1. KAPITEL

Der mit Walnussholz vertäfelte Raum strahlte die zeitlose Eleganz der alten Welt aus, und die Vorstellung, jemand könne in dieser Atmosphäre ungehobelt genug sein, um die Stimme zu erheben, schien geradezu absurd. Unter normalen Umständen wäre Anton Luis Ferreira Scott-Lee auch nie auf diese Idee verfallen.

Doch an der momentanen Situation war absolut nichts Normales, und die Wut in ihm ließ sich nicht zurückhalten, pulsierte im Hintergrund, wenn auch für den Augenblick wie in Eis verbannt.

„Ich werde zurücktreten müssen“, verkündete Anton und versetzte mit diesen Worten die beiden anderen Anwesenden im Raum in einen schockierten Zustand des Entsetzens.

Seine Mutter war mit fünfzig viel zu jung und viel zu schön, um Witwe zu sein – aber offensichtlich nicht zu jung, um, nachdem sie im zarten Alter von neunzehn geheiratet hatte, eine unrühmliche Vergangenheit zu vertuschen. Eine Vergangenheit, die sie nun einholte.

„Aber … meu querido …“ Sie erholte sich als Erste von dem Schock. „Du kannst unmöglich zurücktreten!“

„Ich habe wohl keine andere Wahl.“

Maria Ferreira Scott-Lee zuckte leicht zusammen, betroffen wandte sie den Blick ihrer braunen Augen von den harten Zügen ihres Sohnes ab.

„Sei nicht albern, Junge!“, stieß Maximilian Scott-Lee hervor. „Das hat absolut nichts mit der Bank zu tun! Wir sollten die Dinge schon in der richtigen Perspektive belassen!“

Max wollte Perspektive? Anton sah in das Gesicht des Mannes, den er sein ganzes Leben lang liebevoll „Onkel“ genannt hatte. Allerdings verspürte er im Moment den nahezu unkontrollierbaren Drang, die Faust in dieses geliebte Gesicht zu schlagen.

Nein, das bietet sicherlich keine Perspektive, dachte Anton bei sich und drehte sich abrupt zu der Fensterfront um, die den Blick auf das exklusive Anwesen der Scott-Lees in Belgravia freigab.

Das Wetter da draußen passte zu seiner düsteren Stimmung. Regen fiel unablässig vom grauen Himmel, riss gewaltsam die wenigen Blätter, die noch an den Ästen der Bäume hingen, zu Boden. Anton konnte sich bestens ausmalen, wie diese Blätter sich vorkommen mussten. Vor zwei Stunden noch hatte ein ruhiger, sonniger Wintertag über London gelegen, und Anton hatte in einer Vorstandssitzung der altehrwürdigen und renommierten Scott-Lee-Bank gesessen.

Und jetzt … jetzt fühlte er sich wie eines dieser sturmgebeutelten Blätter dort draußen.

Ein Muskel zuckte in seiner Wange, vertiefte damit die Spalte in der Mitte seines Kinns – ein Grübchen, über das er sich bisher nie bewusst Gedanken gemacht hatte. So wie er sich bis zum heutigen Tag über viele Dinge keine Gedanken gemacht hatte, Dinge über sich selbst, mit denen er jetzt unausweichlich konfrontiert war.

Es hatte keinen Grund für Fragen gegeben. Geboren als das einzige und geliebte Kind der brasilianischen Schönheit Maria Ferreira und des reichen englischen Bankiers Sebastian Scott-Lee – zumindest hatte er das bis heute geglaubt –, hatte er immer als selbstverständlich angenommen, er verdanke sein Latin-Lover-Aussehen den Genen seiner brasilianischen Mutter und den gewieften Geschäftssinn seinem verstorbenen und immer noch betrauerten englischen Vater.

