7. KAPITEL

Natasha erwachte. Sanftes Tageslicht fiel ins Zimmer. Sofort hellwach, wandte sie den Kopf um. Die andere Seite des Bettes war leer.

Ihr Herzschlag beruhigte sich wieder. Das einzige Anzeichen, dass sie die Nacht nicht alleine verbracht hatte, war das zerwühlte Laken auf Leos Seite.

Von der Tür her hörte sie flüsternde Stimmen. Das musste sie geweckt haben. Hastig sprang sie auf und sprintete ins angrenzende Badezimmer.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie immer noch das weiße Top trug, das sie schon gestern angehabt hatte. Dann hatte er wenigstens einen Hauch Anstand bewiesen und sie nicht ganz entkleidet, dachte sie – empfand dafür aber keinerlei Dankbarkeit.

In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte er sich so gnadenlos über sie lustig gemacht, sie verhöhnt und verspottet, erpresst und gezwungen, seine Geliebte zu werden, dass der eine kleine Gnadenerweis ihn in ihren Augen nicht besser erscheinen ließ.

Die Haare diesmal sicher unter einem Handtuchturban versteckt, trat sie unter die Dusche. Skeptisch musterte sie die vielen verschiedenen Knöpfe und Hebel. Vielleicht gelang es ihr ja diesmal, den richtigen zu drücken und nicht aus allen Richtungen nass gespritzt zu werden.

Der Versuch misslang gründlich. Natasha rang nach Luft, als die ersten Wasserstrahlen, scharf wie Nadelstiche, ihre Haut trafen. Sie blickte an sich herunter, weil sie fast erwartete, dass ihr Körper sich irgendwie über Nacht verändert haben musste.

Aber es war alles wie immer. Sie sah ihre vollen Brüste, die weich gerundeten Hüften und ihre helle Haut. Und doch spürte sie eine Veränderung.

An einem einzigen Tag war sie zu Frau geworden. Ihre dummen Träume von Liebe und Romantik lagen in Scherben. Natasha verzog das Gesicht. Um eine Erkenntnis war sie reicher: Man brauchte weder Liebe noch Romantik, um sich Lust und Leidenschaft hinzugeben.

Man brauchte überhaupt keine Gefühle. Das Verlangen, sich zu nehmen, was man begehrte, reichte völlig aus.

Rico war so ein Mensch, der nach dieser Maxime lebte. Und auch ihre Schwester Cindy. Sie sahen, sie begehrten, sie nahmen es sich. Warum auch nicht? Das Objekt der Begierde stand ja da. Vielleicht sollte sie sich eingestehen, dass sie in die Reihen dieser Egoisten eingetreten war. Denn sie konnte noch so lange unter der Dusche stehen, die Wasserstrahlen auf sich herniederprasseln lassen und sich einreden, dass Leo sie erpresst hatte, das Bett mit ihm zu teilen, aber das wäre immer nur die halbe Wahrheit.

Sie hatte ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihn wollte. Leo hatte nur zugegriffen.

Bernice betrat gerade über die Terrasse das Schlafzimmer, als Natasha, wieder nur in einen Morgenmantel gehüllt, aus dem Bad kam. Plötzlich empfand sie der anderen Frau gegenüber große Schüchternheit. Am liebsten wäre sie zurück ins Badezimmer geflüchtet und hätte sich dort versteckt, bis Bernice wieder gegangen war.

„Kalimera, thespinis“, begrüßte die Haushälterin sie lächelnd. „Ein wunderschöner Tag, um draußen zu frühstücken, nicht wahr?“

„Perfekt.“ Natasha erwiderte das Lächeln. „Vielen Dank, Bernice.“

Sie trat auf die Terrasse hinaus. Die Sonne schien schon warm vom wolkenlosen Himmel. Einladend lag der Duft von frischem Kaffee und Toast in der Luft.

Ihr Magen gab ein knurrendes Geräusch von sich, und Natasha wurde bewusst, wie hungrig sie war.

Unvermittelt blieb sie stehen. Sie hatte nicht damit gerechnet, Leo am Tisch sitzen zu sehen. Doch da saß er, hielt eine Kaffeetasse in der Hand und las friedlich in der Zeitung.

Sie stieß einen überraschten Laut aus, woraufhin er die Zeitung senkte und Natasha eingehend musterte.

„Kalimera“, grüßte er sanft und erhob sich.

