6. KAPITEL

„Das ist ja krankhaft, wie du alles unter Kontrolle bringst“, sagte Freya abweisend. „Am liebsten würdest du mich wohl abservieren, damit du Nicolo ganz unter deine Fuchtel bringen kannst.“

„Eine verlockende Vorstellung“, erwiderte Enrico betont gelassen. „Ich werde darüber nachdenken.“

„Vielleicht verschwinde ich auch ohne deine Hilfe“, antwortete sie wütend. „Immerhin habe ich ja Freunde.“

Das passte ihm nicht. „Etwa männliche Freunde? Gibt es da einen Mann, der dein Verschwinden finanzieren würde?“

„Kann schon sein“, behauptete sie.

Die Atmosphäre in der Limousine war plötzlich eisig. Damit hat er nicht gerechnet, dachte Freya zufrieden. Er ist tatsächlich arrogant genug, sich einzubilden, dass es gar keinen anderen Mann in meinem Leben geben kann.

„Wer ist der Mann?“, fragte Enrico ärgerlich.

Sie lächelte triumphierend. „Das geht dich gar nichts an.“

„Du solltest es mir trotzdem verraten, wenn du den Wagen lebend verlassen willst.“

„Sag Fredo, er soll mir meinen Sohn bringen, dann überlege ich es mir vielleicht.“

„Wir reden von deinem Verschwinden, nicht von dem meines Sohnes. Du kannst selbstverständlich gehen, aber mein Sohn bleibt bei mir.“

Das sagt ja wohl alles, dachte Freya verbittert, gab aber noch immer nicht auf. „Es sei denn, der andere Mann meint, ältere Rechte an Nicky zu haben.“

Sie spricht von Luca! Enrico war außer sich. Sein Herz klopfte plötzlich zum Zerspringen, als ihm das bewusst wurde. Er konnte Freyas Blick nicht standhalten und wandte sich ab.

Fast tat er ihr schon wieder leid. Doch er hatte ihr den Sohn weggenommen, um sie gefügig zu machen. Sie dachte gar nicht daran, ihre Bemerkung zurückzunehmen.

Als der Wagen kurz darauf hielt, stieg Freya schnell aus und überließ den erschütterten Enrico auf dem Rücksitz seinen Gedanken an den verhassten Cousin.

Nervös blickte sie um sich. Die Nachmittagssonne hatte die weiße Fassade des im georgianischen Stil erbauten Hauses in gleißendes Licht getaucht. Offensichtlich war Enrico aus seinem Wohnblock ausgezogen, wo er vor drei Jahren noch gelebt hatte, und residierte nun in einem eleganten Stadthaus.

Wäre die Stimmung zwischen ihnen nicht auf dem Nullpunkt gewesen, hätte Freya ihn über das schöne Haus ausgefragt. Doch sie beschloss, lieber zu schweigen, als sie gemeinsam das elegante Foyer betraten.

Eine wunderschöne Treppe führte zur nächsten Etage. Bevor Freya Gelegenheit hatte, sich weiter umzusehen, öffnete sich eine Tür am anderen Ende der Eingangshalle, und ein mit weißem T-Shirt und engen Jeans bekleideter Mann kam ihnen entgegen.

Das war ja Sonny! Er war etwa im selben Alter wie Enrico und arbeitete für ihn als Koch und Butler. Der Mann sah fantastisch aus, interessierte sich aber leider nur für Männer, ein Umstand, aus dem er kein Geheimnis machte.

„Also habe ich doch richtig gehört“, sagte er zu Enrico, bevor er sich Freya zuwandte. „Ciao, meine Süße, lange nicht gesehen. Wie ich höre, hast du inzwischen einen Sohn bekommen.“

„Ja“, antwortete sie. Ob Sonny auch annahm, dass Nicky Enricos Sohn war?

Sonny hatte damals seinen freien Tag gehabt, als Luca zu Besuch gekommen war. Also hatte Sonny die Ereignisse nur aus zweiter Hand erfahren. Enrico, Fredo und Sonny waren gemeinsam auf dem riesigen Anwesen der Ranieris aufgewachsen. Fredo und Sonny waren Enricos beste Freunde und arbeiteten für ihn. Wenn Sonny Enricos Version gehört hatte, dann sah er wohl jetzt Luca Ranieri vor seinem geistigen Auge.