Als er diesen Brief aus Brasilien erhielt, in dem ein gewisser Enrique Ramirez behauptete, sein leiblicher Vater zu sein, hatte Anton das Ganze zuerst für einen geschmacklosen Scherz gehalten. Doch das erzwungene Treffen mit seiner Mutter und seinem Onkel hatte die Scherztheorie schnell zunichtegemacht. Jetzt musste Anton nicht nur die hässliche Tatsache akzeptieren, dass dieser Ramirez die Wahrheit gesagt hatte, sondern zusätzlich auch noch, dass der Mann, den er bisher für seinen Vater gehalten hatte, von Marias Affäre mit Enrique gewusst hatte. Ebenso, wie Sebastian gewusst hatte, dass Anton nicht sein Sohn war. Eine Adoption hatte Anton den legalen Platz in Sebastian Scott-Lees Leben gesichert, verbunden mit der Bedingung, dass Anton nie die Wahrheit herausfinden sollte.

„Du weißt genauso gut wie ich, dass die Bank ohne dich ruiniert wäre“, sagte Maximilian in das lastende Schweigen hinein. „Du bist die Bank, Anton. Die Leute werden Fragen stellen, warum du dich zurückziehst, und die Wahrheit wird unvermeidlich ans Licht kommen. Pikantes kommt immer ans Licht. Der Familienname …“

„Wieso? Diese pikante Wahrheit ist doch auch nicht herausgekommen“, unterbrach Anton ihn brüsk.

„Weil mein Bruder sehr darauf geachtet hat, dass es das nicht tut“, entgegnete der Ältere. „Wer hätte denn auch ahnen sollen, dass Ramirez vor seinem Ableben plötzliche sentimentale Anwandlungen bekommt!“

Sentimentale Anwandlungen, so nannte man das also. Anton wirbelte auf dem Absatz herum. „Ist dir je in den Sinn gekommen, dass ich ein Recht darauf hatte, es zu wissen?“, fuhr er seine Mutter an.

Maria wrang ihr Taschentuch mit schmalen Fingern. „Dein Vater wollte nicht …“

„Dieser vermaledeite Enrique Ramirez ist mein Vater!“, schleuderte Anton ihr entgegen. Seine Worte hallten in dem Raum nach wie das Grollen eines Erdbebens.

„Nein.“ Maria schüttelte den Kopf. „Enrique war ein schrecklicher Fehler in meinem Leben, Anton. Du brauchtest nicht …“

„Zu wissen, dass mein Leben seit einunddreißig Jahren auf einer einzigen Lüge aufgebaut ist?“

Maria bedeckte die bebenden Lippen mit dem Taschentuch. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie.

„Das hilft jetzt nicht mehr viel.“

„Du verstehst nicht …“

„Allerdings“, stieß Anton aus. „Ich dachte, ich sei der Sohn eines Mannes, den ich liebte und bewunderte. Doch nun muss ich herausfinden, dass ich das Produkt einer außerehelichen Affäre bin, die du mit irgendeinem brasilianischen, durch die Welt gondelnden, Polo spielenden Lebemann hattest!“

Maria wich alle Farbe aus dem Gesicht. „So war es nicht. Ich … ich war mit Enrique zusammen, bevor ich deinen Vater heiratete.“

„Nur damit ich es richtig verstehe: Du hattest also eine Affäre mit diesem Menschen. Er hat dich schwanger sitzen lassen, und so hast du dich schnellstens nach einem passenden Ersatz umgesehen, fandest Sebastian und hast ihm mich als sein Kind angehängt? War es so?“

„Nein!“ Zum ersten Mal seit Beginn dieser Auseinandersetzung zeigte seine Mutter etwas von ihrem brasilianischen Temperament. „Du wirst nicht in diesem beleidigenden Ton mit mir reden, Anton! Dein Vater wusste es! Er hat es von Anfang an gewusst! Ich war ehrlich zu ihm! Er hat mir vergeben, und dich hat er geliebt wie seinen eigenen Sohn! Auf deiner Geburtsurkunde steht sein Name! Er hat dich großgezogen! Er war stolz auf dich, du warst sein Ein und Alles! Wage es nicht, sein Andenken in den Schmutz zu ziehen, indem du jetzt mit Verachtung davon sprichst!“

