brüste pressten sich gegen seinen Oberkörper. Die Knospen richteten sich auf. Natashas Welt begann, sich um die eigene Achse zu drehen, als Leo ihre Lippen aufreizend langsam küsste.

Wie immer, wenn er sie berührte, wollte sie nun nicht mehr, dass er aufhörte. Stattdessen überließ sie sich ihrer eigenen Sehnsucht. Mit den Händen streichelte sie über seine Arme, drängte sich enger an ihn und freute sich, die Beweise seines Verlangens an ihrem Bauch zu spüren.

Ihr Verstand schaltete sich aus. Nur ihre sinnliche Wahrnehmung funktionierte noch. Voller Leidenschaft erwiderte sie seine feurigen Küsse.

Plötzlich wurde die Schlafzimmertür mit solcher Wucht aufgestoßen, dass sie mit lautem Krachen gegen die Wand knallte. Natasha riss die Augen auf. Leo hatte sich bereits umgedreht.

Auf der Türschwelle stand eine Frau. Groß, schlank und atemberaubend schön. Sie trug ein dramatisch kurzes Kleid aus rotem Satin. Ihre blitzenden Augen waren fest auf Leo gerichtet, ihr hübsches Gesicht kalkweiß.

„Gianna“, begrüßte er sie. „Wie schön, dass du vorbeikommst, aber wie du siehst, bin ich gerade beschäftigt.“

Seine Worte ließen Natasha zu Eis erstarren. Seine Frau, seine Exfrau, hingegen überschüttete sie mit einem Wortschwall auf Griechisch. Leo sagte nichts, solange die Tirade andauerte. Sein Atem ging ganz gleichmäßig. Er stand einfach ruhig da, hielt Natasha eng an sich gedrückt, als wolle er ihre Nacktheit hinter seiner eigenen verbergen.

Es war grauenhaft. Natasha wünschte, sie könne in ein Loch im Boden versinken. Es war so offensichtlich demütigend, dass Gianna glaubte, sie besäße jedes Recht der Welt, Leo anzuschreien. Die Erinnerung an die furchtbare Situation, als sie Rico mit ihrer Schwester auf dem Schreibtisch ertappt hatte, wurde wieder wach. Natasha erschauerte vor Scham.

Leo spürte ihr Zittern. Mit einer anmutigen Bewegung beugte er sich vor und hob ihren Morgenmantel vom Boden auf. Behutsam legte er ihn ihr um die Schultern. „Halt jetzt den Mund, Gianna“, befahl er. „Du klingst wie eine quakende Ente.“

Zu Natashas Überraschung hörte das Geschrei auf. „Du solltest heute bei Boschetto’s sein“, wechselte Gianna ins Englische. „Ich habe gewartet und gewartet. Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe, als du nicht gekommen bist?“

„Wir waren nicht verabredet“, entgegnete Leo, beugte sich ein zweites Mal vor und hob sein Handtuch auf, das er wieder um seine Hüften schlang. „Keine Ahnung, wie du dich gefühlt hast. Es ist auf jeden Fall deine eigene Schuld.“

„Du wurdest erwartet …“

„Nicht von dir“, berichtigte Leo. „Lass mich dir helfen …“

Während Natasha noch mit den Ärmeln des Morgenmantels kämpfte, fasste Leo schon das Schulterteil und hielt ihn ihr schützend hin.

„Ich kann das alleine“, fauchte sie ihn an und schob seine Hände beiseite.

Ihre Worte erregten Giannas Aufmerksamkeit. Natasha spürte, wie die andere Frau sie mit einem vernichtenden Blick musterte.

„Stehst du jetzt auf klein und dick?“, fragte sie Leo.

Dick? Innerlich tobte Natasha vor Entrüstung. Sie zog jedoch nur wortlos den Morgenmantel enger um ihren Körper mit der doch wohl mehr als akzeptablen Größe 40.