Enrico wurde unruhig. „Du könntest uns einen Kaffee machen“, sagte er zu Sonny.

„Klar.“ Mit ausdrucksloser Miene sah er seinen Boss an. „Übrigens sind Freyas Sachen vor fünf Minuten eingetroffen. Ich habe sie in das Zimmer dort hinten bringen lassen.“

„Okay, danke.“

Nach einem kurzen Blick auf Freya nickte Sonny und verließ die Eingangshalle durch die Tür, durch die er kurz zuvor gekommen war.

Enrico hatte Freya eine Hand auf den Rücken gelegt und übte nun sanften Druck aus, damit Freya weitergehen sollte. Die Spannung zwischen ihnen war fast unerträglich.

Kurz darauf befanden sie sich in dem Zimmer, wo Sonny Freyas Sachen untergebracht hatte. Es handelte sich um ein großes Zimmer mit einer Veranda, die in einen von Mauern eingefassten Garten führte. Der von der Zimmerdecke hängende Kristalllüster funkelte in der Nachmittagssonne in allen Regenbogenfarben.

Ziemlich luxuriös, dachte Freya, die an der Tür stehen geblieben war, um die Pracht auf sich wirken zu lassen. Besonders gut gefielen ihr die geschmackvollen Möbel. Einige waren wertvolle Antiquitäten.

Enricos alte Wohnung war ganz anders eingerichtet gewesen, auch luxuriös, aber hypermodern. Dort hatte sie sich recht schnell eingelebt, aber hier … Auch für einen zweijährigen Wirbelwind war das Haus denkbar ungeeignet.

Enrico schob sie weiter ins Zimmer.

Als Enrico zur Verandatür ging, entdeckte Freya das halbe Dutzend Umzugskartons hinter der Tür und zuckte zusammen. Da drin befand sich ihr gesamtes Hab und Gut. Davor stand Nickys rotgelber Laster, auf dem er so gern durch die Gegend fuhr. Das Spielzeug wirkte hier natürlich völlig fehl am Platz!

„Hier können wir nicht wohnen“, sagte Freya leise.

Enrico, der gerade die Verandatür aufmachen wollte, fuhr herum. Dann blieb er reglos stehen, denn nun hatte auch er die Kartons und den bunten Laster entdeckt.

In diesem Moment spürte er, wie Freya zumute gewesen sein musste, als sie ihre gesamte Habe in einer dunklen Ecke seines großen Hauses aufgestapelt gesehen hatte. Sie hatte keine Familie mehr, war völlig auf sich allein gestellt, musste ihren Sohn großziehen und konnte es sich nicht einmal leisten, zum Friseur zu gehen, und nun wurde sie mit all diesem Luxus konfrontiert.

Nachdenklich betrachtete Enrico den Laster. Er sah seinen Sohn vor sich, wie er auf dem Gefährt saß und über Eichendielen und kostbare Teppiche raste und gegen Tischbeine von erlesenen Möbeln stieß. Oder war der Kleine doch Lucas Sohn?

Die Vorstellung war für ihn unerträglich. Ob er den größten Fehler seines Lebens beging? Nein, ich glaube nicht, dachte er.

„Aber ich möchte es gern“, sagte er aus tiefstem Herzen.

Freya musste gespürt haben, wie aufgewühlt er war, denn sie wandte sich zu ihm um und sah ihn mit großen grünen Augen an. Sie wirkte so verletzlich, dass es ihm fast das Herz brach. Aber sie war auch diejenige gewesen, die Luca wieder ins Spiel gebracht hatte.

„Ich muss los“, sagte er unvermittelt und wandte sich zum Gehen um.

„Aber du hast doch gesagt …“, wandte Freya erstaunt ein.

