Langsam, ganz langsam erkannte Natasha, wer vor ihr stand. Und dann hielt Leo sie auch schon fest in seinen Armen. Unterdessen hob Rasmus ihre Tasche auf.
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, war sie von seinen Sicherheitskräften umringt, die sie durch den Flughafen eskortierten. Wohin sie gingen, konnte Natasha nicht sehen.
Türen öffneten sich wie durch Zauberhand. Plötzlich fand sie sich auf der Rollbahn wieder und steuerte auf einen Helikopter zu, dessen Rotorblätter sich soeben in Bewegung setzten.
Ihre Panik entlud sich. „In das Ding steige ich nicht ein.“ Unvermittelt blieb Natasha stehen. Die Sicherheitskräfte kamen ins Straucheln, um einen Zusammenstoß zu verhindern.
Natasha entzog sich Leos Griff, wirbelte herum und marschierte den Weg zurück, den sie gekommen war. Leo rief ein Kommando, was die kräftigen Männer auseinanderstieben ließ. Blitzschnell hatte er Natasha in die Arme gehoben und trug sie die restlichen Meter zum wartenden Hubschrauber.
Angesichts der wirbelnden Rotorblätter zog Natasha ängstlich den Kopf ein. Erst als sie auf dem Sitz saß, wagte sie, wieder aufzusehen. In dem Moment, in dem er sie losließ, schlug sie mit den Fäusten auf ihn ein.
Er ignorierte sie und schloss ihren Sicherheitsgurt. Ihre Schläge prallten wirkungslos an ihm ab.
„Ich hasse dich“, stieß sie immer wieder hervor. „Ich hasse dich!“
„Spar dir das für später auf“, sagte er nur. Noch nie hatte sie sein Gesicht so verschlossen gesehen.
„Warum tust du das?“
Leo gab keine Antwort, sondern trat einen Schritt zurück. Dafür kletterten nun sechs Sicherheitsmänner in schwarzen Anzügen in den Hubschrauber. Auf einmal fürchtete sie, Leo könne sie an einen entlegenen Ort schicken, wo dann die Männer irgendetwas Schreckliches mit ihr anstellen würden.
„Leo“, rief sie ängstlich. „Bitte, lass mich nicht allein.“
Aber er hatte ihr schon den Rücken zugewandt. Ohne ein freundliches Wort ging er um den Helikopter herum und nahm den Platz neben dem Piloten ein.
Binnen Sekunden befanden sie sich in der Luft und flogen über die in der Sonne glitzernde Ägäis. Natasha schloss die Augen, um die Panik zurückzudrängen. Wenigstens ist Leo bei mir, wiederholte sie immer wieder in Gedanken.
Leo riskierte einen raschen Blick in den Spiegel, der über den Kontrollinstrumenten im Cockpit angebracht war. Natasha hatte die Augen geschlossen, ihre Unterlippe zitterte, und sie umklammerte wieder ihre Handtasche, als sei sie ihr Rettungsanker. Das blaue Kostüm, die Handtasche, ihr Gesichtsausdruck – alles war genauso wie damals in London, als er sie auch praktisch entführt hatte.
Abgesehen von ihrer Frisur. Ihr Haar war nicht hochgesteckt, sondern umspielte in weichen Wellen ihr bleiches und wunderschönes Gesicht.
Der Flug dauerte nicht lange. Sie landeten, als die Sonne gerade unterging und den Himmel in ein rotgoldenes Licht tauchte.
Kaum hatten sie den Boden berührt, da zerrte Natasha auch schon an ihrem Sicherheitsgurt. Rasmus war ihr beim Aussteigen behilflich. Auf zitternden Beinen blieb sie neben dem Hubschrauber stehen.
Leo eilte zu ihr. Er sah genau wie der dunkle Fremde aus, für den sie ihn früher immer gehalten hatte.
Er braucht eine Rasur, fiel ihr auf. Und er trug dieselben Kleider, die er im Schlafzimmer aufgesammelt hatte.
Sie verspürte ein flaues Gefühl im Magen, das sie im Augenblick allerdings nicht weiter ergründen wollte.