Wie vor den Kopf geschlagen, blickte Natasha ihn an. Natürlich hatte sie heute Morgen schon an Leo gedacht. Aber den Mann in Fleisch und Blut vor sich zu sehen, war doch etwas ganz anderes. Obwohl er nur einen schlichten Geschäftsanzug trug, durchströmte sie die Erinnerung an die gestrige Intimität, und eine prickelnde Wärme überkam sie.

Unwillkürlich folgte sie seinem Beispiel und ließ ihren Blick über seinen gesamten Körper wandern. Angefangen bei seinen Beinen, die von einer grauen Hose verhüllt waren, über die Brust und das hellblaue Hemd mit passender dunkler Krawatte. Als sie schließlich sein frisch rasiertes Gesicht mit den atemberaubenden Zügen betrachtete, waren ihre Wangen vor Verlegenheit gerötet.

„Guten Morgen“, erwiderte sie kühl und auf Englisch.

Ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Hast du gut geschlafen?“

„Ja, vielen Dank.“

Den Blick abwendend, ballte sie die Hände in den Taschen des Morgenmantels zu Fäusten. Sie zwang sich, auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen. Leo hingegen blieb stehen.

„Bernice war sich nicht sicher, was du zum Frühstück magst. Sie hat eine kleine Auswahl zusammengestellt.“ Er deutete auf ein kleineres Tischchen am Rand der Terrasse, auf dem etliche Teller und Schüsseln standen. „Sag mir, was du möchtest. Ich hole es dir.“

Natasha hob den Kopf, betrachtete den Tisch und schaute dann schnell wieder weg. „Danke. Mir reicht ein Toast.“

„Saft?“

Ein kurzes Zögern, dann: „Bitte.“

Leo stand auf, schlenderte zu dem Tischchen hinüber und schenkte den frischen Saft in ein Glas. Eine vertrautere Szene konnte man sich kaum vorstellen, dachte Natasha. Doch an der Art und Weise, wie ihre Blicke scheinbar willenlos seinen Bewegungen folgen mussten, war absolut nichts Ruhiges oder Beschauliches.

Rasch wandte sie den Kopf ab, als er zurückkehrte, und gab vor, sich sehr vor das im Sonnenlicht glitzernde Athen zu interessieren. Leo stellte das Glas vor ihr auf den Tisch.

Dann ließ er eine Scheibe Toast auf ihren Teller gleiten, ging zu seinem Platz zurück und griff wieder nach der Zeitung.

Natasha zog eine Hand aus der Tasche und nippte am Orangensaft. Gerade wollte sie nach dem Toast greifen, da entdeckte sie ihr Handy mitten auf dem Tisch.

„Bernice hat es in der Tasche meines Jacketts gefunden. Ich hatte ganz vergessen, dass ich es eingesteckt hatte.“ Auch wenn er offensichtlich den Eindruck erwecken wollte, in seine Zeitung vertieft zu sein, war er es offensichtlich nicht.

Natasha nickte nur. Sie nahm das Telefon, fuhr einige Sekunden mit den Fingern über die glatte Oberfläche und klappte das Gerät dann auf.

Sofort füllte sich das Display mit Nachrichten, die Rico und Cindy hinterlassen hatten. In dem Bewusstsein, dass Leo sie beobachtete, wählte sie eine Nachricht nach der nächsten aus und löschte sie, ohne sie gelesen zu haben. Dabei verschaffte es ihr auf eine merkwürdig distanzierte Art Vergnügen, eine nach der anderen verschwinden zu sehen. Schließlich klappte sie das Handy wieder zu, legte es neben ihren Teller und widmete sich endlich der Toastscheibe.

„Ich muss ein paar Kleider einkaufen“, sagte sie.

Leo erwiderte nichts. Doch Natasha spürte sehr deutlich, wie gerne er ihre Löschaktion kommentiert hätte. Hatte er eigentlich die Nachrichten gelesen? Hatte er erwartet, Instruktionen von Rico vorzufinden, wie sie am besten aus seiner Villa entkam und sich mit ihrem Exverlobten sechs Wochen lang versteckte, bis sie an das gestohlene Geld herankamen?

Doch Leo zog nur wortlos eine Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts. „Ich richte bei meiner Bank ein Konto für dich ein“, meinte er. „Und bis dahin …“

Ein Bündel Geldscheine landete neben ihrem Teller.

„Kauf dir, was du willst. Rasmus wird dich nach Athen fahren.“

„Ich brauche keinen Fahrer“, flüsterte sie gepresst. „Ich finde den Weg schon alleine.“

„Rasmus ist nicht nur dazu da, um deinen Chauffeur zu spielen. Von nun an wird er dich, wo auch immer du hingehst, begleiten.“

„Weshalb? Um mich zu bewachen? Ich werde nicht fliehen“, erklärte sie steif. „Ich will nicht ins Gefängnis, wenn ich geschnappt werde.“

„Dann sieh in Rasmus deinen Beschützer“, schlug Leo vor.

