Enrico hörte Nicky in der Küche sprechen und fand seinen Sohn dort mit Sonny vor, dem er half, Teig durch die Nudelmaschine zu drehen. Doch Freya war nirgends zu sehen.
Die beiden Köche blickten ihn lächelnd an. Auch er rang sich ein Lächeln ab, das jedoch sofort verflog, als er die Küche wieder verließ und nach oben ging. Er entdeckte Freya im Schlafzimmer, wo sie inmitten ihrer Einkäufe auf dem Bett saß und den Kopf in den Händen barg.
Bei ihrem Anblick empfand Enrico sofort Mitleid, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte. Er schloss die Tür mit einem Knall und ging langsam auf Freya zu.
Erschrocken nahm Freya die Hände vom Gesicht und sprang auf. Statt tiefer Verzweiflung malte sich nun Wut auf ihrem schönen Gesicht. „Ich habe dich doch gebeten …“
Doch bevor sie weiterreden konnte, küsste Enrico sie hart. Schockbehandlung ist jetzt das Einzige, was hilft, dachte Enrico, und umfasste ihre Arme, damit sie ihn nicht wegstoßen konnte. Er spürte, wie sie am ganzen Körper bebte, und doch erwiderte sie seine Küsse, wie sie es bisher immer getan hatte – sehnsüchtig und verlangend, als könnte sie gar nicht anders.
Das war Enricos einzige Waffe, die er Freya gegenüber hatte. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, Freya aufs Bett zu zwingen und seine Sehnsucht zu stillen und durch ein erregendes Liebesspiel vergessen zu machen, was in der vergangenen Stunde passiert war.
Doch dann tauchte wieder die Szene mit Luca und ihr vor drei Jahren vor seinem geistigen Auge auf und erstickte jegliches Verlangen im Keim.
„Du …, du …“
„Sei still, cara. Ich habe jetzt keine Zeit für weitere Auseinandersetzungen.“ Er wandte sich um und ging zu einer hohen Kommode, schloss die oberste Schublade auf und betätigte darin einen Schalter. Ein über der Kommode hängendes Porträt einer georgianischen Lady glitt zur Seite und gab den Blick auf einen Safe frei.
Freya stockte der Atem. Sie hatte gar nicht gewusst, dass sich im Zimmer einer befand. Fasziniert beobachtete sie, wie Enrico ein dickes Bündel Geldscheine und einen Schnellhefter herausnahm. Beunruhigt fragte sie: „Was, um alles in der Welt, hast du vor?“
Doch Enrico gab ihr keine Antwort. Er machte lediglich den Safe wieder zu, bevor er die Schublade abschloss.
Freya kam zögernd näher. „Wenn du damit Luca zum Schweigen bringen willst, ist das hinausgeworfenes Geld“, sagte sie.
„Willst du mich lieber am Traualtar versetzen?“
„Ich will dich überhaupt nicht heiraten!“
„Dein Problem.“ Er steckte sich das Geld in die Tasche.
„Nun sei doch vernünftig, Enrico“, bat sie. „Es ist völlig gleichgültig, was du tust oder sagst, Luca wird dir immer wieder drohen. Wenn du ihm jetzt Schweigegeld zahlst, wird er immer wieder mit neuen Forderungen kommen.“ Sie machte einen weiteren Schritt auf Enrico zu. „Natürlich ist es nicht schön, was er der Presse erzählen kann. Es interessiert ihn auch nicht, dass er damit Nicky schadet. Es ist ihm auch egal, dass er Lügen verbreitet. Irgendetwas bleibt immer hängen, Enrico, und er will …“
„Ich weiß, was er will: meinen Kopf auf einem Silbertablett. Aber du hast anscheinend etwas missverstanden. Wann habe ich behauptet, das Geld sei für Luca bestimmt?“
Freya deutete auf den Schnellhefter. „Da steht sein Name drauf.“
„Tatsächlich.“ Er sah Freya an und lächelte frech. „Ich hatte ganz vergessen, dass du Adleraugen hast, cara. Es muss an dieser wunderschönen grünen Farbe liegen“, sagte er und war plötzlich bestens gelaunt. „Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie du einmal seitenweise Dokumente über Kopf gelesen hast und unseren Verhandlungspartner mit deinem Wissen schockiert hast. Du warst wirklich so etwas wie eine Bank, als du für mich gearbeitet hast. Als du gegangen bist, hat mir das richtig gefehlt.“
„Davon habe ich aber nichts bemerkt.“
„Sie sind wirklich wunderschön“, sagte er und kam näher. „Smaragdgrün und ausgesprochen scharf.“
Freya wich zurück.
„Warm und animierend“, fuhr er fort. „Verführerisch und abweisend zugleich.“
„Du lenkst vom Thema ab.“ Freya war so weit zurückgewichen, dass sie gegen die Bettkante stieß.