„Viel mehr, als auf dürre Flittchen mit einem liederlichen Herzen“, erwiderte Leo und streichelte Natashas Wange, als wolle er sich für die Beleidigungen seiner Exfrau entschuldigen. „Jetzt benimm dich, Gianna, oder ich muss Rasmus bitten, dich hinauszubegleiten. Dabei fällt mir ein“, fuhr er interessiert fort, „wie bist du eigentlich ins Haus gekommen?“

Natasha wagte einen Blick auf Gianna. Wie eine zornige Hexe stand sie dort, die Arme vor dem schlanken Körper verschränkt. Sie musste ungefähr einen Meter achtzig groß sein. Und die Art und Weise, wie das Satinkleid ihren Körper umschmeichelte, sagte alles über den Unterschied zwischen den beiden Frauen.

„Also, wer ist sie?“, fragte Gianna schnippisch. „Ein weiterer Versuch, einen Ersatz für mich zu finden?“

Natasha zuckte zusammen.

„Niemand könnte dich jemals ersetzen, mein süßer Engel“, sagte Leo spöttisch. Dann wandte er sich an Natasha. „Ich möchte mich in aller Form bei dir entschuldigen, agape mou“, murmelte er sanft. „Darf ich dir meine Exfrau Gianna vorstellen?“

„Ich bin nicht deine Ex!“, schrie Gianna mit schriller Stimme.

„Gianna“, übertönte er ihren Protest. „Nichts auf der Welt hat mir je größeres Vergnügen bereitet, als dir meine zukünftige Frau Natasha vorzustellen.“

Gab es eine nonchalantere Art, eine Bombe von solchen Ausmaßen platzen zu lassen? Natasha blickte in Leos Gesicht. Hätte er sie nicht festgehalten, sie wäre vor Schock gefallen.

Die wunderschöne Gianna wurde kreidebleich. „Nein“, flüsterte sie. „Du liebst doch mich.“

„Vor langer Zeit warst du meine Liebe wert, Gianna. Aber jetzt …?“ Er zuckte vielsagend die Schultern. Dann beging er die in Giannas Augen ultimative Sünde, indem er den Kopf neigte und Natashas vor Überraschung leicht geöffneten Mund küsste.

Das war zu viel für Gianna. Mordlust lag in ihrem Blick, als sie sich wild um sich schlagend auf Natasha stürzen wollte, die erschrocken hinter Leos Rücken Deckung suchte. Leo stieß einen griechischen Fluch aus und nahm Giannas Wut auf sich.

Fassungslos beobachtete Natasha die Szene. Unverständliche Worte schreiend, schlug Gianna auf Leo ein. Der wiederum versuchte, ihre Handgelenke zu ergreifen, damit sie mit ihren Fingernägeln nicht sein Gesicht zerkratzte.

Schließlich sagte er, an Natasha gewandt: „Entschuldige uns“, und zog seine kreischende Exfrau aus dem Zimmer.

Kaum war Leo durch die Tür, trat Rasmus aus dem Aufzug. Leo warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Der Leibwächter erbleichte. „Es tut mir leid, Leo“, sagte er. „Ich weiß auch nicht …“

„Schaffen Sie sie hier raus“, erwiderte Leo. „Fahren Sie sie nach Hause und sorgen Sie dafür, dass sie wieder nüchtern wird.“

Gianna hatte unterdessen aufgehört, zu kreischen und um sich zu schlagen. Stattdessen barg sie jetzt ihr Gesicht an Leos Brust und weinte herzzerreißend. Verachtung stieg in Leo auf, während es der Kraft beider Männer bedurfte, ihren Griff zu lösen und sie in den Aufzug zu verfrachten.

„Ich weiß nicht, wie sie ins Haus gelangt ist“, sagte Rasmus hilflos.

„Aber Sie werden es herausfinden“, wies Leo ihn an. „Und sobald Sie wissen, wer von Ihren Angestellten sie als Gegenleistung für Sex aufs Grundstück gelassen hat, kümmern Sie sich darum, dass es nie wieder passiert.“ Dann drückte er auf den Knopf, und die Lifttüren schlossen sich.

Allein im Flur, legte er eine Hand in den Nacken. Die Anruferin, die ihn bei seiner Ankunft hatte sprechen wollen, war Gianna gewesen. Und er hatte ihr gesagt, sie solle ihn gefälligst in Ruhe lassen.