„Und den brauche ich, weil …?“

Leo zog eine Augenbraue hoch. „Weil wir in gefährlichen Zeiten leben?“

„Du vielleicht.“

„Du bist jetzt ein Teil meiner Welt. Und das bedeutet, du musst das Schlechte wie das Gute daran hinnehmen.“

Was um alles in der Welt konnte denn gut daran sein, seine Geliebte zu sein? fragte sie sich wütend.

„Dazu müsste die Welt erst erfahren, dass ich zu dir gehöre.“

„Das wird sie … heute Abend“, entgegnete er und faltete die Zeitung zusammen. „Wir werden heute Abend mit ein paar Freunden von mir essen gehen. Wenn du also einkaufen gehst, kauf doch auch ein Kleid … etwas, das zu einer Dinnerparty passt. Etwas … Hübsches.“

„Kommt überhaupt nicht infrage.“ Natasha griff nach dem Schälchen mit Marmelade und verteilte sie großzügig auf dem Toast.

„Dann etwas … Farbenfrohes …, das deine Figur unterstreicht.“

„Ich werde mich nicht wie ein Flittchen anziehen, nur damit du deiner Exfrau etwas beweisen kannst!“

„Warum? Glaubst du, du kannst nicht mit ihr mithalten?“

Die Provokation traf Natasha völlig unvorbereitet. Ihr stockte der Atem.

„Ich habe den Eindruck, Natasha, dass du dich zu rasch von arroganten Tyrannen wie deine Schwester und meine Exfrau einschüchtern lässt“, sagte er. „Solche Frauen erkennen ein Mauerblümchen aus hundert Metern Entfernung. Was ich jedoch nicht begreife, ist, dass du sie gewähren lässt. Werd erwachsen, agape mou“, riet er ihr und stand auf. „Werde härter. Du bist jetzt mit mir zusammen. Und ich stehe in dem Ruf, bei der Auswahl meiner Frauen einen hohen Standard zu wahren.“

„Gianna zu heiraten, war dann wohl ein Ausrutscher.“

Er lachte nur leise auf, was Natasha noch wütender machte.

„Uns allen ist ein Fehler erlaubt. Rico war deiner, Gianna meiner. Damit sind wir quitt.“

Darauf fiel ihr wirklich keine passende Antwort mehr ein. „Warum gehst du nicht und tust … was auch immer du tust und lässt mich in Ruhe?“, sagte sie schließlich und biss in ihren Toast.

Was als Nächstes passierte, geschah so schnell, dass sie gar nicht wusste, wie ihr geschah. Mit einer blitzartigen Bewegung stand Leo vor ihr und küsste ihren Marmeladenmund.

„Mmm, lecker“, sagte er und küsste sie noch einmal. „Ich denke, das sollten wir noch einmal probieren …“

Er tauchte einen Finger in das Schälchen und verteilte die süße Marmelade auf Natashas Unterlippe. Dann neigte er den Kopf und fuhr genüsslich mit seiner Zunge über das süße Versprechen. Wie in Trance konnte Natasha nicht anders und fuhr ebenfalls mit ihrer Zungenspitze über ihre Lippen, sobald Leo sich zurückgezogen hatte.

„Ja“, murmelte er sanft, ebenso in dieses sinnliche Vorspiel versunken wie Natasha. Doch dann richtete er sich unvermittelt auf und schlenderte auf die geschwungene Glasfront zu. Als er nahe genug herangekommen war, glitten die Türen automatisch beiseite.

„Du hast vergessen, dich selbst auf die Liste der Tyrannen in meinem Leben zu setzen“, rief sie ihm nach, griff wütend nach einer Serviette und rieb die süßen Überreste von ihrem Mund.

Doch von Leo blieb nur ein leises Lachen zurück. Natasha blickte ihm nach, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Innerlich kochte sie vor Wut. Ihr Blick wanderte zu dem Geld, das immer noch neben ihrem Telefon auf dem Tisch lag. Seine Kritik an ihrer Kleidung und ihrem Unwillen, sich mit anderen Frauen zu messen, war ihr nicht entgangen. Wirklich wehgetan hatte jedoch sein abfälliger Tonfall.