„Sonny kann dich durchs Haus führen. Such dir Zimmer für dich und Nicky aus, verstau deine Sachen oder sonst was. Ich komme später wieder.“

Die Tür ging hinter ihm zu, und Freya überlegte, was Enrico dazu bewogen hatte, seine Meinung zu ändern und so unvermittelt zu verschwinden.

Tat es ihm bereits leid, sie und Nicky zu sich geholt zu haben? Fragte er sich, worauf er sich da eingelassen hatte?

In diesem Moment betrat Sonny mit einem Kaffeetablett in den Händen das Zimmer. Er wirkte besorgt.

„Wenn du die Situation kommentieren willst, tu es bitte gleich, dann haben wir es hinter uns“, sagte Freya ärgerlich. „Wenn nicht, stell das Tablett irgendwohin, und verschwinde einfach wieder.“ Dann wandte sie sich ab, ließ sich in den nächsten Sessel sinken und brach in Tränen aus.

Doch er ermunterte Freya, ihren Kaffee zu trinken und ein Stück seines köstlichen, selbst gebackenen Schokoladenkuchens zu essen. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, nahm er einen der Kartons auf und bot ihr an, sie durchs Haus zu führen.

Die Stadtvilla war sehr weitläufig. Außer dem eleganten Salon gab es noch ein Esszimmer, eine Bibliothek, einen Wohnraum und eine Küche im Erdgeschoss. Im ersten Stock befand sich Enricos Schlafzimmer mit angrenzendem Badezimmer. Freya konnte Enricos Zimmer nicht schnell genug den Rücken zukehren. Daneben gab es noch vier weitere Schlafzimmer mit dazugehörigen Bädern. Erstaunlicherweise war ein Raum bereits als Kinderzimmer hergerichtet. Als Freya Sonny nach dem Grund fragte, zuckte er nur die Schultern und meinte, Enrico wüsste wahrscheinlich gar nichts davon, denn er habe das Haus möbliert und unbesehen erworben. Freimütig erzählte Sonny, Enrico sei eine Woche nach der Trennung von Freya hier eingezogen, habe aber nur gelegentlich hier übernachtet.

Sie wählte den Raum neben dem Kinderzimmer für sich. Er war am weitesten von Enricos Schlafzimmer entfernt. Sonny sorgte dafür, dass die Kartons hochgetragen wurden, und Freya begann widerstrebend auszupacken.

Zwei Stunden später traf Nicky ein. Es war Fredos finsterer Miene anzusehen, dass er genug hatte von seinem Job als Kindermädchen eines energiegeladenen kleinen Jungen.

Sowie Nicky Freya entdeckte, streckte er die Ärmchen nach ihr aus. „Mummy!“

„Hier, nimm ihn, er ist müde“, brummelte Fredo.

Müde war gar kein Ausdruck. Der Kleine war schmutzig, roch etwas streng und war schlecht gelaunt.

„Hast du Spaß gehabt, Liebling?“, fragte sie zärtlich.

„Ich habe die Affen gefüttert“, nuschelte er. „Daddy mochte die Tiger am liebsten.“

Daddy? Freya warf Fredo einen fragenden Blick zu.

„Enrico ist uns in den Zoo gefolgt, nachdem er einen Kindersitz für seinen Wagen besorgt hat“, erklärte er. „Dann hat er uns hier abgesetzt und ist zu Hannard gefahren. Er will noch zwei Stunden arbeiten.“

Das erklärte aber noch lange nicht, wieso ihr Sohn Enrico plötzlich Daddy nannte.

Fredo wusste genau, was sie beschäftigte. „Soll Nicky etwa Enrico zu ihm sagen?“

Freya wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie hatte den Eindruck, von den Ereignissen überrollt zu werden. Außerdem litt sie noch immer unter Kopfschmerzen. Wenn Nicky Enrico bereits Daddy nannte, dann schien alles erschreckend endgültig.

„Ich will nach Hause“, quengelte Nicky.

Und damit haben wir das nächste Problem, dachte sie. Bildete Enrico sich ein, er könne sie einfach entwurzeln und problemlos verpflanzen? Glaubte er wirklich, es mache ihn zum Vater, wenn er mit Nicky in den Zoo ging und sich „Daddy“ nennen ließ?

