„Was willst du?“, fragte Natasha kühl.
„Es geht um unsere Eltern.“
„Warum? Was ist los?“
„Nichts … alles!“, rief Cindy. „Ich bin in Athen. Ich habe niemandem gesagt, dass ich herkommen würde. Heute Nachmittag muss ich wieder in London sein, bevor mich jemand vermisst. Triffst du dich mit mir? Vertrau mir, Tasha, es ist wichtig, sonst wäre ich nicht hier.“
Ihre Eltern … Diese Schwäche namens Liebe schnürte ihr die Brust zusammen. „Okay“, sagte sie. „Willst du zu mir kommen?“
„Du meine Güte, nein. Ich hege nicht den Wunsch, Leo über den Weg zu laufen, vielen Dank.“
„Er ist nicht da.“
„Trotzdem möchte ich das Risiko nicht eingehen. Ich habe am Flughafen eine Limousine gemietet. Nenn mir einfach einen Treffpunkt. Mein Fahrer wird mich dorthin bringen.“
Natasha blickte auf die Uhr und nannte den Namen eines Cafés am Kolonaki Platz. Nach einer kurzen Unterredung mit ihrem Fahrer sagte Cindy: „Okay, wir können in einer Stunde da sein.“
Es kam Natasha nicht in den Sinn, nach dem Wir zu fragen. Auch die Tatsache, dass ihre selbstsüchtige Schwester den weiten Weg von England aus auf sich nahm, um über ihre Eltern zu sprechen, wenn es am Telefon doch viel bequemer gewesen war, akzeptierte sie.
Erst als sie später im Café saß und aus der silbergrauen Limousine ein Mann ausstieg, wurde ihr klar, wie gründlich sie sich übers Ohr hatte hauen lassen.
Natasha erster Impuls war, sofort zu gehen. Doch dann gewann ihre Neugier die Oberhand. Rico blieb neben dem Wagen stehen und schaute sich aufmerksam um. Seine Augen waren hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Als er Natashas Leibwächter erspähte, warf er einen Blick auf die Uhr und betrat dann das Café.
In dem hellen Leinenanzug und dem weißen T-Shirt sah er aus wie ein Modell. Sein schwarzes Haar glänzte im Sonnenlicht wie Seide. Und es gab keine Frau zwischen neun und neunundneunzig, die nicht stehen blieb und sich nach ihm umschaute.
Tja, das ist eben Rico, dachte Natasha. Schließlich war sie ja auch auf sein gutes Aussehen und seine besondere Aura hereingefallen. Als sie ihn jedoch jetzt betrachtete, empfand sie überhaupt nichts. Es war, als würde sie einen Fremden ansehen – einen attraktiven Fremden, musste sie ihm zugestehen, aber dennoch einen ihr völlig fremden Menschen.
„Hasst du mich noch, cara?“, eröffnete er das Gespräch.
„Wird Cindy uns Gesellschaft leisten?“
„Nein.“ Er warf einen raschen Blick auf ihren Leibwächter, der bereits sein Handy zückte.
„Ich vermute, dir bleiben ungefähr fünf Minuten. Also, fang an“, forderte Natasha ihn auf.
Rico nahm die Sonnenbrille ab. „Du siehst anders aus“, murmelte er. „Das Kleid steht dir.“
„Danke. Und jetzt komm bitte zum Punkt. Ich denke, wir beide möchten nicht erleben, wie Leo und seine drei Limousinen hier anrücken.“
Rico verzog das Gesicht. Anscheinend wusste er genau, was sie damit meinte. „Alles, was ich von dir brauche, Natasha, ist eine Unterschrift.“
Er legte einige Unterlagen vor ihr auf den Tisch und reichte ihr dann einen Stift.
Natasha begriff sofort, was die Papiere zu bedeuten hatten. „Willst du mir nicht erklären, warum ich das unterzeichnen soll?“, fragte sie trotzdem.
„Weil dir das Geld nicht gehört“, erwiderte er wahrheitsgemäß. „Das Konto ist nicht länger gesperrt. Aber ich kann nur mit deiner Unterschrift darauf zugreifen.“
Er weiß nicht, dass ich weiß, woher das Geld stammt, wurde Natasha klar. Offensichtlich hatte Leo ihm nichts erzählt. Warum nicht?