Unvermittelt drehte Anton sich wieder zum Fenster um. In Wut und Verbitterung mischte sich ein Gefühl der Reue, das ihm brennende Tränen in die Augen trieb. Er hatte seinen Vater geliebt, hatte zu ihm aufgeschaut, wie jeder liebende Sohn zu seinem Vater aufschaute. Als ein Autounfall Sebastians Leben völlig unerwartet beendete, hatte Anton monatelang wie in einem dunklen Loch voller Trauer gelebt.

„Mein Bruder konnte keine Kinder zeugen, Anton“, meldete sich Max leise. „Das wusste er bereits, als er Maria kennenlernte und sich in sie verliebte. Als sie ihm von dir erzählte, sah er es als ein Geschenk des Schicksals an.“

„Ein Geschenk, das ein Geheimnis bleiben musste.“

„Verweigere ihm nicht das Recht auf seinen Stolz“, mahnte Max seufzend.

Anton hatte im Moment nur wenig Verständnis für den Stolz anderer. „Ich bin der Sohn eines Brasilianers“, sagte er. „Damit bin ich so unenglisch wie überhaupt nur möglich. Ich lebe wie ein Engländer, denke, spreche, benehme mich wie ein Engländer, und … verflucht!“ Seine Gefühle entluden sich in einem Faustschlag auf den Fensterrahmen. Denn ihm war etwas eingefallen. Eine Erinnerung, die er seit sechs Jahren zu vergessen suchte.

Ein Gesicht tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Ein ausgesprochen schönes Gesicht mit dunklen Augen und vollen roten Lippen. Ich kann dich nicht heiraten, Luis. Mein Vater wird es nicht zulassen. In unserer Familie darf es nur Portugiesen geben …

„Ist Ramirez ein portugiesischer Name?“, fragte Anton rau.

Maria zitterte immer noch wegen des Gefühlsausbruchs ihres Sohnes. „Ja.“

Vor Wut fiel Anton das Atmen schwer, während er sich in Erinnerung rief, wie ihn damals eine knapp eins sechzig große Südamerikanerin herablassend hatte wissen lassen, dass er nicht gut genug für sie sei. Er presste die Lippen zusammen. Nicht gut genug! Niemand hatte es je gewagt, ihm so etwas zu sagen!

Er drehte sich um, sah seine Mutter, die mit den Tränen kämpfte, seinen Onkel, der alt und geschlagen wirkte. Maximilians Gesundheit war nicht die beste, nach einem Herzinfarkt hatte er sich aus dem Bankgeschäft zurückziehen müssen, nur wenige Wochen nach dem Tode seines Bruders.

„Übernimm du die Zügel, Junge. Ich bin absolut sicher, dass du die Familie stolz machen wirst“, hatte er damals gesagt.

Wieder dieses Wort – Stolz.

Um auf jemanden stolz sein zu können, musste man ihn mit all seinen Fehlern und Makeln akzeptieren. Diese Menschen, die behaupteten, ihn zu lieben, hatten lediglich die Lüge geliebt, die sie selbst in die Welt gesetzt hatten, um den eigenen Stolz zu wahren.

Anton trat an den Schreibtisch zurück, der einst Sebastians gewesen war. Bei Sebastians Tod war aller Besitz – die Villa in Belgravia, das Familienanwesen in Ascot, die Aktienmehrheit an der Scott-Lee-Bank – an die Person übergegangen, die Sebastian mit Stolz seinen Sohn genannt hatte.

Aber Anton empfand im Moment alles andere als Stolz. Er fühlte sich betrogen, hintergangen, getäuscht. Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen die Dokumente, die der Testamentsverwalter des Ramirez-Nachlasses ihm hatte zukommen lassen. Mit schlanken Fingern blätterte er die Papiere durch, bis er die eine Seite gefunden hatte, nach der er suchte.