„Ich möchte dir erst zeigen, was ich oben gefunden habe“, schlug sie sanftmütig vor. „Daddy hat ein riesiges Haus mit der größten Badewanne, die du je gesehen hast.“

Der Kleine hob müde seinen dunklen Lockenkopf. „Ich will aber meine Badewanne.“

„Aber in dieser kannst du schwimmen“, sagte Freya mit einem aufmunternden Lächeln. „Und es gibt ganz viel Schaum und Seifenblasen.“

Das neue Kinderzimmer gefiel Nicky jedoch nicht. Auch die große Badewanne beeindruckte ihn wenig.

Als Freya ihn zwei endlos lange Stunden später schließlich gebadet, gefüttert und in den Schlaf gesungen hatte, war sie so erschöpft, dass sie direkt in ihr eigenes Schlafzimmer ging, sich auszog, duschte und ins Bett schlüpfte.

Enrico lehnte an der Tür und betrachtete Freyas Haar, das ausgebreitet auf den Kopfkissen lag. Sie ist mit feuchtem Haar ins Bett gegangen, dachte er. Er konnte sogar das Shampoo riechen.

Er hatte auch gerade geduscht und strich sich nun übers nasse Haar. Enrico war müde und ungehalten, denn Sonny redete kein Wort mehr mit ihm, weil man ihn nicht rechtzeitig auf die Neuankömmlinge vorbereitet hatte.

Es ist ja wohl nicht meine Aufgabe, hinter deinen Frauen herzuräumen, hatte er Enrico an den Kopf geworfen. Und es war auch nicht sein Job zu beobachten, wie das kleine Monster seine Mutter traktierte, die völlig erschöpft war.

Aber jetzt schlief das sogenannte Monster im Nebenraum wie ein Engel.

Mein Sohn, dachte Enrico. Nachmittags hatte er sich mit Fredo und Nicolo im Zoo getroffen, um dem Kleinen nahe zu sein. Da hatte er auch gespürt, dass er sein Vater war. Wenn er jedoch von dem Kleinen getrennt war, kamen ihm daran wieder Zweifel.

Er hatte kurz zuvor seinen schlafenden Sohn beobachtet, und nun betrachtete er Freya. Sie hatte bei Nicolo und in ihrem Zimmer die Nachttischlampen brennen lassen, damit der Junge sich in der neuen Umgebung orientieren konnte, wenn er plötzlich aufwachte. Die Verbindungstür war nur angelehnt. Vermutlich deshalb, damit Freya Nicolo hörte, falls er sich nachts meldete.

Enrico ahnte plötzlich, was es bedeutete, ein kleines Kind um sich zu haben. Man durfte die Kleinen keine Sekunde aus den Augen lassen, und selbst im Schlaf musste man mit halbem Ohr lauschen, ob auch alles in Ordnung war. Enrico seufzte und nahm sich vor, so schnell wie möglich ein Kindermädchen zu engagieren.

Jetzt ging er aufs Bett zu, in dem Freya vor Erschöpfung eingeschlafen war. Ich muss den Druck aufrechterhalten, dachte er, zog den Bademantel aus und legte ihn auf einen Stuhl. Dann lüftete Enrico die Bettdecke und legte sich zu Freya.

Sie reagierte, als die Matratze neben ihr runtergedrückt wurde, und Enrico sie an sich zog.

„Enrico“, wisperte sie.

Immerhin hatte sie seinen Namen genannt.

„Pst.“ Er küsste sie zärtlich. „Schlaf weiter.“

Am nächsten Morgen wurde Freya von dem Geräusch klirrenden Porzellans geweckt und hatte das Gefühl, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Erschrocken schlug sie die Augen auf und sah Sonny über sich gebeugt, der ihr ein Frühstückstablett reichte.