Dass sie in sein Schlafzimmer geplatzt war, hatte sie sorgfältig geplant. Auch ihr wütendes Kreischen war ein abgekartetes Spiel. Und die Tatsache, dass sie mit irgendeinem von seinen Angestellten schlief, um ins Haus zu kommen, war nur ein weiterer Teil ihrer verdrehten Persönlichkeit.

„Theos“, murmelte er und blieb vor der geschlossenen Schlafzimmertür stehen. Dass er unterdessen das Handtuch verloren hatte, störte ihn nicht. Leo atmete noch einmal tief durch, dann öffnete er die Tür.

Natasha trug wieder ihr blaues Kostüm. Gerade war sie damit beschäftigt, ihre Sachen zurück in die Reisetasche zu stopfen.

„Veranstalte jetzt bitte keine hysterische Szene“, sagte er mürrisch und schloss die Tür.

Seine Stimme sandte einen Schauer über Natashas Rücken. „Ich bin nicht hysterisch“, erwiderte sie sehr ruhig.

„Und wie würdest du dann die Art und Weise nennen, wie du diese Tasche packst?“

Der Grad seiner Wut schockierte selbst Leo. Natasha wirbelte zu ihm herum. Miss Steif und Prüde war zurückgekehrt. Und sie sann auf Rache, was Leo über die Maßen erregend fand.

Sie sah, was in ihm vorging. „Kann es sein, dass du mich mit ihr verwechselst?“, fragte sie sarkastisch. Ihre Augen blickten eiskalt.

„Tut mir leid“, murmelte Leo, wobei er nicht sicher wusste, wofür er sich überhaupt entschuldigte. Dafür, dass er sie angeherrscht hatte oder seine unkontrollierte Reaktion darauf.

Sie wandte ihm wieder den Rücken zu und setzte ihre Packaktion fort. Die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst, ging Leo auf den großen Wandschrank zu, öffnete eine der glänzend weißen Türen und nahm eine Jeans heraus.

„Gianna ist verrückt“, erklärte er.

„Auftritt der wunderschönen verrückten Ehefrau, Abgang der kleinen fetten anderen Frau.“

„Exfrau“, korrigierte er.

„Erzähl ihr das mal.“

„Das tue ich. Andauernd. Wie du selbst mitbekommen hast, weigert sie sich, mir zuzuhören. Und du gehst nirgendwohin, Natasha, also hör endlich mit der Packerei auf.“

Natasha richtete sich auf und verlor prompt den Faden. Nur mit Jeans bekleidet, der Oberkörper nackt, kam er ihr wie ein ganz neuer Mann vor. Ihr Herzschlag schien einen Moment auszusetzen, ihre Atmung beschleunigte sich. Er wirkte so überwältigend männlich, es kostete sie viel Kraft, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren.

„Und du dachtest, sie würde dir vielleicht eher zuhören, wenn du ihr diese infame Lüge über deine zukünftige Ehefrau auftischst?“

„Das war keine Lüge.“

„Doch, war es“, konterte sie. „Ich würde dich nicht heiraten, selbst wenn mein Leben davon abhinge.“

„Du meinst, du bist bloß hier, um mit mir Sex zu haben?“ Die ironischen Worte waren schneller gesprochen, als Leo sich zurückhalten konnte.

„Ersatz für sie!“, fauchte sie ihn an. „Aber selbst das nicht mehr“, fügte sie hinzu, riss endlich den Blick von ihm los und zerrte am Reißverschluss ihrer Tasche.

Leo lehnte sich mit dem Rücken gegen die Schranktür und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann war ich wohl nur ein schäbiger One-Night-Stand?“

„Sehr schäbig“, bestätigte sie. „Jemand bewahre mich vor den Superreichen. Alles, was sie tun, ist so schäbig, es macht mich ganz krank.“

„Beziehst du dich damit auf mich, Gianna oder Rico?“

„Auf euch alle drei“, sagte Natasha und suchte das Zimmer nach ihrer Handtasche ab. Das gute Stück war nirgends zu entdecken.