„Sollen wir?“, fragte er und trat einen förmlichen Schritt zur Seite, eine schweigende Aufforderung, vorauszugehen.
Sie bogen um eine Hecke und standen unvermittelt vor einer zweistöckigen Villa mit von der Sonne ausgebleichten, weißen Wänden. Keine Haushälterin kam, um sie zu begrüßen. Und die Leibwächter schienen einfach verschwunden zu sein.
Leo öffnete die Eingangstür und führte sie durch einen in Pastelltönen gehaltenen Flur in ein Wohnzimmer, wie man es normalerweise nur in Magazinen zu sehen bekam.
„Wo sind wir?“, konnte Natasha sich nicht verkneifen zu fragen. Neugierig schaute sie sich um. Dieses Haus unterschied sich völlig von Leos anderen Domizilen, die sie bereits kennengelernt hatte.
Nichts erinnerte an die schwere antike Einrichtung des Londoner Stadthauses, ebenso wenig wie an die ultramoderne Innenarchitektur der Villa in Athen.
Nein, dieses Haus bot eine sehr klassische Art von Luxus. Großformatige Gemälde hingen an den Wänden und die handgefertigten Möbel mussten ein Vermögen gekostet haben.
„Auf meiner Inselzuflucht.“
Meinte er damit etwa die gesamte Insel?
Unter anderen Umständen wäre Natasha durchaus beeindruckt gewesen, aber sie weigerte sich, sich von irgendetwas, was er tat oder sagte, beeindrucken zu lassen.
Ganz still blieb sie neben der Tür stehen, die Handtasche fest gegen die Brust gepresst. „Ist das hier mein neues Luxusgefängnis?“, fragte sie mit eisiger Stimme.
„Nein.“ Leo schlenderte quer durch das Zimmer, um sich einen Drink einzuschenken.
„Heißt das, ich kann gehen, wann immer ich will?“
„Nein“, sagte er noch einmal.
„Dann ist es ein Gefängnis.“ Sie wandte den Blick von ihm ab.
Zu ihrem Entsetzen knallte er das Glas auf den Tisch, durchquerte den Raum mit wenigen Schritten und küsste Natasha fordernd auf den Mund.
Nie hatte es einen ähnlichen Kuss zwischen ihnen gegeben. Dieser schien in der Unergründlichkeit von Leos Wesen zu beginnen und als pures Gefühl in Natasha zu strömen. Er erschütterte sie zutiefst. Als Leo sich zurückzog, konnte sie ihn nur verwirrt anschauen.
Abrupt wandte er ihr den Rücken zu. „Tut mir leid“, murmelte er. „Es war nicht meine Absicht …“
„Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht“, sagte sie. „Du hast mich vom Flughafen weg entführt, mich in deinen Helikopter gezerrt und mir eine Mordsangst eingejagt. Dann bringst du mich in dieses Traumhaus und wagst es, mich so zu küssen!“
Leo antwortete nicht.
„Was willst du von mir, Leo?“, rief sie aufgebracht.
„Nichts“, erwiderte er. „Ich will gar nichts von dir. Ich will nur nicht, dass du mich verlässt.“
Dann verwirrte er sie noch mehr, weil er auf die Terrassentür zutrat, diese öffnete und aus dem Zimmer ging.
Natasha blickte ihm nach und wünschte, sie würde ihn verstehen. Plötzlich stieg die alte Wut wieder in ihr auf. Nein, einen Mann wie Leo wollte sie nicht verstehen. Nur seine letzte Bemerkung sollte er ihr erklären.
Sie folgte ihm nach draußen. Mittlerweile stand die Sonne schon tief am Himmel und blendete sie. Jedoch erkannte sie sofort, dass Leo nicht da war. Sie schirmte ihre Augen ab und entdeckte sein weißes Hemd. Er ging durch einen üppigen Garten auf das blaue Meer zu.
Als sie eine niedrige Mauer erreichte, die den Strand vom Garten trennte, stand Leo an der Wasserkante, die Hände tief in die Hosentaschen gesteckt und schaute auf den unendlichen Ozean hinaus.