„Ciao“, sagte er zur Begrüßung. „Hier ist Orangensaft, Tee und Toast, wie es dein Sohn für dich bestellt hat. Er ist heute früh übrigens viel liebenswürdiger.“

Nicky! „Wie spät ist es denn?“, fragte Freya beunruhigt und setzte sich hastig auf. „Wo ist Nicky?“

„Es ist halb neun, und dein Sohn ist mit seinem Vater und Fredo unterwegs zum Bankenviertel, damit du ausschlafen kannst.“ Er stellte das Tablett auf ihren Schoß, sodass sie nicht einfach aus dem Bett springen und Zeter und Mordio schreien konnte.

„Enrico lässt ausrichten, du sollst in Ruhe frühstücken und duschen und ihn bei Hannard anrufen, wenn du dich beruhigt hast.“ Sonny zeigte auf eine Notiz auf dem Tablett. Das ist seine private Handynummer. So kannst du ihn direkt erreichen. Ach, und hier habe ich dir noch eine Zeitung mitgebracht. Der Artikel da könnte dich interessieren.“ Er lehnte die aufgeschlagene Zeitung an die Teekanne und verließ dann das Zimmer.

Schon wieder war Enrico mit Nicky unterwegs! Zum ersten Mal seit über zwei Jahren hatte sie verschlafen. Sie hatte nicht einmal Nickys Geplapper gehört, von dem sie sonst jeden Morgen geweckt wurde.

Ihr Blick fiel auf die Zeitung, und sie begann, den Artikel zu überfliegen, auf den Sonny sie aufmerksam gemacht hatte. Dreißig Sekunden später stieß sie das Frühstückstablett zur Seite und sprang aus dem Bett. Im nächsten Moment entdeckte sie, dass jemand neben ihr gelegen haben musste. Ihr wurde heiß. Der vertraute Traum fiel ihr wieder ein.

„Ich fasse es einfach nicht“, sagte sie laut zu sich selbst, angelte sich ihr Handy aus der Handtasche, setzte sich aufs Bett und gab Enricos Nummer ein.

Als Enrico sich meldete, wusste sie nicht, was sie ihm zuerst an den Kopf werfen sollte.

„Du … hast in meinem Bett geschlafen“, stieß sie aufgebracht hervor.

Enrico lehnte sich entspannt in seinem Schreibtischsessel zurück und sah aus dem Fenster. „Auch dir einen guten Morgen, mi amore“, sagte er lässig mit seiner wohlklingenden Stimme. „Du hast mich wie ein Oktopus umklammert, aber das habe ich mir gern gefallen lassen.“

„Du lügst!“

„Und du hast mich mit einer Sehnsucht geliebt, als wäre ich dein vor langer Zeit verloren geglaubter Liebster.“

„Das ist nicht wahr. Niemals!“

„Du warst wunderbar und so unersättlich.“

„Hör auf, mich auf den Arm zu nehmen, Enrico!“

„Wenn ich nicht befürchtet hätte, dass unser Sohn vielleicht schlafwandeln und ins Zimmer kommen könnte, wäre ich außerstande gewesen, dir zu widerstehen. Aber so …“

„Ich will das nicht hören.“

„Aber dann verpasst du ja das Beste. Als ich dich nämlich gefragt habe, wer Nicolos Vater ist, hast du gesagt: ‚Du, Enrico‘.“

Schweigen.

Triumphierend wartete Enrico, bis Freya sich von dem Schock erholt hatte.

„Ich habe geschlafen.“

„Und im Schlaf hast du mir gesagt, wo und wie ich dich liebkosen soll.“

Ihr stockte der Atem. Träumte sie? Dann war es ein Albtraum.

Enrico stand auf. Noch immer meinte er Freyas Küsse zu schmecken und ihre Hände auf seinem Körper zu spüren. Er spürte nach wie vor, wie sie sich an ihn gedrängt und ihr warmer Atem sein Gesicht gestreift hatte, als sie leise zugegeben hatte: „Er ist dein Sohn, Enrico.“

„Du hast mich angefleht, dich zu liebkosen, cara, du hast meine Hand genommen und sie dorthin gelegt, wo du am liebsten berührt werden wolltest. Und dann hast du einen wunderbaren Höhepunkt erreicht, und ich …“

Plötzlich wurde die Verbindung unterbrochen, was Enrico wenig überraschte. Wütend setzte er sich wieder und blickte starr aus dem Fenster.