Enrico war Freya gefolgt und betrachtete sie mit einem so verlangenden Blick, dass ihr die Knie weich wurden. Sie streckte einen Arm aus, um Enrico davon abzuhalten, noch näher zu kommen. Gleichzeitig pochte ihr Herz aufgeregt. Immer geht es nur um Sex mit ihm, dachte sie. Warum eigentlich? Warum war es nur mit ihm so? Eigentlich war er doch gar nicht ihr Typ. Er war zu reich, sah zu gut aus und hatte viel zu viel Ausstrahlung – das war alles zu überwältigend für sie.
„Hör mir mal zu, Enrico“, begann sie daher betont sachlich, „diese Hochzeitsgeschichte …“
Er unterbrach sie jedoch sofort. „Wir waren uns doch einig zu heiraten. Wir haben zwei Wochen lang darüber geschlafen.“
„Aber es ist …“
„Unser Sohn erwartet von uns, dass wir heiraten. Die gesamte Hannard-Belegschaft und halb Europa erwartet das. Willst du mich jetzt etwa im Stich lassen und Luca meinen Kopf auf dem Silbertablett servieren?“
„Die Alternative wäre ein Riesenskandal“, gab Freya leise zu bedenken.
„Den überstehen wir.“
„Aber wenn du Luca glaubst, welche Chance haben wir dann, irgendwas zu überstehen?“
Das hat ihn getroffen, dachte Freya, als sie bemerkte, dass sich sein Gesichtsausdruck schlagartig verändert hatte.
„Du musst mir nur vertrauen, ich werde schon eine Lösung finden.“
Freya sah ihn erstaunt an. „Was hat das mit Vertrauen zu tun? Du erpresst mich, damit ich dich heirate, und Luca erpresst mich, damit ich es nicht tue.“
„Na ja, du steckst wirklich in der Klemme“, stellte er mitleidlos fest. „Du kannst mir deine Entscheidung in zwei Tagen vorm Traualtar mitteilen.“ Enrico drehte sich um und verließ das Zimmer.
Fassungslos sah Freya ihm nach.
Innerhalb einer Stunde war das Haus von Sicherheitskräften umstellt, doch dadurch fühlte Freya sich keinen Deut sicherer – im Gegenteil. Was hatte Luca Enricos Ansicht nach vor, dass er es für nötig befand, spezielle Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen? Oder hatte er das Wachpersonal zusammengezogen, damit sie nicht entkommen konnte?
Als Nächstes wurde ihr ein neues Handy überreicht. Es war der letzte Schrei in einem kühlen Grünton und sexy Design. Alle Telefonnummern, die in ihrem alten Gerät gespeichert waren, befanden sich auf dem Handy. Und Cindys neue Nummer war auch schon gespeichert. Und wo befand sich ihr altes Handy? Hatte Enrico es behalten?
Zum ersten Mal seit zweieinhalb Wochen lag Freya an diesem Abend allein im Bett. An Schlaf war nicht zu denken. Unruhig warf sie sich in dem großen Bett hin und her. Sie sehnte sich nach Enrico und verachtete sich gleichzeitig für ihre Gefühle.
Zweimal hatte sie schon nach dem Handy gegriffen, um Enrico anzurufen, und hatte es sich jedes Mal in letzter Sekunde anders überlegt und das Telefon aufs Bett geworfen.
Wo mochte er stecken? Was tat er? Hatte er schon die Konfrontation mit seinem Cousin gesucht? Hatten das Geldbündel und der Schnellhefter mit einer Auflistung von Lucas Schulden dafür gesorgt, dass Luca seinen Mund hielt? Wie viel Honorar zahlten die Gazetten eigentlich für Enthüllungsgeschichten?
Wahrscheinlich spielte das Geld gar keine große Rolle. Freya war sicher, dass es Luca nicht nur darum ging. Wahrscheinlich würde er alles nehmen, was er von Enrico bekommen konnte, und dann trotzdem seine Lügengeschichten verbreiten.
Auch Enrico fand keinen Schlaf. Nervös ging er in der im nächsten Stockwerk gelegenen Wohnung hin und her. Er sehnte sich nach Freya. Er sehnte sich so sehr nach ihr, dass es schmerzte. Sollte er zu ihr gehen?
Er warf sich aufs Bett, schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie auf der Seite lag, das wunderschöne Haar hinter ihr ausgebreitet. Ob sie eins dieser winzigen Seidennachthemden trug, die er ihr so gern auszog? Welche Farbe mochte es haben? Freya hatte ein ganzes Sortiment gekauft: in Schwarz, Weiß, Elfenbeinfarben, Rot und in einem Meergrün, das die Farbe ihrer Augen noch intensiver wirken ließ …
Freya stand auf und begann hin und her zu gehen. Sie war unruhig und besorgt. Warum hat er sich nicht gemeldet? überlegte sie. Er hätte ihr schon berichten können, was mit Luca war. Wollte er sie bewusst im Unklaren lassen?
Plötzlich piepte ihr Handy. Freya nahm es sofort in die Hand. Es war eine SMS von Enrico. „Fehle ich dir?“, fragte er.
Freya antwortete umgehend: „Nein“, teilte sie ihm mit, was ihr sofort leidtat, denn es wäre wohl besser gewesen, die SMS einfach nicht zu beachten. Jetzt wusste Enrico, dass er nicht der Einzige im Haus war, der noch wach war.
