2. KAPITEL

Anton sah den Mann durch das Hotelfoyer gehen und blieb abrupt stehen.

Das passierte ihm jetzt ständig. Seit er erfahren hatte, dass es noch zwei Halbbrüder irgendwo auf der Welt gab, hielt er unentwegt Ausschau nach Männern, die ihm vielleicht ähnlich sahen. Und wenn er einen solchen Mann erblickte, stockte ihm der Atem.

Es war dieses Unwissen, das es so schwierig machte, damit zurande zu kommen, die stete Angst, vielleicht direkt vor einem seiner Brüder zu stehen und es nicht zu merken.

Er hasste diesen Zustand. Die Angst … und das drängende Bedürfnis, endlich Gewissheit zu haben. Ein seltsames Verlangen, das er bisher nie gekannt hatte, bis er diesen vermaledeiten …

„Anton?“

Als Kinsella ihn ansprach, zuckte er zusammen und kam in die Realität zurück. Der Fremde war verschwunden, wahrscheinlich in eine der Hotelbars, und mit ihm die Versuchung für Anton, einfach auf den Mann zuzustürzen und ihn zu fragen, ob sein Vater möglicherweise ein Polo spielender Brasilianer war, der in drei Häfen der Welt einen Bankert zurückgelassen hatte!

Die vier stiegen in den Lift: die beiden jungen Manager, deutlich sichtbar vom Jetlag mitgenommen, Kinsella, seine Assistentin, immer noch frisch und makellos wie zu Beginn des Tages, und Anton.

Jetzt betrachtete er sie genauer – und stutzte. Sie schenkte ihm eines von diesen unmissverständlichen Lächeln: „Ich bin zu haben, wenn du möchtest.“ Kinsella war eine attraktive Blondine, mit großen blauen Augen und einer Figur, die jeden Mann reizte, zudem eine fähige Sekretärin … aber Sex mit dem Boss?

Anton tat, als hätte er die Einladung nicht bemerkt. Mal ganz abgesehen davon, dass er es sich zur Regel gemacht hatte, sich niemals mit Angestellten einzulassen … seit dem Tag, an dem er sein bis dahin vertrautes Leben zu Grabe getragen hatte, hatte er nicht mehr das Bedürfnis gehabt, eine Frau anzufassen.

„Gute Nacht“, sagte er, als sich die Lifttüren öffneten und die Drei in ihrer Etage ausstiegen. „Bestellen Sie sich etwas zu essen aufs Zimmer, und dann schlafen Sie den Jetlag aus. Morgen früh um Punkt halb acht erwarte ich Sie zum Frühstück in meiner Suite.“

Der Boss lässt den Chef raushängen, dachte er und lehnte sich mit einem unterdrückten Gähnen an die Liftwand zurück, als die Türen hinter den Dreien zuglitten. Anton fuhr weiter hinauf zu der Penthouse-Suite im obersten Stockwerk. Das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden … nicht nur wohnte er in einer luxuriösen Suite, angeschlossen waren auch Büros und ein Konferenzraum.

Er zog es vor, von seinem Hotel aus zu arbeiten, wenn er einen seiner unangekündigten Kontrollbesuche in den internationalen Zweigstellen machte. Sicherlich eine unfeine Taktik in den Augen der Mitarbeiter, aber notwendig, um die multinationale Truppe in Reih und Glied zu halten.

Oben angekommen, durchquerte Anton das ruhige Foyer und schloss die Tür zur Suite auf. Es war eine Suite, wie in jedem anderen Luxushotel, in denen er im Laufe der Jahre gewohnt hatte – ein geräumiger Wohnraum, zwei Schlafzimmer und der Durchgang zum Arbeitsbereich, komplett ausgestattet mit allem, was ein Geschäftsmagnat heutzutage erwartete.

Sein Gepäck war aufs Zimmer gebracht worden. Anton ließ es achtlos stehen und ging zielstrebig auf die kleine Bar zu. Ja, man hatte seinen Lieblingsscotch bereitgestellt. Er goss sich einen Drink ein und ging mit dem Glas hinaus auf die Dachterrasse.