Freya ließ sich auf die Kissen zurücksinken und schloss die Augen. Ihr Herz pochte zum Zerspringen. Sie bekam kaum Luft.

Ihr Traum! Der Traum, den sie in den vergangenen Jahren so oft gehabt hatte, hatte sich letzte Nacht wiederholt. Aber es war kein Traum gewesen!

Jetzt erinnerte sie sich, was geschehen war. Sie hatte fest geschlafen, als Enrico zu ihr ins Bett geschlüpft war und sie an sich gezogen hatte. Schlaftrunken hatte sie sich von ihm küssen lassen und „Enrico“ geflüstert. Und er hatte gesagt, sie solle weiterschlafen. Das hatte sie auch versucht. Und dann war da wieder dieser Traum gewesen.

Enrico hatte die Zungenspitze in ihren Mund gleiten lassen, und der Rest war …

… absolut schamlos gewesen!

Während des Telefongesprächs hatte sie sich nicht einmal nach Nicky erkundigt. Von Schuldgefühlen getrieben, drückte sie jetzt auf die Wiederholungstaste.

„Du hast mir schon wieder meinen Sohn gestohlen“, sagte sie rau.

„Unser Sohn ist dort, wo er jeden Morgen um diese Zeit ist: in meiner Kinderkrippe, wo mein ausgezeichnetes Personal vorbildlich um sein Wohlergehen bemüht ist.“

Das klang so besitzergreifend, dass es Freya schwindlig wurde.

„Aber ich habe ihn heute Morgen noch gar nicht zu Gesicht bekommen“, beklagte sie sich.

„Was soll ich denn sagen? Ich habe ihn zwei Jahre lang nicht gesehen“, wandte Enrico ein.

„Du willst dich also dafür rächen, oder? Du trennst mich von meinem Kind und bestrafst damit Nicky.“

„Ich bestrafe niemanden, sondern versuche lediglich, das Beste aus dieser verfahrenen Situation zu machen. Nun wein doch nicht, Freya“, bat er sie, als er ihr unterdrücktes Schluchzen hörte. „Du hast keinen Grund dazu. Unserem Sohn geht es gut. Ich habe ihm erklärt, dass du noch sehr müde bist und deinen Schlaf brauchst. Das hat er verstanden. Er hat dir einen Kuss auf die Wange gegeben und gelacht, als du im Schlaf gelächelt hast. Ich durfte ihn dann waschen und anziehen, wobei er bestimmt hat, was er tragen wollte. Sonny hat er dann erlaubt, ihm Frühstück zu machen, und Fredo durfte ihn zur Kinderkrippe bringen. Der Kleine hat wirklich seinen eigenen Kopf.“

„Und ich bin völlig überflüssig. Das ist wohl eine große Genugtuung für dich, Enrico.“

„Nein, denn er braucht natürlich seine Mutter. Du musst also für ihn da sein, solange er dich braucht. Und ich werde immer als Vater für ihn da sein, bis er auf eigenen Füßen stehen kann. Gewöhn dich daran, Freya.“

„Hast du deshalb die Hochzeitsanzeige aufgegeben? Enrico Ranieri freut sich, seine Hochzeit mit Miss Freya Jenson, der Mutter seines zweijährigen Sohnes, bekannt zu geben. Die Trauung findet in drei Wochen statt.

„Damit ist allen Klatschtanten der Wind aus den Segeln genommen“, erklärte Enrico. „Ich denke nämlich nicht daran, Nicolo zum Gespött der Leute zu machen, nur weil wir versucht haben, die Wahrheit zu verbergen.“

Wenn man Enricos Erklärung Glauben schenken wollte, dann war dies eine sehr romantische Wendung der Ereignisse.