„Hast du etwas Wertvolles verloren?“, fragte er mit seiner samtigen Stimme. „Deine Jungfräulichkeit zum Beispiel?“

Genauso gut hätte er sie ins Gesicht schlagen können. Natasha atmete scharf ein. „Gerade ist mir wieder eingefallen, warum ich dich nicht ausstehen kann.“

Er zuckte nur die Schultern. Der bronzefarbene Oberkörper zeichnete sich deutlich vor der glänzend weißen Oberfläche der Schranktüren ab. Er sieht aus wie ein Modell, das für eines der großen Modemagazine posiert, schoss es Natasha durch den Kopf.

Er strahlte eine so unverhohlene Sexualität aus, dass es ihr schwerfiel, den Blick länger als zehn Sekunden von ihm abzuwenden. Und diese Jeans sollten verboten werden!

Wie hatte sie jemals denken können, dass Rico attraktiver sei als er? Wenn Rico jetzt ins Zimmer kam, würde sie ihn nicht einmal wahrnehmen!

Was, dachte sie verzweifelt, passiert nur mit mir? In weniger als einem Tag hatte sich ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt.

Und die Art und Weise, wie er dort gegen den Schrank lehnte und sie so nachdenklich anschaute, war einfach nicht richtig – als überlege er, zu ihr zu schlendern und ihr unmissverständlich zu zeigen, wie diese neue Welt funktionierte!

Ein Gefühl, das Natasha ganz und gar nicht empfinden wollte, breitete sich in ihr aus. Sie musste ganz dringend hier weg.

„Hast du meine Handtasche gesehen?“

„Wofür brauchst du die?“

„Ich möchte jetzt gehen.“

„Und wie?“

„Per Taxi!“

„Besitzt du denn Geld, um den Fahrer zu bezahlen? Hast du ein Handy, um ein Taxi zu rufen? Sprichst du auch nur ein Wort Griechisch, agape mou? Weißt du überhaupt, wo du dich befindest, sodass du dem Fahrer sagen kannst, wo er dich abholen soll?“

„D … du hast mein Handy“, erinnerte sie ihn und hasste sich für das verräterische Zittern in ihrer Stimme.

Er zuckte nur die Schultern. „Ich muss es verlegt haben, wie du deine Handtasche.“

Natasha entschied, dass die einzige sinnvolle Art, mit ihm umzugehen, darin bestand, ihn zu ignorieren. Kommentarlos begab sie sich auf die Suche nach der Tasche.

Während Leo sie aus schmalen Augen beobachtete, dachte er unwillkürlich, dass es keinen größeren Unterschied zwischen Natashas kühler Würde und Giannas unbesonnener Hemmungslosigkeit geben konnte. Gianna umklammerte ihn wie eine Schlingpflanze, und diese Frau packte ihre Koffer, um ihn zu verlassen!

„Sag mir, Natasha“, fragte er düster, „warum bist du so erpicht darauf zu gehen, wenn du doch noch vor zehn Minuten drauf und dran warst, mit mir ins Bett zu fallen?“

„Deine Frau ist hier hereingeplatzt“, murmelte sie und hob das Kissen auf dem Sessel hoch. Vielleicht hatte sich die Handtasche darunter versteckt.

„Exfrau. Und …?“

„Möglicherweise birgt ihr Anspruch auf dich eine gewisse Rechtfertigung.“

„Zum Beispiel …?“ Jede Spur des spöttischen Untertons, den er zu Beginn des Gesprächs gebraucht hatte, war jetzt aus seiner Stimme verschwunden.

„Es ist allein deine Sache, wie du dein Leben führst.“ In letzter Sekunde entschied sie sich für den feigen Ausweg und vermied die Fragen, die ihr wirklich zusetzten. Natasha warf das Kissen zurück auf den Sessel. Hier war ihre Handtasche nicht.

Schlief er immer noch mit seiner Exfrau, wenn ihm danach war? Besaß Gianna das Recht, ihm so bittere Vorwürfe zu machen, als sie ins Schlafzimmer geplatzt war? Wenn ja, dann war Leo keinen Deut besser als Rico, was den Umgang mit Frauen anging.

Schäbig, wie sie schon gesagt hatte.