„Was soll das alles?“, rief sie. „Warum tust du das? Wenn es um das Geld geht, brauchst du nur …“
„Ich will das Geld nicht.“
Mehrere Meter von ihm entfernt blieb Natasha stehen. „Dann hast du den Umschlag gefunden?“ Er nickte. „Was willst du dann noch?“, fragte sie hilflos.
Weil er immer noch keine Antwort gab, konnte sie die Tränen nicht mehr länger zurückhalten.
Natasha ließ sich auf das Mäuerchen sinken, weil ihre Beine nun endgültig unter ihr nachgaben.
„Du bist so arrogant, Leo“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Allem und jedem gegenüber verhältst du dich zynisch. Du glaubst, jeder Mensch will dich auf die eine oder andere Weise über den Tisch ziehen. Deine Exfrau will deinen Körper, ich will dein Geld, Rico will in deine Fußstapfen treten und wie du sein. Meiner Meinung nach wärst du besser dran, wenn du arm und hässlich wärst. Dann könntest du zumindest mit dem Wissen glücklich sein, dass niemand dich um deiner selbst willen mag!“
Er lachte, auch wenn sie es gar nicht witzig gemeint hatte. Natasha schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, der sie zu ersticken drohte. „Du liebst es zu sehen, dass dein Misstrauen bestätigt wird!“
„Beziehst du dich damit auf das, was heute Nachmittag passiert ist?“
Er sprach also doch noch mit ihr! „Ja“, sagte sie. „Du bist mit der Erwartung ins Schlafzimmer gestürmt, dort eine untreue Ehefrau vorzufinden. Also hast du mich entsprechend behandelt.“
„Ich dachte, du hättest Rico das Geld überschrieben. Das hat mich … sehr verletzt.“
„Du hättest einfach eine Erklärung fordern können, anstatt deine eigenen Schlüsse zu ziehen.“
Unvermittelt drehte er sich um und kam auf sie zu. „Was hast du denn dann unterschrieben?“, fragte er neugierig.
„Die Zugriffsermächtigung für ein leeres Konto“, erwiderte sie schulterzuckend. „Schon gestern habe ich das Geld auf mein privates Konto überwiesen. Auch den Einzahlungsbeleg wollte ich dir gestern geben, aber wir … wurden abgelenkt.“
Zuerst von Gianna, dann von einem Nachmittag voller …
Etwas fiel in ihren Schoß. Verwirrt blinzelnd schaute sie den weißen Briefumschlag an. „Was ist das?“
„Sieh es dir an.“
Natasha betrachtete den Umschlag eine Ewigkeit, bevor sie sich dazu durchringen konnte, ihn zu öffnen. Unterdessen hatte die Dämmerung eingesetzt, aber das Licht reichte noch, um den Inhalt zu erkennen.
„Ich verstehe nicht ganz“, murmelte sie schließlich.
„Rasmus hat es Rico abgenommen“, erklärte Leo. „Weißt du, Natasha, du besitzt definitiv mehr Ehre als ich. Selbst als er dir die Bilder von mir und Gianna in Paris gezeigt hat, hast du dich nicht an mir gerächt und ihm das Geld überschrieben.“
Sie wollte nicht über Gianna und den Vorfall in Paris reden. Allein bei der Erinnerung daran wurde ihr ganz schlecht. „Das Konto war leer“, wiederholte sie.
„Trotzdem hast du mit Natasha Christakis unterschrieben, nicht mit Natasha Moyles. Und das bedeutet, Rico hat keinen Zugriff auf das Konto, egal ob es leer ist oder nicht.“
„Was wirfst du mir dann vor?“, fragte sie.
„Nichts.“ Leo seufzte.
„Wie hast du Rico dazu gebracht, dir die Papiere auszuhändigen?“
„Rasmus hat ihn … überredet.“
„Der gute alte Rasmus“, spottete sie. Ihr fiel ein, wie der Leibwächter sein Handy zückte, kaum dass Rico das Café betreten hatte. Schade, dass Rasmus’ Loyalität nicht auch ihr galt. Sonst hätte er es vielleicht für seine Pflicht gehalten, ihr von der Nacht zu erzählen, die sein Arbeitgeber in Paris verbracht hatte.