Nur mit einem Handtuch um die Hüften lag Enrico auf dem Bett und betrachtete lächelnd die Nachricht auf dem Handydisplay. Vielleicht bildete Freya sich ein, ihn zu hassen, aber immerhin war sie wach, was dafür sprach, wie sehr er ihr fehlte.
Seine Anspannung löste sich etwas, als er die zweite Nachricht abschickte: „Schwindlerin. Welche Farbe hat dein Nachthemd?“
Freya ließ den Blick über ihr winziges meergrünes Nachthemd gleiten und sah Enrico vor sich, der sie bewundernd anschaute und sie gar nicht schnell genug verführen konnte.
Ihr Körper reagierte dabei sofort: Ihre Brustspitzen richteten sich verlangend auf, und ihr Atem ging schneller. Ich hasse ihn, dachte Freya. Niemals würde sie ihm verzeihen, was er ihr angetan hatte.
Sie setzte sich im Schneidersitz aufs Bett, schob sich das Haar aus dem Gesicht und tippte die nächste SMS.
„Geht dich nichts mehr an“, las Enrico kurz darauf und verzog das Gesicht. Dann richtete er sich auf, um auch den Rest der Nachricht zu lesen. „Was ist mit Luca?“
Gute Frage! „Versuch, mir zu vertrauen, cara“, antwortete er.
„Vertrauen? Soll ich dich vorm Altar versetzen oder nicht?“
Dieses Biest, dachte Enrico und antwortete: „Das musst du wissen.“
Freya ließ sich in die Kissen sinken. Er forderte sie auf, Vertrauen zu ihm zu haben. Wie, um alles in der Welt, sollte sie ihm aber vertrauen?
„Ich hasse dich. Das weiß ich immerhin“, schrieb sie zurück, schaltete das Handy aus und warf es auf die Bettdecke.
„Und ich liebe dich über alles“, tippte Enrico ein, schickte die SMS jedoch nicht ab. Diese Liebeserklärung behalte ich lieber für mich, dachte er.
Freya legte sich auf die Seite und war den Tränen nahe. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie so einsam gefühlt. Enrico hatte es gut. Er hatte eine große Familie in Italien, die stets ein offenes Ohr für ihn hatte. Sie aber konnte sich niemandem anvertrauen. Selbst Cindy war eher eine Bekannte als eine gute Freundin. Außerdem stand sie auf Enricos Gehaltsliste und würde im Notfall wohl eher ihren Boss unterstützen als Freya.
Enrico vor dem Traualtar stehen zu lassen, kam für sie nicht infrage. Das würde Luca nicht zum Schweigen bringen, ebenso wenig wie Enricos Versuch, ihm Schweigegeld zu zahlen.
Wie gern hätte sie sich jemandem anvertraut, auch um sich selbst über ihre Gefühle klar zu werden. Doch sie hatte niemanden! Also musste sie allein zu einer Lösung kommen.
Du wirst also einen Mann heiraten, der denkt, dass auch andere Männer leichtes Spiel bei dir haben. Der Mann heiratet dich nur, weil er so seinem Sohn nahe sein kann.
Okay, er begehrt dich, kann gar nicht genug von dir bekommen, aber was passiert, wenn die Anziehungskraft nachlässt? Sucht er sich dann eine Geliebte? Würdest du das tolerieren – um Nickys willen?
Wenn du viele Verwandte und Freunde hättest, würdest du ihnen das alles anvertrauen? Natürlich nicht. Das ließe dein Stolz nicht zu. Dein Stolz und die Fürsorge für Nicky.
Ich liebe Enrico, dachte sie verzweifelt. Ich könnte ihn gar nicht hassen. Es fiel ihr nur schwer, sich das einzugestehen. Es fehlte ihr auch nicht die Familie, sondern Enrico. Ohne ihn war sie einsam und traurig.
Als auf Enricos Handy keine neue Nachricht mehr erschien, stand er auf, durchquerte das Zimmer und schlug den Schnellhefter mit den Informationen über Luca auf. Inzwischen waren einige enthüllende Fotos dazugekommen.
Das ist mein Schutz, dachte Enrico, meine Geheimwaffe gegen Luca. Wenn er weiß, was ich habe, wird er den Mund halten.
Er spielte mit dem Gedanken, zu Freya zu gehen und ihr die Fotos zu zeigen. Das würde die Situation klären. Dann würde er ihr gut zureden, ihn zu heiraten, und sie würden sich leidenschaftlich lieben.
Doch auf diese Weise würde er nie erfahren, ob sie ihm genug vertraute, ihn zu heiraten, auch ohne zu wissen, dass Luca seine Drohung gar nicht wahr machen konnte.
Außerdem wollte er sie mit den Neuigkeiten überraschen, als Gegenleistung für das Hochzeitsgeschenk, das sie ihm schon gegeben hatte.
Enrico schlug den Hefter wieder zu und schenkte sich einen hochprozentigen Drink ein. Das wird eine lange Nacht, dachte er und setzte sich in einen Sessel, statt ins Bett zu gehen.