„Er wird sehr beeindruckt sein, wenn er alt genug ist, die Anzeige zu lesen“, sagte Freya unwillig. „Pass mal auf, Enrico“, fügte sie dann hinzu. „Du wirst mich zwar zur Frau haben, aber du wirst mich nie wieder besitzen.“

Weil ihr Herz für Luca schlägt? Enrico umfasste den Hörer fester. „Und Nicolo muss niemals erfahren, dass seine Mutter ihren Geliebten betrogen hat, vorausgesetzt, sie versucht das nie wieder. Damit kannst du dich schon mal abfinden.“

An diese Drohung musste Freya während der nächsten Woche immer wieder denken. Enrico hatte sie völlig in der Hand.

Vor ein paar Tagen war sie mit Sonny unterwegs gewesen, um sich neu einzukleiden, und hatte bei ihrer Rückkehr zur Mittagszeit Fredo und Nicky mit einer netten Kindergärtnerin vorgefunden.

Sie hieß Lissa, war jung, dunkelhaarig und sprach fließend Englisch und Italienisch. Wie sich herausstellte, hatte Lissa den Morgen mit Nicky in der Krippe verbracht, damit der Kleine sich an sie gewöhnen konnte. Als Freya die beiden zusammen sah, wirkten sie bereits wie alte Freunde.

Als Nächstes musste sie feststellen, dass ihr Schlafzimmer geräumt worden war, damit Lissa dort einziehen konnte. Ihre eigenen Sachen fand sie in Enricos Zimmer – wo sonst? Freya rächte sich, indem sie ihm mit Eiseskälte begegnete. Und Enrico zahlte es ihr heim, indem er nicht ein einziges Mal versuchte, sie an sich zu ziehen.

Am Frühstückstisch spielten sie jeden Morgen die glückliche Familie. Freya winkte Nicky lächelnd nach, wenn er mit Enrico, Lissa und Fredo aus dem Haus ging, und ließ ihren Gefühlen nur freien Lauf, wenn sie allein und unbeobachtet war.

Nicky sollte langsam von der Kinderkrippe entwöhnt werden, damit ihm die Trennung nicht so schwerfiel, wenn er mit seinen Eltern und Lissa nach Mailand zog. Um die Mittagszeit lieferte Fredo den Kleinen in der Stadtvilla ab, und Freya durfte ihre Rolle als Mutter wieder übernehmen.

Und Nicky brauchte sie. Denn in wessen Arme rettete er sich, wenn er getröstet werden wollte oder müde und hungrig war? In Freyas. Doch wie lange würde das anhalten?

Eines Tages würde sie vielleicht nicht mehr so wichtig sein für ihren Sohn.

Jeden Morgen war sie mit Sonny unterwegs, kaufte ein und ließ sich verschönern, damit Enrico Ranieri sich seiner zukünftigen Frau nicht schämen musste.

Die Paparazzi folgten ihr und Sonny auf Schritt und Tritt. Sie ignorierte alle ihre impertinenten Fragen und anzüglichen Bemerkungen, bis ein Reporter sie eines Morgens fragte, ob Enrico sie vor drei Jahren auch einfach so abserviert habe, wie er es vergangene Woche mit Sofia Romano getan habe.

Sonny wollte sie schnell in einen Brautmodenladen ziehen, als die Frage gestellt wurde.

„Wer ist sie?“, fragte Freya, als sie im Geschäft standen. Sonny war plötzlich verschlossen wie eine Auster, und das beunruhigte Freya sehr.

„Das darfst du mich nicht fragen“, behauptete er abweisend.

Also fand Freya es selbst heraus. Die Zeitungen waren schließlich voll davon. Als ein anderer Reporter sie fragte, ob Enrico wirklich so fantastisch im Bett sei, wie ihre Vorgängerin behauptet hatte, sagte sie nur: „Vielleicht beliebt Miss Romano zu übertreiben.“

Die Paparazzi lachten amüsiert. Sonny stöhnte nur, und Freya kochte vor Wut.

Als Fredo um die Mittagszeit mit Lissa und Nicky nach Hause kam, verließ Freya mit dem Kleinen das Haus durch den Hintereingang und blieb den ganzen Nachmittag über fort.

Enrico lachte nicht, als er hörte, was sie zu den Reportern gesagt hatte, und in der darauffolgenden Nacht zeigte er ihr, was für ein fantastischer Liebhaber er sein konnte.