Diese Erinnerung brachte sie wieder auf die Beine. „Besitzt dieses Gefängnis ein Schlafzimmer, in das ich mich flüchten kann?“
„Mein Schlafzimmer.“
„Eher friert die Hölle zu, Leo“, teilte Natasha ihm kühl mit. „Selbst für dich werde ich in Zukunft zu teuer sein.“
„Dann nenn mir deinen Preis.“
Am liebsten hätte Natasha ihm irgendeine obskure Summe an den Kopf geworfen, nur um zu sehen, wie er darauf reagierte! Aber das tat sie nicht. Letztendlich entschied sie sich für unverblümte Ehrlichkeit. „Ein rascher Weg von dieser Insel und eine noch raschere Scheidung!“ Damit wandte sie sich um und ging zurück zum Haus.
„Einverstanden“, rief Leo, woraufhin sie nach nur zwei Schritten wie angewurzelt stehen blieb. „Für eine weitere Nacht mit mir im Bett kümmere ich mich um deine Abreise von der Insel.“
„Ich kann nicht fassen, dass du das überhaupt zu sagen wagst“, flüsterte sie.
„Warum nicht? Ich bin der weltgrößte Zyniker, der glaubt, jeder ist käuflich. Wenn dein Preis Flucht und eine Scheidung ist, agape mou, dann bin ich bereit, dafür zu bezahlen.“
Natasha setzte sich wieder in Bewegung. Sie zitterte vor Wut. Leo folgte ihr. Mit einem Mal fühlte er sich verjüngt und – viel wichtiger – sehnte sich nach einem heftigen Streit. Was er heute Nachmittag getan hatte, war unverzeihlich. Das hatte er schon eingesehen, als er ihr nachgesehen hatte, wie sie sein Grundstück verließ. Was seine wunderschöne und stolze Ehefrau gerade unwissentlich getan hatte, war, ihm den Schlüssel zu seiner Erlösung und die letzte Chance, sie zurückzugewinnen, an die Hand zu geben.
„Bleib einfach weg von mir“, schrie sie, als sie seine Schritte näher kommen hörte.
„Ich bin wahnsinnig in dich verliebt … wie könnte ich da wegbleiben?“
Natasha wirbelte zu ihm herum. Qual schimmerte in ihren blauen Augen. „Was weißt du denn schon über Liebe, Leo?“
„Und du?“, schoss er zurück. „Warst du nicht in Rico verliebt?“
Natasha atmete tief ein, dann setzte sie ihren Weg zum Haus fort.
Immer noch folgte Leo ihr. „Weißt du, ich bin maßlos eifersüchtig auf Rico“, sagte er, als sie die Terrassentür erreicht hatten. „Ich war eifersüchtig, seit ich ihn das erste Mal mit dir gesehen habe. Aber ich wollte mir nicht eingestehen, was mit mir los war und weshalb ich dich beständig angegriffen habe.“
„Mit deinen sarkastischen Kommentaren, die darauf zielten, dass ich mich ganz klein fühlte?“
„Ich wollte, dass du mich beachtest … Was suchst du?“
„Du bist mir aufgefallen, Leo. Wo ist meine Handtasche?“
„Auf dem Boden, wo ich dich vorhin geküsst habe.“ Er deutet auf eine Stelle neben der Tür. „Du musst die Tasche fallen gelassen haben, um für den Fall der Fälle ungehindert mein Temperament zügeln zu können.“
Rot vor Scham ging Natasha zu ihrer Handtasche hinüber und hob sie auf. Dann verließ sie das Zimmer.