„Da ist übrigens noch mehr“, sagte er und sah unter halb gesenkten Lidern, wie seine Mutter und sein Onkel sich versteiften. „Ich scheine nicht der einzige ahnungslose Idiot zu sein, den Ramirez auf sich zurückführt. Es gibt noch zwei andere wie mich. Zwei weitere Söhne.“ Zwei Halbbrüder mit ihren verlogenen Müttern. Er verzog verächtlich den Mund. „Angesichts des weitschweifigen Lebensstils, den Ramirez führte, könnten sie überall in der Welt sitzen.“

„Hat er nicht gesagt, wo?“

„Nein. Warum es einfach machen, wenn Rätsel und Geheimnisse doch viel amüsanter sind, nicht wahr?“, erwiderte Anton zynisch. Er lernte Ramirez bereits kennen, wie er feststellte. Und es gefiel ihm ganz und gar nicht. Um genau zu sein, er hasste es.

„Aber er ist tot …“

„Stimmt.“ Anton nickte. „Trotzdem gehe ich jede Wette ein, er amüsiert sich gerade prächtig – auf meine Kosten und auf Kosten meiner Halbbrüder.“ Er holte scharf Luft. „Er hat uns drei Jahre lang beobachten lassen.“

Eine widerliche Vorstellung – über Jahre ausspioniert von einem unbekannten Voyeur. Ramirez hatte praktisch alles über Anton gewusst: von seiner schulischen und akademischen Laufbahn, von jedem einzelnen Pokal, den er in irgendeinem sportlichen Wettkampf gewonnen, von jedem verdammten Geschäft, das er abgeschlossen hatte. Sogar von jenen Trophäen, die Anton an einem anderen Ort gesammelt hatte – in seinem Bett.

„Er scheint seine Söhne für sexbesessen zu halten, gemäß dem Motto: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Anton zeigte ein freudloses dünnes Lächeln. „Und in seiner unendlichen Weisheit, aus eigener Erfahrung gesammelt, will er meinen Brüdern und mir eine Lektion erteilen, die er offensichtlich nicht verstanden hat, bis es zu spät und er zu alt war, um noch etwas zu ändern.“

Er sah seine Mutter erbeben, als er bereits ganz selbstverständlich von „seinen Brüdern“ sprach. Seltsam, aber er spürte diese Vertrautheit tatsächlich, irgendwo tief in seinem Innern.

„Ramirez scheint über ein recht ansehnliches Vermögen verfügt zu haben“, fuhr Anton fort. „Und ich rede hier nicht von ein paar lächerlichen Millionen. Er besaß Diamantminen, Smaragdminen, einige der ergiebigsten Ölfelder Brasiliens.“ An den Gesichtern seiner Mutter und seines Onkels konnte er sehen, dass er ihnen nichts Neues mitteilte. Was ihn sich nicht unbedingt besser fühlen ließ. „Wir, seine drei Söhne, dürfen die Beute unter uns aufteilen. Aber nur, wenn wir die Bedingungen erfüllen, die unser aalglatter Feigling von einem Vater in sein Testament gesetzt hat.“

„Enrique war nicht aalglatt“, protestierte Maria.

„Nein? Sondern?“

„Galant, attraktiv – wie du –, charmant …“

Seine Mutter hing immer noch an diesem Mistkerl! Anton spürte, wie sich erneut Wut in ihm aufbaute.

Maximilian meldete sich. „Was sind das für Bedingungen?“

Anton kämpfte um Beherrschung. „Ich kann nur die nennen, die für mich gelten, mehr wird hier nämlich nicht erwähnt.“ Ein eigenartiges Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Ich werde angehalten, mein Leben als Schürzenjäger aufzugeben. Ich soll eine Ehefrau finden, mich niederlassen, legitimen Nachwuchs zeugen …“

„Du liebe Güte!“, stieß Max hervor. „Der Mann muss zum Schluss nicht mehr recht bei Verstand gewesen sein!“

Da diese Meinung von einem überzeugten Junggesellen kam, war sie nur allzu verständlich.