Die Stille in der luxuriösen Limousine wurde unvermittelt durch das Klingeln ihres Handys gestört. Natasha öffnete ihre Handtasche, die Bernice heute Morgen auf einem der Tische auf der Terrasse gefunden hatte, und schaute in der Erwartung, Ricos oder Cindys Namen zu lesen, auf das Display.

Es war keiner der beiden.

„Woher kennst du diese Nummer?“, meldete sie sich.

„Ich habe sie gestohlen“, gestand Leo. „Hör zu“, fuhr er dann kurz angebunden fort. „Mir ist ein zusätzliches Meeting dazwischengekommen. Ich schaffe es also nicht mehr nach Hause, um mich umzuziehen, bevor wir heute Abend ausgehen. Ich habe mit einer Freundin telefoniert. Sie wird dich mit allem Nötigen ausstatten, das du für die Dinnereinladung brauchst. Ihr Name ist Persephone Karides. Rasmus fährt dich jetzt zu ihrem Salon. Du kannst ihr vertrauen. Sie besitzt mehr Sinn für Stil im kleinen Finger als jeder andere, den ich kenne.“

Natasha schnappte nach Luft. „Musst du mich immerzu beleidigen?“, fragte sie. „Musst du immer gleich sagen, was du denkst?“

„Entschuldige“, sagte er nach kurzem Schweigen. Seine Stimme klang aufrichtig. „Meine Worte waren nicht als Kritik an dir gemeint.“

„So sind sie aber angekommen.“ Natasha klappte das Handy zu und verstaute es in ihre Tasche. Gleich darauf klingelte es noch einmal. Sie ignorierte es.

„Ach du meine Güte“, begrüßte Persephone Karides sie. „Als Leo sagte, Sie seien anders, hatte ich keine Ahnung, dass er damit großartig anders meinte.“

Unwillkürlich fragte Natasha sich, ob Leo ihr befohlen hatte, das zu sagen.

„Er hat Angst, dass ich heute Abend in einem Sack auftauche und ihn blamiere“, entgegnete sie steif. „Deshalb hat er mich zu Ihnen geschickt.“

„Soll das ein Witz sein?“, fragte Persephone lachend. „Leo macht sich wesentlich mehr Sorgen um sein eigenes Wohlbefinden. Seine Anweisung lautet: schlichte Eleganz. Auf keinen Fall will er einen Tumult unter den anderen Männern, damit sie einen besseren Blick auf Sie werfen können. So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr. Ein eifersüchtiger Leo Christakis bittet mich, ihn vor Ihren Reizen zu beschützen.“

Die versteckten Komplimente ließen Natasha erröten. Wollte Leo sie wieder nur provozieren? Oder sagte Persephone die Wahrheit?

Ganz gleich, was dahinterstecken mochte, die Tatsache, dass Leo schon wieder über ihren Kopf hinweg Anweisungen erteilt hatte, ließ ihre Augen rebellisch aufblitzen.

Stunden später parkte Rasmus den Wagen neben einer prächtig aussehenden Luxusjacht, die im Jachthafen von Athen vor Anker lag. Verwirrt betrachtete Natasha das Schiff. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie das Restaurant an Bord eines Schiffs befinden würde.

Als Natasha aus dem Wagen stieg, umfing sie eine angenehm kühle Brise. Gleich würde Leo erfahren, was sie, mit Unterstützung der hilfreichen Persephone, aus seinen Anweisungen gemacht hatte.

Doch die Wichtigkeit ihrer Rebellion verblasste, als sie Leo erblickte, der sie, gegen die Reling gelehnt, erwartete. In dem schwarzen Dinneranzug – ganz klassisch mit schwarzer Fliege und weißem Hemd – sah er atemberaubend gut aus.

Natasha betrat das Deck und blieb dann stehen. Gespannt und unsicher zugleich wartete sie darauf, was er sagen würde.

Er nahm sich alle Zeit der Welt, während er seinen Blick über sie wandern ließ. Angefangen bei den offenen blonden Haaren, die ihr Gesicht einrahmten und in sanften Wellen über ihre nackten Schultern fielen. Und weiter zu ihren weichen Brüsten, die durch den Kontrast mit dem hellvioletten Seidenkleid besonders gut zur Geltung kamen. Zwei dünne Träger, die hinter ihrem Nacken gebunden wurden, hielten den schimmernden Stoff an seinem Platz. Das Kleid betonte jede ihrer Kurven und endete – sehr züchtig – an ihren Knien. Überhaupt nicht züchtig hingegen war der seitliche Schlitz, der ihre Beine länger wirken ließ und manchmal den Blick auf ihre wohlgeformten Schenkel freigab.