„Denk doch mal genau nach, agape mou, hast du mich jemals mit einer anderen Frau gesehen, seit wir uns das erste Mal begegnet sind?“
„Wie wäre es mit Gianna in deinem Schlafzimmer, die mich ein Flittchen und lausigen Ersatz für sich genannt hat? Wie wäre es mit Gianna in Paris, die dich in ein kuscheliges Hotel lockt, um mit dir … zu reden?“
Leo seufzte. „Ich kann das mit Gianna erklären. Sie …“
„Sehe ich so aus, als würde mich diese Erklärung interessieren?“ Sie schritt auf die Treppe zu. Wohin die Stufen führten, wusste sie nicht. Aber es passte Leo sehr gut, dass sie diesen Weg eingeschlagen hatte.
„Die mittlere Tür rechts“, meinte er. „Mein Zimmer. Mein Bett. Das Angebot gilt noch. Ich lege sogar noch ein Candle-Light-Dinner am Strand drauf … Verdammt!“
Er hätte es voraussehen müssen. Schließlich hatte er sie zu dieser Reaktion provoziert, seit er sich entschieden hatte, in die Offensive zu gehen. Aber zu erleben, wie sie sich auf die oberste Treppenstufe sinken ließ, das Gesicht hinter den Händen verbarg und anfing zu weinen, hatte nicht auf seiner Rechnung gestanden.
Sofort war Leo bei ihr, kniete vor ihr und zog sie an seine Brust. „Nein“, flüsterte er. „Keine Tränen, Natasha. Du solltest doch mit den Fäusten auf mich losgehen, damit ich deine Hände festhalten und dich küssen kann.“
„Ich hasse dich“, weinte sie. „Du bist so …“
„Abscheulich, ich weiß. Es tut mir leid.“
„Du hältst mich für eine Diebin.“
„Ich habe nie auch nur für eine Sekunde geglaubt, dass du mich bestohlen hast“, widersprach er. „Ich besitze eine gespaltene Persönlichkeit. Ich kann eifersüchtig auf Rico sein und gleichzeitig anerkennen, dass du der ehrlichste Mensch der Welt bist.“
Das Schluchzen verstummte und verebbte zu einem leisen Schniefen. „Das war nicht, was du gesagt hast, als du mich gezwungen hast, mit dir nach Griechenland zu fliegen.“
„Ich habe um meine Frau gekämpft. Und ich war bereit, alles dafür zu sagen oder zu tun.“
„Heute Nachmittag hast du dich rücksichtslos verhalten.“
„Unverzeihlich“, stimmte er zu. „Gib mir noch eine Nacht in unserem Bett. Dann werde ich alles wiedergutmachen.“
„Und morgen darf ich gehen?“
„Ah.“ Das war alles, nur ein wehmütiges Ah. Aber Natasha wusste, sie hatte ihn überrumpelt.
„Und ich habe immer daran geglaubt, dass du die Wahrheit sagst.“ Stirnrunzelnd betrachtete sie ihre Finger. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie angefangen, mit den Knöpfen an seinem Hemd zu spielen. „Das war das einzig Erträgliche an dir.“
„Ich dachte, das sei der fantastische Sex.“
Natasha schüttelte den Kopf. Immer noch war ihr Blick auf das bronzefarbene Dreieck an seinem Hals gerichtet. Sie atmete seinen Duft ein. Warm und männlich und verführerisch. Sie öffnete einen weiteren Knopf.
„Das ist gefährlich, Natasha“, warnte er und legte seine Hände auf ihren Rücken.
Zu spät. Sie beugte sich vor und küsste ihn.
Leo erhob sich und zog sie mit sich. Dann presste er ihren Körper an sich. „Weißt du, was du bist?“, fragte er, während er sie in sein Schlafzimmer trug. „Du bist eine verflixte Verführerin.“
„Bin ich nicht!“
„Du sagst, du hasst mich, und trotzdem küsst du mich. Wenn das keine Verführung ist, dann weiß ich es auch nicht.“
„Ich werde trotzdem nicht mit dir schlafen!“
„Nein?“ Er löste seine Umarmung und ließ sie aufs Bett fallen. Bevor sie sich rühren konnte, lag er auch schon neben ihr und widmete sich den Knöpfen ihres blassblauen Kostüms.