„Ich frage mich, was meine Brüder tun müssen, um das Recht zu erhalten, mich kennenzulernen.“

„Du musst gar nichts tun, querido“, warf seine Mutter ein. „Du brauchst dieses Geld nicht. Du brauchst überhaupt nichts von …“

„Sein verdammtes Geld interessiert mich nicht! Ich will meine Halbbrüder kennenlernen!“ Er verachtete Ramirez dafür, was er ihnen allen antat. Seine Mutter hatte recht, er brauchte gar nichts zu tun. Und doch half ihm das nicht. Er fühlte sich betrogen. Betrogen um das Recht, so viele Dinge über sich selbst zu wissen.

Um diese Chance würde er sich nicht bringen lassen – seine Brüder kennenzulernen. Ganz gleich, was es ihn kosten würde.

Kosten.

Sein Blick glitt zurück zu den Papieren, die vor ihm ausgebreitet lagen, blieb an dem Abschnitt hängen, in dem Ramirez ihn beschuldigte, vor sechs Jahren eine Frau in schwierigsten Umständen zurückgelassen zu haben. Ramirez bestand darauf, Anton solle sich um Wiedergutmachung bemühen, und gab ihm sechs Monate Zeit dafür. Dann solle Anton mit dieser Frau als seiner Ehefrau und werdenden Mutter seines Kindes in einer Anwaltskanzlei in Rio de Janeiro vorstellig werden. Falls nicht, werde er niemals seine Brüder kennenlernen, und der ihm durch Geburtsrecht zustehende Erbanteil werde an diese Frau überschrieben werden.

„Was gedenkst du nun zu tun?“, fragte seine Mutter.

Anton hörte es gar nicht. Er starrte auf den Namen, der ihn, fett gedruckt auf dem Papier, regelrecht ansprang. Er sah es wieder vor sich, jenes herzförmige Gesicht mit dem energischen kleinen Kinn, dem üppigen roten Mund und den dunklen Augen, die wie Rubine glitzerten, wenn …

„Anton?“

Bei dem flehenden Ton seiner Mutter hob er automatisch den Blick, aber er sah nicht sie, sondern die andere Frau. Und sein Körper reagierte, wie er immer reagierte, wenn Anton an sie dachte – mit dem tiefen, harten Pulsieren sexueller Erregung, brennend, alles verzehrend …

„Anton, bitte. Sag endlich, was du tun willst“, bat seine Mutter erneut.

„Ihm seinen letzten Wunsch erfüllen.“ Die Worte klangen endgültig und kalt wie der Tod selbst.

„Was?“ Max schnappte nach Luft. „Hast du den Verstand verloren, Junge?“

Durchaus möglich. Aber er würde es tun. Er würde diese kleine, verlogene Kokotte finden und sie heiraten. Und dann würde er Cristina Marques das Leben zur Hölle machen …

In dem vernachlässigt aussehenden Raum mit den vollgestellten Bücherregalen, der einst ihres Vaters Zuflucht gewesen war, hallten erregte Stimmen wider.

„Verdammt, Cristina! Wirst du mir endlich zuhören! Wenn du …“

„Nein, du hörst mir zu!“ Wütend schlug sie mit der zierlichen Faust auf die Schreibtischplatte. „Ich habe Nein gesagt!“

Rodrigo Valentim ließ sich frustriert auf seinen Stuhl zurückfallen. „Wenn du meinen Rat nicht annehmen willst …“, stieß er ungeduldig aus, „… was mache ich dann überhaupt hier?“