„Ich habe keine Beziehung mit meiner Exfrau“, meinte Leo schließlich. „Ich schlafe nicht mit ihr, und ich will auch gar nicht mit ihr schlafen. Gianna möchte nur gerne glauben, dass ich meine Meinung ändere, wenn sie mich nur lange genug bedrängt. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist“, fuhr er fort, als Natasha ihn ansah. „Gianna ist ein bisschen labil. In gewisser Hinsicht fühle ich mich immer noch für sie verantwortlich. Immerhin war sie einmal meine Frau. Und damals war sie mir sehr wichtig … bis sie aus Gründen, die jetzt keine Rolle spielen, auf den Selbstzerstörungsknopf gedrückt und damit das Ende unserer Ehe heraufbeschworen hat.“ Ein leiser Unterton warnte Natasha, keine weiteren Fragen zu stellen. „Es tut mir leid, dass sie hier hereingeplatzt ist und dich in Verlegenheit gebracht hat. Aber mehr werde ich dir nicht geben. Also hör endlich auf, dich wie eine hysterische Braut in ihrer Hochzeitsnacht zu benehmen und zieh die Jacke aus, bevor ich sie dir ausziehe!“

„W … was?“ Natasha blinzelte verwirrt. Es gelang ihr nicht, den plötzlichen Umschwung von Giannas Psyche zu ihrer Jacke nachzuvollziehen.

„Während du hier das arme unschuldige Opfer spielst, scheinst du das Geld vergessen zu haben, das du mir gestohlen hast!“

Das Geld.

Natasha erstarrte. Leo unterdrückte einen Fluch, weil ihr Gesichtsausdruck ihm verriet, dass sie das Geld tatsächlich ganz vergessen hatte. Dabei galt das Schimpfwort eigentlich ihm. Warum hatte er sie auch daran erinnern müssen? Viel lieber wäre ihm gewesen, das dumme Geld in der Versenkung verschwinden zu lassen.

Jetzt schaute sie ihn so blass und entsetzt an, dass er sich unwillkürlich fragte, ob sie gleich ohnmächtig werden würde.

Seufzend ging er zu ihr. Die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst, begann er, die Knöpfe an ihrer Jacke abermals zu öffnen.

Sie wehrte sich nicht einmal, stand einfach nur still wie eine Wachsfigur und ließ zu, dass er ihr das Kleidungsstück über die Schultern streifte. Ihre Bewegungslosigkeit steigerte nur seine Wut.

Leo ließ die Jacke zu Boden fallen und ging dann zu seinem Kleiderschrank. Er holte ein weißes T-Shirt heraus und zog es über den Kopf. Als er sich wieder zu Natasha umdrehte, hatte sie sich immer noch keinen Zentimeter gerührt. Sie wirkte blass und verloren.

Theos, dachte er und fragte sich, warum es ihm so große Gewissensbisse versetzte, sie so niedergeschlagen zu sehen. Am liebsten wäre er wieder zu ihr gegangen und hätte sich abermals entschuldigt, weil er sich so gemein verhalten hatte.

„Dinner“, verkündete er stattdessen. Den rauen Tonfall behielt er bei. Schließlich war sie … nun ja, eine Diebin, auch wenn er das am liebsten verdrängt hätte.

Endlich bewegte sie sich, zumindest ihre blutleeren Lippen. „Ich bin nicht hungrig.“

„Du wirst mit mir essen. Seit du dich in meiner Londoner Tiefgarage übergeben hast, hast du überhaupt nichts mehr zu dir genommen.“

Er ist wieder zurück, schoss es Natasha durch den Kopf. Sie an ihr Malheur in der Garage zu erinnern, passte perfekt zu dem Leo Christakis, der stets unverblümt sagte, was er dachte. Auch wenn es unhöflich war oder andere Menschen in Verlegenheit brachte.

Ihr war nach Weinen zumute. Wie gerne hätte sie sich in eine dunkle Ecke verkrochen und …

Leo öffnete die Schlafzimmertür und wartete demonstrativ, dass sie sich zu ihm gesellte. Mit gesenktem Kopf trat sie auf ihn zu. Es hatte keinen Sinn, sich ihm zu widersetzen. Er brauchte nur das gestohlene Geld zu erwähnen, und schon war jedes Argument dahin.

Hart und rücksichtslos, nichts anderes war er. Wie hatte sie das bloß vergessen können?

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ließ sie sich von ihm durch die Villa führen. Das Esszimmer wurde nur von unzähligen flackernden Kerzen erleuchtet. Eine Seite bestand, wie das Schlafzimmer, aus einer Glasfront.