Ihr Blick wanderte zu der silbernen Limousine hinüber. Die getönten Scheiben verhinderten, dass sie in den Wagen sehen konnte. „Hast du Cindy überredet, dir dieses Treffen zu verschaffen, indem du ihr gedroht hast, die wahre Geschichte eures Stelldicheins an die Presse zu verkaufen?“
„Ich habe alles verloren, sie alles gewonnen“, erwiderte Rico schulterzuckend. „Ist das etwa fair? Deine Schwester hat ihren Plattenvertrag und ihren Nummer-Eins-Hit bekommen. Ich hingegen wurde ausgelacht, weil mein Stiefbruder mir die Verlobte ausgespannt hat.“
„Ich war nie wirklich deine Verlobte.“
Er ignorierte den Einwand. „Leo hat mich einfach gefeuert. Auf einmal bin ich überall zur Persona non grata geworden. Sogar meine Mutter ist im Moment auf Distanz zu mir gegangen. Und du sitzt hier und siehst absolut fantastisch aus, weil Leo es mag, seine Frauen in kostbare Kleider zu hüllen. Ich hoffe nur, du bist glücklich mit ihm, cara, und es stört dich nicht, ihn mit seiner verrückten Exfrau zu teilen.“
Mit einer lässigen Bewegung legte Rico sein ultramodernes Handy vor ihr auf den Tisch. „Wirf mal einen Blick darauf.“
Natasha neigte den Kopf. Anfassen wollte sie das Gerät nicht. Ansehen eigentlich auch nicht. Rico würde sie nicht zum Spaß auffordern, sein Handy zu bewundern. Ebenso wenig hatte er Gianna nicht ohne Grund erwähnt.
Auf dem Display war ein Bild von Leo zu sehen. Die wunderschöne Gianna hielt ihn eng umschlungen. Sie standen vor einem Gebäude, das wie ein Hotel aussah. „Leo, bitte“, hörte sie Giannas flehende Stimme in ihrem Kopf. „Sie braucht es doch nie zu erfahren.“
Vor ihrem geistigen Auge lief der Film weiter. Leo fuhr mit dem Finger über Giannas rot geschminkte Lippen. „Okay.“ Er beugte sich vor und küsste sie. „Ich komme mit dir.“
Dann gingen sie gemeinsam die Treppe zum Hotel hinauf.
„Paris“, beantwortete Rico die Frage, die Natasha nicht zu stellen wagte. „Gestern, um genau zu sein. Du kannst Datum und Uhrzeit des Bildes kontrollieren, falls du möchtest.“ Er deutete auf das Handy. „Ich habe zwei Stunden auf ihn gewartet, aber er ist nicht wiedergekommen. Was glaubst du, cara, haben die beiden in den zwei Stunden gemacht?“
Natasha sagte nichts. Sie erinnerte sich an die Szene vor einigen Wochen, als sie auf der Schwelle zu Ricos Büro gestanden hatte und Zeugin seines Betrugs an ihr geworden war. Nun war sein Handy die Türschwelle, von der aus sie zum zweiten Mal miterleben musste, wie sie betrogen wurde.
Wortlos griff sie nach dem Stift und setzte ihren Namen unter das Dokument. Dann stand sie auf und verließ das Café.
Hätte sie sich noch einmal umgedreht, hätte sie sehen können, wie der Leibwächter neben Ricos Stuhl stehen blieb. Aber sie wandte sich nicht um. Auch die graue Limousine würdigte sie keines Blickes, als sie an ihr vorbeiging.
Leo kam in der Villa an, als Natasha ihre Tasche packte.
„Was zur Hölle hast du mit Rico zu schaffen?“, fragte er sie wutentbrannt.
Natasha gab keine Antwort.
„Ich habe dich etwas gefragt!“ Er griff nach ihrem Arm und wirbelte sie zu sich herum. Erst jetzt nahm er die gepackte Tasche auf dem Bett wahr. Aufgebracht sah er sie an. „Wenn du glaubst, du könntest mich für ihn verlassen, solltest du besser noch einmal nachdenken!“
Natasha lächelte nur.
Das Lächeln traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. „Du Miststück“, fuhr er sie an und ließ ihren Arm los. „Ich kann nicht fassen, dass du mir das antust!“
„Warum nicht?“, sagte Natasha endlich.