„Du bist hier als mein Anwalt, um eine Lösung zu finden!“

„Und ich sage es dir noch einmal, ich kann das nicht tun!“

Cristina richtete sich auf. Ihre zierliche Figur ließ nichts von der Kraft erahnen, die in dieser Frau steckte. Stolz warf sie das lange Haar über die schmalen Schultern zurück und richtete ihren Blick entschlossen auf Rodrigo. „Dann werde ich mir wohl einen Anwalt suchen müssen, der es kann.“

Rodrigo seufzte, und ein trauriges Lächeln erschien auf seinem Gesicht, dem man vierzig Jahre Berufserfahrung ansah. „Wenn ich daran glaubte, dass es helfen würde, würde ich dir einen Anwalt suchen. Verstehst du denn nicht, minha querida? Santa Rosa ist so gut wie bankrott. Wenn du dieses Angebot nicht annimmst, ist es endgültig aus!“

Cristina schob die Hände in die Ärmel des abgetragenen Pullovers und wandte sich von dem Schreibtisch ab. In ihrer Hoffnungslosigkeit wurde ihr Blick magisch von der Landschaft hinter den Fensterscheiben angezogen, von der offenen Pampa, wo die Gauchos frei über die Weiden ritten und der Machismo noch etwas galt und Wert besaß.

Während die meisten großen Anwesen längst Wein- oder Sojaanbau betrieben, war Santa Rosa noch eine der wenigen Rinderfarmen in Brasilien. Seit Cristinas portugiesische Vorfahren das Land für sich in Besitz genommen und dieses Haus erbaut hatten, herrschte auf diesem Land ein Marques.

Und nun stand sie hier, die letzte Marques in einer langen Linie, und musste mit ansehen, wie der Name, das Land und der Stolz der Familie zugrunde gingen.

„Dein Vater hätte dich schon vor Jahren die Leitung übernehmen lassen sollen“, meinte der Anwalt. „Dann würdest du jetzt nicht so in der Klemme stecken. Der Mann war ein starrsinniger alter Narr.“

Da war er wieder, dieser alles beherrschende Begriff – Machismo. Cristina verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. Die Männer in diesem Teil der Erde fragten ihre Frauen grundsätzlich nicht, wenn es um Entscheidungen ging. Auch ihr Vater hatte beide Augen vor der Realität verschlossen und lieber auf seinen Tod gewartet, bevor er auch nur eine einzige Entscheidung ihr überlassen hätte.

„Du brauchst dringend eine Finanzspritze, um die Ranch wieder auf Vordermann zu bringen, und zwar eine kräftige“, fuhr Rodrigo fort. „Das Angebot des Alagoas Konsortiums ist für deine Zwecke mehr als großzügig, querida.“

„Zu einem unmöglichen Preis.“

Das Konsortium wollte einen Teil des Landes von Santa Rosa abkaufen – Land, bewachsen mit subtropischem Urwald, der den Zugang zu einem schier endlosen, fantastischen Sandstrand blockierte. Dieser Urwald sollte gerodet und Hotelkomplexe sollten auf dem bis dato unberührten Land gebaut werden. Ein weiteres Stück Natur würde völlig zerstört werden.

„Es gibt immer einen Preis zu zahlen“, wandte Rodrigo bedrückt ein. „Gerade du solltest das wissen.“

Weil sie schon einmal einen hohen Preis bezahlt hatte, um Santa Rosa zu retten. Dieser „Preis“ war jetzt tot. Wie auch der Mann, der bereit gewesen war, seine Tochter zu verschachern, um sich dadurch noch ein paar Jahre mehr zu kaufen, in denen er sich nicht um die Realität kümmern musste. Cristina wusste, wer dieses Mal den Preis würde zahlen müssen, wenn sie das Angebot annahm: das Land und die Menschen, die darauf lebten.

„Wie viel Zeit habe ich bis zu einer Entscheidung?“

„Sie können es kaum erwarten, den Deal abzuschließen“, antwortete Rodrigo.