Sexy. Sie wusste, dass sie sexy aussah, weil Persephone ihr das gesagt hatte. Und eines hatte sie während ihres Tages mit der Griechin gelernt, Persephone machte keine leeren Komplimente. „Leo wird mich umbringen, wenn Sie dieses Kleid tragen“, hatte sie hinzugefügt.

Und Persephone sollte recht behalten. Leo war definitiv nicht glücklich mit ihrer Wahl. Seine finstere Miene verschaffte ihr jedoch das Gefühl von Triumph. Am liebsten hätte sie laut aufgelacht.

Dann jedoch war ihr gar nicht mehr zum Lachen zumute, weil er, immer noch ohne ein Wort zu sagen, auf sie zukam. Ein Prickeln überlief ihren Körper, wie stets, sobald sie seine Nähe spüren konnte. Dennoch tat sie ihr Bestes, unbefangen und gelassen zu wirken.

Ein paar Zentimeter vor ihr blieb er stehen und betrachtete eingehend ihren mit hellrosa Lipgloss geschminkten Mund. Dann ließ er seinen Blick tiefer, zu den sanften Hügeln ihrer Brüste, wandern.

Als er nach geraumer Weile wieder aufsah, fühlte Natasha sich, als würde sie auf glühenden Kohlen balancieren. Sie wagte kaum zu atmen. Ihre Blicke trafen sich. Jeder rationale Gedanke war vergessen. Was zählte, war allein, ihm in die Augen zu schauen. Instinktiv hob sie trotzig das Kinn.

Leo legte eine Hand auf ihre Taille, zog Natasha eng an sich und küsste sie stürmisch, fast aggressiv.

„Rührst du dich auch nur eine Handbreit von mir weg, garantiere ich für nichts.“

„Du hast mir doch empfohlen, nicht länger das Mauerblümchen zu spielen“, erinnerte sie ihn kühl.

Er trat einen Schritt zurück und musterte sie noch einmal aufmerksam. „Die Farbe steht dir ausgezeichnet“, meinte er schließlich.

„Fällt es dir wirklich so schwer, mir etwas Nettes zu sagen?“

Damit hat sie nicht ganz unrecht, dachte Leo. Aber wenn sie glaubte, er habe nicht mitbekommen, wie sehr sie sich über seinen Verdruss gefreut hatte, dann …

„Komm mit“, bat er seufzend. Hatte er nicht bekommen, was er sich gewünscht hatte? Wenn er anschließend herausfand, dass er es doch nicht mehr wollte, war das sein Problem, nicht Natashas.

Nur zu gerne hätte Natasha gewusst, ob das Prickeln, dass sie verspürte, als sie neben ihm herging, Triumph oder Unmut entsprang. Doch in dem Moment, in dem sie die Schwelle zum eigentlichen Restaurant überquerten, sah sie sich einem ganzen Bündel neuer innerer Kämpfe ausgesetzt, weil sie sich sofort im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit befand. Zwanzig Augenpaare richteten sich überaus neugierig auf sie.

Sie schmiegte sich ein wenig enger an Leo. Leo reagierte, indem er einen Arm um ihre Schultern legte.

Er stellte sie den anwesenden Gästen nur mit „Natasha“ vor. Hätte er auch ihren Nachnamen erwähnt, hätte das zu unschönen Spekulationen über Rico führen können. Mindestens die Hälfte der Anwesenden stand auf der Liste der Hochzeitseinladungen, die Ricos Mutter ihr letzte Woche per E-Mail geschickt hatte.

Bei dem Gedanken an Rico überfiel sie leichtes Unbehagen. Allmählich ärgerte es sie richtig, dass Leo sie überhaupt zu diesen Menschen gebracht hatte. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr eines. Sobald diese Leute herausfanden, wer sie war, würden sie aufhören, sie mit Respekt zu behandeln. Im Moment taten sie das nämlich nur, weil Leo Christakis den Arm um sie gelegt hatte.

Das Dinner wurde von einem von Athens besten Küchenchefs zubereitet, wie ihr einer von Leos Freunden mitteilte, der ihr gegenübersaß.

„Leo will in jeder Hinsicht nur das Beste“, sagte Dion Angelis und schaute grinsend Leo an, der den Platz neben ihr eingenommen hatte.

Dion Angelis war ungefähr in Leos Alter und war von derselben Aura aus Reichtum und Einfluss umgeben, wie alle anderen Gäste. Neben ihm saß seine griechische, ungemein hübsche Frau Marina.