Unter der Jacke kam ein fliederfarbenes Mieder aus Seide zum Vorschein. „Wenn ich daran denke, wie viele Jahre ich mit stilvollen raffinierten Frauen stilvollen raffinierten Sex gehabt habe“, murmelte Leo und zog am Reißverschluss ihres Rockes.
„Ich will nichts über deine anderen Frauen hören“, protestierte Natasha und versuchte, ihn davon abzuhalten, sie weiter auszuziehen.
„Ich wollte auf etwas Bestimmtes hinaus. Nämlich dass Sex ohne verrückte, wilde und leidenschaftliche Gefühle langweilig ist. Nicht, dass du das jemals herausfinden wirst.“
„Vielleicht schon … nach dieser Nacht.“
„Heißt das, du bleibst heute Nacht bei mir?“
„Möglich“, erwiderte sie kühl. „Das kommt darauf an, was du mir über Gianna und Paris erzählst. Und ob ich mich entschließe, dir zu glauben.“
„Ah.“ Da war es wieder, dieses kleine Ah, das besagte: Natasha, du hast mich überrumpelt.
Leo machte es sich auf dem Bett neben ihr gemütlich. „Wir sind in kein Hotel in Paris gegangen“, fing er an. „Vielmehr war es eine exklusive Privatklinik, die absichtlich wie ein Hotel gestaltet ist. Rico wusste das natürlich, weil Gianna schon unzählige Male zuvor dort gewesen ist.“
„Eine Klinik, die wie ein Hotel aussieht? Sehr praktisch. Als Nächstes erzählst du mir, dass du sie zufällig auf der Treppe getroffen hast.“
„Nein. Ich habe sie hingebracht.“ Leo seufzte. „Die Tatsache, dass sie dich mit ihren Nägeln ernsthaft verletzt hat, hat mich dazu veranlasst. Du musst etwas über Giannas Vergangenheit wissen, um sie zu verstehen. Ich habe diese Dinge erst nach unserer Hochzeit erfahren. Sie ist kein schlechter Mensch, nur das Produkt einer schlechten Erziehung. Ihre sehr reichen Eltern haben ihr beigebracht, dass Liebe und Sex dasselbe sind.“
„Oh, das ist ja furchtbar“, murmelte Natasha.
„Wir waren erst seit ein paar Monaten zusammen, da hat sie mir gesagt, sie sei schwanger. Natürlich habe ich sie geheiratet, warum auch nicht?“, schien er sich fast selbst zu fragen. „Sie war wunderschön und würde bald die Mutter meines ersten Kindes werden. Zwei Wochen nach der Hochzeit habe ich sie im Bett mit einem anderen Mann erwischt. Sie hat behauptet, es habe nichts zu bedeuten … aber mir hat es eine ganze Menge ausgemacht.“
„Also hast du sie rausgeworfen?“
„Ich bin gegangen“, erklärte er. „Eine Woche später hat sie das Baby verloren. Mir war so elend zumute, wie noch nie in meinem Leben. Und Gianna hat ihren ersten Zusammenbruch erlitten. Damals ist sie auch zum ersten Mal in die Klinik in Paris gegangen. Weil sie mir leidtat und weil sie jemanden brauchte, der sich um sie kümmert, habe ich sie wieder zu mir geholt.“
„Weil du sie geliebt hast.“
Leo wandte den Kopf. In dem dunkler werdenden Zimmer funkelten seine Augen. „Ich habe nicht erwartet, dass unsere Ehe so verlaufen wird, wie es dann geschehen ist. Aber geliebt habe ich sie, so wie du das Wort verstehst, nie. Aber sie war und ist mir wichtig. Und glaub mir, es gibt sonst niemanden, der für sie sorgt.“
Natasha drehte sich auf die Seite, damit sie ihn besser ansehen konnte. „Also … passt du auf sie auf?“
„Ich schlafe nicht mit ihr.“
„Danach habe ich nicht gefragt.“