Cristina drehte sich zu ihm um und nickte. „Dann halte sie hin, solange du kannst. Ich werde mich ein letztes Mal an die Bank wenden.“

„Das hast du doch schon mehrere Male getan.“

„Und ich werde es so lange tun, bis mir wirklich keine Zeit mehr bleibt.“

„Du hast keine Zeit mehr, Cristina“, bemerkte Rodrigo düster. „Die Geier kreisen schon.“

„Trotzdem muss ich es versuchen.“ Fest entschlossen drehte Cristina sich wieder zum Fenster um. Rodrigo musterte ihre schlanke Figur.

Sie war auserlesen schön, eine Frau, der mit fünfundzwanzig die ganze Welt zu Füßen liegen sollte. Tatsächlich war sie einmal in dieser Situation gewesen.

Dann war etwas geschehen, und sie war weggelaufen. Über ein Jahr hatte man nichts von ihr gehört. Als sie zurückkam, war sie ein anderer Mensch geworden, hart, kalt, so als hätte jemand das Licht, das sie von innen heraus hatte strahlen lassen und sie zu dieser wunderbaren ungezähmten Kreatur gemacht hatte, erstickt. Innerhalb von Wochen hatte sie das Haus wieder verlassen – als Ehefrau von Vaasco Ordoniz, einem Mann so alt wie der Vater, der sie ohne jegliche Skrupel verkauft hatte.

Während des folgenden Jahres hatte sie in Rio gelebt, als die Ehefrau eines reichen alten Mannes. Der Häme der Schandmäuler hatte sie sich gestellt, ohne je ihre wahren Gefühle auch nur andeutungsweise zu offenbaren. Als Ordoniz krank wurde und sich vom Gesellschaftsleben auf seine Ranch zurückzog, war Cristina mit ihm gegangen. Zwei Jahre hörte oder sah man nichts von den beiden. Dann starb Ordoniz. Das gemeine Gelächter allerdings war nicht zu überhören gewesen, als sich herausstellte, dass der alte Mann still und heimlich sein Vermögen beim Glücksspiel verloren hatte und seine Ehefrau, die ja nur hinter dem Geld her gewesen sein konnte, völlig mittellos zurückließ. Dieses geldgierige Luder hatte sich also verrechnet und musste jetzt in das Haus ihres Vaters zurückkehren, um dort die Rolle als Dienstmädchen und Krankenschwester für den nächsten kranken alten Mann zu übernehmen.

Doch Cristina hatte nie ihren Stolz verloren. Diese schönen Augen hatten immer voller Würde und Unbeugsamkeit dem Leben entgegengeschaut. Rodrigo bewunderte und respektierte sie dafür, dass sie sich weigerte aufzugeben, ganz gleich, womit das Leben sie konfrontierte.

„Also schön, versuchen wir es noch ein letztes Mal“, hörte er sich selbst sagen und fragte sich gleichzeitig, ob es nicht grausam war, in ihr einen neuen Hoffnungsfunken zu entzünden. „Irgendwie werden wir Hilfe auftreiben. Gabriel kennt alle möglichen Leute.“ Was er nicht erwähnte, war, dass sein Sohn bereits von einigen Geschäftsmännern angesprochen worden war, die nach neuen Investitionsmöglichkeiten suchten. Rodrigo wollte keine allzu großen Hoffnungen in Cristina erwecken. „Möglicherweise gelingt es ihm, dir das eine oder andere Treffen mit Leuten zu arrangieren, die vorher kein Interesse gezeigt haben.“

Als Cristina sich zu ihm umdrehte, leuchtete trotz Rodrigos Zurückhaltung neuer Optimismus aus ihren Augen.

Rodrigo seufzte erneut. „Gabriel mag viele Leute kennen, Cristina, aber du weißt selbst, dass Männer mit Geld berüchtigt für ihre Skrupellosigkeit sind. Sie werden nicht investieren, solange nicht ein ansehnlicher Profit für sie dabei herausspringt.“