Griechische Ehefrauen sprachen nicht mit den Geliebten anderer Männer – zumindest nicht in diesen sozialen Kreisen, hatte Natasha im Verlauf des Abends bereits herausgefunden. Und allmählich verstand sie auch den Grund dafür, weil nämlich Dion Angelis nun seinen Blick aufreizend langsam über ihren Körper wandern ließ. Sie hätte schon sehr naiv sein müssen, um nicht zu begreifen, was diese Geste bedeuten sollte.

Vorsichtig schaute sie flüchtig zu Marina hinüber, die ihr Bestes tat, ihre Wut über das unverhohlene Interesse ihres Mannes zu verbergen. Allerdings sandte sie vorher noch einen vernichtenden Blick an Natashas Adresse. Danach wandte sie sich gespielt ungezwungen an Leo.

„Leonadis …“ Überrascht blickte Natasha auf. Nie zuvor hatte sie gehört, dass jemand Leo mit vollem Namen ansprach. „Gianna hat dich gestern bei Boschetto’s erwartet. Sie hat sich große Sorgen gemacht, weil du nicht gekommen bist.“

Natasha lehnte sich zurück und setzte eine möglichst unbeteiligte Miene auf. Also rangierten sogar Exfrauen höher als Geliebte.

„Gianna hat mir ihre Meinung bereits mitgeteilt“, sagte Leo ruhig. „Dion, bitte sei so freundlich und hör auf, auf die Brüste meiner zukünftigen Frau zu starren.“

Die nur leise gesprochenen Worte brachten jedes Gespräch im Raum zum Verstummen. Dion lief knallrot an. Seine Frau blickte Natasha mit weit aufgerissenen Augen an – ebenso wie alle anderen Anwesenden.

„Herzlichen Glückwunsch“, sagte jemand und löste damit eine Lawine an Gratulationen aus. Als Leo endlich geruhte, Natasha anzusehen, lag in seinem Blick die schweigende Herausforderung, sie könne es ja wagen und seine Worte abstreiten.

Fast lag es ihr auf der Zunge, allen zu verkünden, wer sie in Wirklichkeit war.

Doch Leo ergriff rasch ihre Hand und drückte sie sehr fest. „Nicht“, warnte er.

Also wandte sie sich wieder an Marina. „Schwierig, die Beziehungen anderer Menschen richtig einzuordnen, nicht wahr?“, meinte sie zuckersüß lächelnd. „Ich kann nur hoffen, dass meine Ehe mit Leo ein weniger dramatisches Ende nimmt, und ich es dann mit mehr … Würde akzeptiere.“

Damit erhob sie sich. Auch Leo stand auf. Er hielt ihre Hand immer noch fest in seiner. „Entschuldigt uns“, erklärte er der aufmerksamen Gästeschar. „Es scheint, als müssten Natasha und ich uns zurückziehen, um über ihren Wunsch zu diskutieren, unsere Ehe vor dem Scheidungsrichter zu beginnen.“

Er wandte sich um und schlenderte, Natasha wie ein ungezogenes Kind hinter sich herziehend, auf den Ausgang zu. Nervöses Gelächter folgte ihnen.

„Du hast von Anfang an geplant, diese Ankündigung zu machen, oder?“, beschuldigte sie ihn, kaum dass Rasmus die Wagentür hinter ihnen geschlossen hatte. „Nur aus diesem Grund hast du mich mitgenommen und deshalb hast du mich auch zu Persephone geschickt, damit ich dem Anlass entsprechend gekleidet bin.“

„Du hast das Kleid selbst ausgewählt, Natasha“, widersprach Leo. In seiner Stimme lag nicht der leiseste Hauch von Reue. „Ich erinnere mich daran, Persephone gesagt zu haben, dass ich etwas Elegantes möchte.“

„War das bevor oder nachdem du mir vorgeworfen hast, ein Mauerblümchen zu sein?“

„In dieser Hinsicht habe ich meine Meinung geändert.“

„Warum?“

Leo stieß ein verärgertes Seufzen aus. „Weil ich mich sicherer fühle, wenn du die Schüchterne und Unnahbare spielst.“

Die Tatsache, dass er seine Eifersucht zugab, ließ Natasha den Atem stocken.