„Aber du denkst es“, las er ihre Gedanken. „Ich habe seit ihrem ersten Klinikaufenthalt nicht mehr mit Gianna geschlafen. Außerdem hat sie sowieso gleich nach unserer Rückkehr nach Athen einen anderen Liebhaber aufgetan.“ Er zuckte die Schultern. „Dass sie Sex als Ersatz für Liebe sieht, ist nicht ihre Schuld, aber ich konnte so nicht leben.“
„Okay. Sie ist dir also immer noch wichtig. Du passt auf sie auf. Aber du schläfst nicht mit ihr“, zählte sie auf. „Erwartest du, dass auch ich sie als Teil meines Lebens akzeptiere?“
„Verdammt, nein!“ Unvermittelt richtete Leo sich auf und küsste ihre Lippen. „Das ist vorbei. Sie hat meine letzten Schuldgefühle vernichtet, als mir klar wurde, was für ein ungeheurer Zufall es ist, dass ausgerechnet Rico uns vor der Klinik gesehen hat.“
„Ich verstehe nicht ganz, was du meinst.“
„Gianna ist sehr gut darin, Menschen zu manipulieren. Ebenso wie Rico. Sie wollte, dass du aus meinem Leben verschwindest, er wollte an das Geld. Zusammen haben die beiden ihre kleine Verschwörung ausgetüftelt, um ihre Ziele zu erreichen.“
„Oh, das ist so krank.“
„Können wir jetzt aufhören, über Gianna und Rico und lieber über dich und mich sprechen? Was willst du, Natasha?“
Natasha senkte ihren Blick auf seinen Mund. Nein, kein Lächeln. Die Frage war ernst gemeint.
Was wollte sie?
Sie hob die Hand, strich leicht über seine nackte Brust und hörte, wie er scharf den Atem einsog. Im allerletzten Sonnenstrahl leuchtete der Ring an ihrem Finger auf.
Natasha sah auf, schaute Leo in die Augen, in seine dunklen ernsten Augen. „Dich“, flüsterte sie. „Ich will nur dich.“
Verletzlich, schoss es Leo durch den Kopf. Sie ist so unglaublich verletzlich. Ihre Unterlippe zitterte, als habe Natasha selbst jetzt noch Angst, sich ihm zu öffnen.
Er atmete tief ein. „Ich habe meine Meinung über dein Kostüm geändert“, meinte er. „Ich liebe es. Es erinnert mich an die Frau, in die ich mich ganz zu Anfang verliebt habe.“
„Miss Hochgeschlossen?“
„Miss überaus sexy Hochgeschlossen“, erläuterte er und rückte ein Stückchen von ihr ab, damit er alle Knöpfe wieder schließen konnte. Dann zog er sie vom Bett und schob auch noch den Reißverschluss des Rockes nach oben.
„Warum tust du das?“
„Ich habe etwas vergessen.“ Jetzt kamen auch seine Hemdknöpfe an die Reihe.
Er ergriff ihre Hand und zog Natasha aus dem Schlafzimmer, die Treppe hinunter, durch das Wohnzimmer und auf die Terrasse hinaus.
Hatte Natasha eben noch leise Enttäuschung verspürt, blieb sie jetzt überrascht stehen. Während sie im Schlafzimmer gewesen waren, hatte sich die Terrasse völlig verändert.
Unzählige Kerzen erhellten die Nacht. Bernice wandte sich gerade von einem Tisch ab, der für zwei gedeckt war. „Kalispera.“ Sie lächelte. „Soll ich das Essen auftragen?“
Leo antwortete auf Griechisch, dann führte er Natasha an ihren Platz und zog ihr höflich den Stuhl zurück.
„Was geht hier vor?“, fragte sie verwundert.
„Wenn ich einen Plan entwerfe, halte ich mich normalerweise auch daran“, erklärte der Mann mit der rauen Schale und dem weichen Kern. „Das ist die Überraschung, die ich dir versprochen habe. Ich sehe, du hast sie auch vergessen.“
„Oh“, sagte Natasha. Daran hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht.