Bernice legte gerade die letzten Besteckteile auf den mit einer weißen Leinendecke verhüllten Tisch. Von ihrem Stuhl aus konnte Natasha das nächtliche Athen bewundern. Ein unglaublich romantischer Anblick, bei dem die meisten Frauen dahingeschmolzen wären.

Zumindest jene, die berechtigte Hoffnungen auf ein amouröses Finale hegten.

Leo und Bernice wechselten einige Worte auf Griechisch, dann trat eine weitere Angestellte hinzu, die ihnen das Essen servierte. Insgeheim konnte Natasha sich nicht des Gefühls erwehren, Leo habe alles so arrangiert, damit kein privates Gespräch zwischen ihnen aufkam.

In der angespannten Atmosphäre fiel ihr das Essen mehr als schwer. Schließlich gab sie auf und blickte stattdessen aus dem Fenster, auf ihren Teller oder auf das Glas mit Weißwein, von dem sie nichts trank. Alles, nur um Leo nicht anschauen zu müssen.

Plötzlich – sie hatte nicht mitbekommen, dass er seine Angestellten mit einem Nicken entlassen hatte – streckte er die Hand aus und berührte gebieterisch ihre linke Brust.

„Ich wusste es“, sagte er. „Du trägst keinen BH, meine kleine Verführerin.“

Völlig außer sich, sprang Natasha auf. Leo erhob sich etwas langsamer. Seine Miene wirkte verschlossen.

„Fass mich nie wieder ohne meine Erlaubnis an“, flüsterte sie gepresst. Dann wirbelte sie herum und stürmte aus dem Zimmer.

Glücklicherweise stand der Aufzug wartend bereit. Ohne nachzudenken hastete Natasha hinein und drückte den Knopf für das Erdgeschoss. Die Tür glitt zurück.

Vor ihr erstreckte sich ein wunderschöner Garten. Der Duft von Orangen erfüllte die Luft. Sorgfältig angelegte Pfade waren von kleinen Laternen gesäumt.

Natasha hatte keine Ahnung, wohin sie flüchtete. Sie wusste nur, sie musste endlich diese dunkle Ecke finden, in die sie sich verkriechen und dann den Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, freien Lauf lassen konnte.

Endlich fand sie diesen Ort: eine kleine Bank, die von den herunterhängenden Zweigen eines Baumes fast vollständig verborgen wurde. Sie setzte sich erschöpft, zog die Beine an, bettete den Kopf auf die Knie und weinte.

Natasha weinte um alles. Um alles, was sich seit heute Morgen, nachdem ihr das Bild von Rico in den Armen einer Unbekannten geschickt worden war, ereignet hatte.

Gegen einen Baumstamm gelehnt lauschte Leo ihren bitteren Tränen. Noch nie in seinem Leben war er sich so mies vorgekommen. Die Art und Weise, wie er sie den ganzen Tag behandelt hatte, war unverzeihlich.

Ihr jetzt zuhören zu müssen, war seine gerechte Strafe. Mit einem tiefen Seufzen stieß er sich von dem Stamm ab, setzte sich neben sie auf die Bank und zog Natasha auf seinen Schoß.

Eine bis zwei Sekunden kämpfte sie gegen ihn an, doch er flüsterte beruhigend: „Shh, es tut mir leid.“ Dann hielt er sie fest an sich gedrückt, bis sie die Tränen versiegt waren.

Als sie sich schließlich beruhigt hatte, stand er mit ihr in den Armen auf und trug sie zurück ins Haus. Dabei sprach er kein einziges Wort.

Sie schläft, wurde ihm klar, als er sie vorsichtig aufs Bett gleiten ließ. Mit der Sorgfalt eines Mannes, der es mit einem sehr kostbaren Gut zu tun hat, zog er ihr Schuhe und Rock aus und deckte sie behutsam zu.

Anschließend blieb er neben dem Bett stehen und betrachtete sie einen kurzen Moment. Dann wandte er sich um und ging in sein Arbeitszimmer.

„Juno“, begrüßte er seine Assistentin am Telefon. „Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich muss Sie um einen kleinen Gefallen bitten …“