„Weshalb überrascht dich das?“, fragte er, als er ihren ungläubigen Gesichtsausdruck sah. „Immerhin war es deine geheimnisvolle Tugendhaftigkeit, die mich anfangs angezogen hat. Da ich dich jetzt ein bisschen besser kenne, wird mir klar, dass es mir lieber wäre, wenn du geheimnisvoll bleibst … zumindest für jeden außer mir.“

„Das ist so arrogant, ich kann einfach nicht fassen, was du gerade gesagt hast!“

Er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Marina hat dich angegriffen, weil sie geglaubt hat, du wärst meine aktuelle Gespielin. Nun, da sie weiß, dass meine Absichten ehrenhaft sind, wird sie es nicht mehr wagen, dich so zu behandeln.“

„Bis sie herausfindet, wer ich wirklich bin. Eine Frau, die von Bruder zu Bruder tingelt, um sich schließlich den reicheren zu angeln.“

„Tja, damit kommt Dion wohl nicht mehr infrage“, entgegnete Leo mit kühler Überlegenheit. „Und was Marina angeht … sie wird dafür sorgen, dass er dich das nächste Mal nicht mit Blicken auszieht.“

„Ich heirate dich trotzdem nicht“, sagte Natasha. „Also kannst du zusehen, wie du aus dem Schlamassel wieder herauskommst, den du angerichtet hast.“

Darauf erwiderte Leo nichts. Natasha schaute stur geradeaus und sagte immer noch kein Wort. Allerdings spürte sie, dass Leo sie ansah. Sie spürte auch, dass er zu entscheiden versuchte, ob ihre Entschlossenheit, ihn nicht zu heiraten, seinem Drängen standhalten würde. Und sie spürte, wie sich Wärme in ihrem Inneren ausbreitete – als empfänden ihre neu erwachten Sinne Gefallen daran, immerzu von ihm angesehen zu werden!

Leo schwieg, weil er darüber nachdachte, ob er Natasha sagen sollte, dass er niemals etwas verkündete, ohne eine perfekte Strategie zu besitzen. Doch er ließ diese Überlegung zugunsten einer anderen fallen. Wie sie wohl reagieren würde, wenn er jetzt gleich über sie herfiele? Sie wartete doch nur darauf! Mittlerweile vermochte er ihre Körpersprache recht gut zu lesen. Die angespannte Haltung und das leichte Zittern in der Oberlippe bedeuteten nichts anderes, als dass sie sich innerlich für eine sinnliche Attacke wappnete.

„Du bietest mir also weiterhin nur Sex an?“

„Ja“, bestätigte Natasha – und erkannte zu spät die Falle, in die sie getappt war.

„Gut“, murmelte er leise. „Denn du siehst so überwältigend hinreißend aus, ich kann es kaum erwarten, dir das Kleid auszuziehen.“

Nachdem er seine Absichten erklärt hatte, ließ Leo sie schmoren, bis sie die Villa erreichten. Auf dem Weg ins Haus unternahm er keinen Versuch, sie zu berühren. Stattdessen ließ er zu, dass die leidenschaftliche Spannung zwischen ihnen immer größer wurde.

Kaum hatte sie jedoch den ersten Stock erreicht, konnte er sich nicht länger beherrschen und streckte den Arm nach ihr aus. Natasha jedoch wich geschickt zur Seite.

„Sag mir, warum du allen verkündet hast, dass wir heiraten“, forderte sie.

Er seufzte tief. Warum musste sie auf dem Thema weiter herumreiten? „Weil eine offizielle Bekanntgabe morgen in allen wichtigen Zeitungen zu lesen sein wird“, erwiderte er und beobachtete, wie sich Schrecken und Bestürzung auf ihrem Gesicht abzeichneten.

„Aber das kannst du doch nicht ohne mein Einverständnis machen!“

„Ich habe es schon getan.“ Er wandte sich ab und zupfte verärgert an seiner Fliege.

Ängstlich eilte Natasha ihm nach. „Du kannst nicht beides haben, Leo. Du kannst nicht meine Beziehung zu Rico vor deinen Freunden geheim halten und gleichzeitig meinen Namen an die Presse weitergeben.“

„Du hast keine Beziehung mit Rico.“ Die Enden der Fliege gaben nach. Das schwarze Band landete über einer Stuhllehne.

„Wie bitte?“, stieß Natasha aus. „Bist du nicht derjenige, der darauf besteht, dass ich seine kleine Komplizin bin?“

Er drehte sich zu ihr um und fixierte sie ruhig. „Bist du seine Komplizin?“

Vor lauter Wut hätte Natasha am liebsten „Ja, das bin ich“ geschrien. Doch ihre angeborene Ehrlichkeit verhinderte diese Lüge. „Nicht absichtlich, nein“, erwiderte sie müde.