Lächelnd setzte Leo sich ihr gegenüber und ergriff ihre Hände. „Natasha, das ist mein Zuhause. Mein wirkliches Zuhause. Die anderen Häuser sind nur praktische Lösungen, falls ich länger in der jeweiligen Stadt bleiben muss. Aber diese Insel ist meine wahre Heimat.“
„Ja, sie ist … sehr schön“, erwiderte sie und fragte sich, wohin das führen mochte.
„Mehr als schön. Sie ist etwas Besonderes!“ Er richtete den Blick fest auf sie. „Ich habe mich in dich verliebt, agape mou. Den Teil habe ich vorhin ein bisschen vermasselt. Aber es stimmt. Ich liebe dich. Falls es noch nicht zu spät wäre, würde ich dich jetzt bitten, mich zu heiraten. Aber auch das habe ich bereits getan. Alles, was mir zu fragen bleibt, ist, ob du hier mit mir leben möchtest, Natasha? Möchtest du mein Haus mit mir teilen und unsere Kinder hier großziehen? Möchtest du einen zynischen Griechen zu einem glücklichen Mann machen?“
Natasha hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte. Sie hatte nicht erwartet, jemals diese Worte von ihm zu hören.
„Und das ist deine Überraschung?“, fragte sie schließlich.
Ein Zucken durchlief seine Finger. Offensichtlich war das nicht die Antwort, auf die er gehofft hatte. „Bis ich heute Nachmittag mein Bestes getan habe, um meine Chancen zu vernichten.“ Er nickte. „Habe ich sie vernichtet?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Dann sag etwas mehr … Ermutigenderes“, drängte er ungeduldig.
„Ja, bitte“, entgegnete sie.
Leo murmelte etwas, das sie nicht verstand. Dann lehnte er sich auf dem Stuhl zurück. „Es muss an dem Kostüm liegen.“ Er lachte, doch es war kein fröhliches Lachen. „Würdest du mir erklären, was dein ‚Ja, bitte‘ bedeutet?“
Natasha runzelte die Stirn. „Du erwartest wirklich, dass ich es dir buchstabiere, oder?“
„Theos, wenn du mich nicht liebst, dann habe ich mir zum zweiten Mal eine kleine Lügnerin als Frau angelacht. Denn alles, was du tust, sagt mir, dass du mich liebst!“
„Na schön, ich liebe dich!“, verkündete sie hitzig. „Ich liebe dich. Aber ich bin immer noch wütend auf dich, Leo. Diese Worte fallen mir also nicht leicht.“
„Wütend worüber? Ich habe mich doch schon entschuldigt für …“
„Du hast mich zu Tode erschreckt, als du mich über den Flughafen gezerrt hast.“
„Glaub mir, ich hatte viel größere Angst. Ich dachte, ich würde dich vielleicht nicht mehr rechtzeitig erreichen!“
„Oh.“
„Oh“, wiederholte er und stand auf. „Wir gehen zurück ins Bett.“
„Das können wir nicht“, widersprach sie. „Bernice …“
„Bernice!“, rief Leo lautstark. „Warten Sie mit dem Dinner. Wir gehen wieder ins Bett.“
„Warum musst du nur so unverblümt sein?“, fragte Natasha beschämt.
„Okay … Ihr macht jetzt die hübschen Babys“, drang die ruhige Antwort zu ihnen.
„Selbst Bernice weiß, dass unverblümt am besten ist.“ Grinsend wandte Leo sich der Verandatür zu.
„Okay.“ Mit blitzenden Augen blieb Natasha stehen. „Ich liebe dich, Leo. Ich verstehe zwar nicht, warum, weil du mich, ganz unverblümt gesagt, ständig zur Weißglut bringst. Aber …“
Leo zog sie an sich und küsste sie. Unwillkürlich schlang sie die Arme um seinen Nacken.
„Deshalb liebst du mich“, sagte er, als er den Kuss unterbrach.
„Da könntest du recht haben“, erwiderte Natasha, den Blick fest auf seinen sinnlichen Mund gerichtet. Sie hob den Kopf und sah ihm tief in die Augen. „Wir sollten das einfach noch mal überprüfen, meinst du nicht auch?“
– ENDE –