Es war, als würde man zusehen, wie ein gewaltiger Felsen von einem Erdbeben erschüttert wurde. „Du hast ihm das Geld überschrieben“, flüsterte er schließlich heiser.
„Ja, das habe ich“, erwiderte sie fröhlich. „Rufst du jetzt die Polizei?“
Leos Körper versteifte sich. „Du bist meine Frau.“
„Das stimmt wohl.“
Ihr trockener Tonfall weckte sein Misstrauen. „Was willst du damit andeuten?“
Natasha zuckte die Schultern. „Unsere Ehe war doch nichts anderes, als eine Form von Erpressung, um die liebe Gianna wieder auf Linie zu bringen.“
„Wechsel nicht das Thema. Gianna hat überhaupt nichts damit zu tun.“
„Im Gegenteil“, schrie jetzt auch Natasha. Dann atmete sie tief ein und riss sich zusammen. Fast hätte sie ihm erzählt, was sie wusste, und das wollte sie auf keinen Fall. Er sollte nicht sehen, wie verletzt sie war. Er durfte nie erfahren, wie sehr er ihr heute wehgetan hatte! „Ich war dabei, falls du dich erinnerst. Bis die liebe Gianna aufgetaucht ist, war ich nur die kleine Diebin, mit der du dich sechs Wochen im Bett amüsieren wolltest, bis du dein kostbares Geld zurückbekommen würdest. Mit dieser Hochzeitsidee wolltest du doch nur deine Exfrau bestrafen, weil sie in dein Schlafzimmer geplatzt ist, während du mit mir beschäftigt warst!“
„Das ist nicht wahr!“
„Doch, ist es. Was hast du in London noch gleich zu mir gesagt? Sechs Wochen Spaß im Bett, dann würde ich aus deinem Leben verschwinden. Tja, die sechs Wochen sind um, ich habe das Geld verfügbar gemacht. Und deshalb gehe ich jetzt.“
Sie wandte sich um und griff nach ihrer Reisetasche. Sie schaffte es nicht, auch nur den Riemen zu berühren, da war Leo schon an ihrer Seite, umfasste ihre Arme und drehte sie zu sich herum. Entsetzen und Wut spiegelten sich in seinen Augen.
„Um zu ihm zurückzugehen?“
„Gerade du musst doch wissen, was man über die Wahl zwischen zwei Übeln sagt.“
Damit bezog sie sich auf Gianna, nichts anderes konnte sie gemeint haben. „Du weißt über Paris Bescheid.“
„Ich hasse dich, Leo. Du bist ein kalter und berechnender Teufel. Trotz all seiner Fehler ist Rico zehn Mal mehr wert als du.“
„Glaubst du das wirklich?“
„Ich weiß es.“ Natasha versuchte, sich ihm zu entziehen.
Sein Griff wurde fester. „Dann sag Hallo zu dem Teufel“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und presste seine Lippen auf ihre.
Schon früher war Wut die treibende Kraft hinter ihren Küssen gewesen. Bislang waren daraus oftmals glorreiche Nächte entstanden. Dieser Kuss war anders. Natasha wollte Leo nicht küssen, nur ihr Körper hörte nicht auf sie.
Sie hasste ihn, aber schon die kleinste Berührung von ihm reichte aus, und sie stand in Flammen. Und das dünne Kleid, das sie trug, war auch kein wirklicher Schutz. Leo öffnete den Reißverschluss am Rücken, das Kleid glitt über ihren Körper zu Boden.
„Lass mich los“, herrschte sie ihn an.
„Erst wenn du mich nicht mehr willst“, erwiderte er mit rauer Stimme.
Und dann küsste und streichelte er sie wieder und forderte sie heraus, ihn doch zurückzuweisen. Dabei wusste er genau, dass sie das nicht konnte!
Schließlich hob er sie, ohne den leidenschaftlichen Kuss auch nur eine Sekunde zu unterbrechen, auf seine Hüften. Unwillkürlich schlang sie die Beine um seinen Körper.
Dann ließ er sie aufs Bett gleiten und streifte seine eigenen Kleider ab. Als er nackt und bedrohlich vor ihr stand, empfand sie nur Lust, keine Furcht.
„Leo … bitte“, appellierte sie an seine Vernunft.