„Dann tu uns beiden einen Gefallen und lass das Thema ruhen. Du wurdest heute von einer Frau angegriffen, die ihren Ehemann nicht in Zaum halten kann. Zudem ist Marina eine gute Freundin meiner Exfrau. Ich habe dich verteidigt. Du solltest mir dankbar sein, nicht mich anschreien.“

Dieser Vorwurf versiegelte Natashas Lippen. Gianna hatte ihn angeschrien. Auf keinen Fall und in keiner Form wollte sie mit ihr verglichen werden.

Erst als sie sah, wie Leo die obersten Knöpfe seines Hemdes öffnete, wurde ihr bewusst, dass sie mitten im Schlafzimmer standen. Ihr Bedürfnis, mit ihm zu streiten, erlosch augenblicklich.

Sie riskierte einen Blick auf das Bett. Die Decke war einladend zurückgeschlagen. Ihr Herz tat einen kleinen Sprung. Rasch schaute sie wieder zu Leo hinüber, der sich den restlichen Knöpfen widmete und Natasha dabei ganz ungeniert beobachtete.

„Du hast mich absichtlich hierhergelockt“, beschwerte sie sich.

Er lächelte amüsiert. „Ich bin ein guter Taktiker, agape mou. Das solltest du längst wissen.“

Außerdem war er der verführerischste Mann, dem sie jemals beim Ausziehen zugesehen hatte. Natasha verlor komplett den Faden, als ein Streifen bronzefarbener Haut unter dem weißen Hemd sichtbar wurde.

„Möchtest du mich berühren?“

Seine samtige Stimme sandte einen Schauer über ihren Rücken. Ihre Unterlippe begann zu zittern.

„Dann komm her.“ Eine sinnliche Einladung … ein unwiderstehlicher männlicher Befehl.

Es zog sie zu ihm, als sei sie mit unsichtbaren Bändern an ihn gefesselt. Diesmal hasste sie sich nicht dafür, so kampflos nachgegeben zu haben. Sie wollte ihn. Das Verlangen nach ihm war so übermächtig, sie konnte nicht anders.

Er half ihr, indem er ihre Hände ergriff und auf seine Brust legte. Dann neigte er den Kopf, presste seine Lippen auf ihre.

Wie versprochen, streifte er ihr das Kleid ab. Er streichelte jede Kurve, jede weibliche Rundung so zärtlich und aufmerksam, als wolle er in seinem Gedächtnis eine Karte anlegen. Erst nach einer ganzen Weile führte er sie zum Bett.

„Ich sollte dir das gar nicht erlauben“, seufzte sie irgendwann auf, als das Gefühl übermächtig wurde, durch ihre Adern müsse geschmolzener Honig fließen.

„Glaubst du, ich fühle weniger als du?“ Wieder legte er ihre Hand auf seine Brust, damit sie seinen beschleunigten Herzschlag spüren konnte.

Die restlichen Stunden der Nacht verbrachten sie mit zarten und sanften, mit heißen und leidenschaftlichen Liebesspielen. Falls Natasha sich jemals gefragt hatte, ob es Männer auf der Welt gab, die sich dem Verlangen so unermüdlich hinzugeben wussten, dann hatte sie, als sie endlich erschöpft und zufrieden einschliefen, ihre Antwort erhalten.

Der Morgen war wieder hell und blau und strahlend. Nur scheuchte Leo sie diesmal recht unsanft aus dem Bett. Er reichte ihr einen Morgenmantel und schob sie hinaus auf die Terrasse.

„Was soll denn das?“, beschwerte sie sich verwirrt.

Er antwortete nicht. Von dem wundervoll warmherzigen und feinfühligen Mann, der sie die Nacht über immer wieder geliebt hatte, war keine Spur mehr zu entdecken. Dafür war der harte und wütende Kerl zurückgekehrt, der sie jetzt auf einen Stuhl drückte und mit dem Finger auf die Zeitung deutete, die aufgeschlagen auf dem Tisch lag.

„Lies“, sagte er.

Lesen, wiederholte Natasha das Wort im Kopf und versuchte verzweifelt, ihr noch ganz schlaftrunkenes Gehirn zur Arbeit zu überreden. Leo hatte sie geweckt. Er hatte sie noch nicht einmal das Badezimmer benutzen lassen. Es gelang ihr kaum, sich auf die gedruckten Worte zu konzentrieren, geschweige denn, sie auch zu begreifen.

Doch die Schlagzeile bestand aus so großen Lettern, dass jeder Buchstabe wie ein Dolchstich ihre Seele durchbohrte.