„Leo … bitte“, imitierte er sie. „Du hast ja keine Ahnung, was diese Worte in mir auslösen.“
Er kam zu ihr ins Bett und spreizte ihre Beine mit seinen. „Erzähl ja Rico später davon.“
Was als Nächstes passierte, sandte Natasha in eine andere Welt, die nur aus den wundervollsten Sinneseindrücken zu bestehen schien. Sie rief lustvoll seinen Namen und wand sich unter ihm, um die Empfindungen noch zu intensivieren.
Und Leo fuhr einfach fort, sie in dem unglaublichen Schwebezustand zwischen leidenschaftlicher Qual und dem verzweifelten Wunsch nach Erfüllung zu halten. Sobald sie protestieren wollte, erstickte er ihre Worte mit stürmischen Küssen.
Schließlich jedoch konnte auch Leo den Höhepunkt nicht länger herauszögern. Der wütende Ausdruck in seinen Augen wich purem Verlangen.
Die Erlösung durchzuckte Natasha wie ein elektrischer Blitz. Auch Leo reagierte mit derselben Heftigkeit.
Die ganze Sache hatte nur wenige Minuten gedauert, und doch fühlte Natasha sich völlig erschöpft und ausgelaugt.
Leo hingegen wirkte energiegeladen wie immer. Er stieß einen verächtlichen Laut aus und stand auf. Nachdem er seine Kleider aufgesammelt hatte, spazierte er ohne einen Blick zurück aus dem Schlafzimmer.
Noch lange blieb Natasha auf dem Bett liegen. Sie versuchte zu begreifen, was da gerade passiert war. Sie hasste sich, weil sie sich ihm so schnell hingegeben hatte. Und sie verachtete sich, weil sie ihn noch dazu ermutigt hatte.
Als sie endlich die Kraft fand, sich zu bewegen, stand sie auf und zog die ersten Sachen an, die sie zu fassen bekam.
Dann ging sie. Niemand hielt sie auf. Sogar der Wächter sagte nichts, öffnete nur das eiserne Tor für sie.
Leo stand auf der Terrasse und sah ihr nach. Sie hatte sich noch nicht einmal die Zeit genommen, ihre Frisur in Ordnung zu bringen. Und sie trug wieder das verdammte blaue Kostüm.
Er wandte sich ab. Bitterkeit und Schmerz schnürten ihm die Kehle zu. Er trat durch die geschwungene Glastür ins Zimmer und betrachtete das Bett. Auf dem Kopfkissen lag ein Briefumschlag.
„Leo“ stand darauf. Aus Furcht vor dem Inhalt drohten seine Beine, unter ihm nachzugeben. Trotzdem hob er den Umschlag auf.
Ein zufällig vorbeikommendes Taxi nahm Natasha auf. Ein paar Minuten später befand sie sich auf dem Weg zum Flughafen. Erst als sie sich auf dem Sitz zurücklehnte, fiel ihr auf, dass sie zielsicher nach ihrem blassblauen Kostüm gegriffen hatte.
Wie passend, dachte sie. Vielleicht sollte ich es in einer Glasvitrine aufbewahren, damit ich nie vergesse, was für eine Närrin ich gewesen bin. Als Mahnmal dafür, dass alle Männer Lügner und Betrüger sind.
Am Flughafen wimmelte es von Menschen. Ein Platz in einem Flugzeug nach London zu ergattern, erwies sich als unmöglich.
„Vielleicht gibt es kurzfristig eine Stornierung, Kyria Christakis“, sagte der junge Mann von der Reservierungsstelle. „Ansonsten sind alle Plätze für die nächsten zwei Tage ausgebucht.“
„Was ist mit einem anderen Flughafen?“ Ihre Stimme begann zu zittern. Schon konnte sie die ersten Anzeichen einer aufsteigenden Panik spüren. „M … Manchester oder Glasgow. Es spielt wirklich keine Rolle, solange ich irgendwie nach England komme.“
Denn warum soll ich überhaupt nach London zurückkehren? fragte sie sich gerade, als jemand seine Hand auf ihre Schulter legte.
Erschrocken tat Natasha einen Satz zur Seite. In ihren Gedanken war sofort das Bild lebendig, dass diese Hand einem Polizisten gehörte.
Dann sagte jemand: „Das wird nicht notwendig sein.“