Die Atmosphäre von Rio de Janeiro hüllte ihn ein, sobald er nach draußen trat. Seine Sinne reagierten sofort auf Geräusche und Gerüche und stellten etwas mit ihm an, das nur jemand nachvollziehen konnte, der lateinamerikanisches Blut in den Adern fließen hatte. Dieses rasante Beschleunigen, dieses intensive Pulsieren sollte ihn euphorisch stimmen, doch das tat es nicht. Im Gegenteil, er verabscheute es. Es war jetzt sechs Jahre her, seit er zum letzten Mal einen Blick auf den Zuckerhut hatte werfen können, und wenn es nach ihm ginge, würde es mindestens wieder sechs Jahre bis zum nächsten Mal dauern – falls überhaupt.

Einst hatte er Rio geliebt. In seiner Kindheit war diese aufregende Stadt für ihn ein Zuhause gewesen. Damals, als er regelmäßig mit seiner Mutter hergekommen war, und dann später, als er ein Jahr hier in der Zweigstelle der Scott-Lee-Bank gearbeitet hatte.

Hätte er es geahnt, wäre er in England geblieben. Dann hätte er Cristina nie kennengelernt und sich nicht in eine Lüge verliebt.

Noch eine Lüge.

Die Wut, die seit Wochen in ihm schwelte, flammte erneut auf. Anton ging zurück ins Zimmer und verschloss die hohen Flügeltüren, schloss damit die Geräusche und Gerüche Rios aus. Er entschied sich für eines der Schlafzimmer und packte seinen Koffer aus. Zehn Minuten später stellte er den Wasserhahn der großen, in den Boden eingelassenen Badewanne ab.

Ein Mann mit seiner Statur brauchte eine große Badewanne – knapp eins neunzig und fast alles reine Muskelmasse, der Mann, bei dem jeder Frau unwillkürlich ein sehnsüchtiger Seufzer entschlüpfte. Breite Schultern, schmale Hüften, lange Beine – ein Mann, der für die körperliche Liebe geschaffen war, der Stunden erotischer Freuden versprach. Er wusste es – wie auch seine Frauen es wussten.

Doch im Moment interessierte ihn nichts weniger. Er stieg in die Wanne und ließ sich in das heiße Wasser gleiten. Er war müde und missmutig und wünschte, er wäre irgendwo anders.

Mit einem Seufzer schloss er die Augen. Hätte er die Wahl, wäre er wahrscheinlich auf der anderen Seite des Globus’. Aber die Wahl war ihm genommen worden, durch das schlichte Einfügen eines Namens.

Cristina Marques.

Mit gerunzelter Stirn und zusammengepressten Lippen veränderte er seine Lage. In Gedanken fluchend wünschte er, sein Körper würde endlich aufhören, allein bei dem Namen zu reagieren.

Müde fuhr er sich über das Gesicht. Das heiße Wasser ließ seine Haut prickeln, aber gegen das unangenehme Gefühl der in den letzten zwölf Stunden gesprossenen Bartstoppeln half es nicht. Er hätte sich vorher rasieren sollen, hätte sich die Zähne putzen sollen.

Immerhin war er vorausschauend genug gewesen, sein Glas aufzufüllen. Er streckte den Arm aus, griff danach und nippte an dem Scotch. Der Whisky schmeckte auf jeden Fall besser als Zahnpasta und tat auch sicherlich mehr, um seine verspannten Muskeln zu lockern – wenn auch nicht die in seiner Lendengegend.

Er brauchte eine Frau – irgendeine Frau. Er hatte zu lange abstinent gelebt. Hatte sich bewusst nur auf die Arbeit konzentriert und sich in die Organisation dieser Reise gestürzt. Eine Frau wäre wahrscheinlich die beste Medizin, um ihn von dieser einen, die er nicht wollen wollte, zu kurieren. Vielleicht hätte er mit seinen Prinzipien brechen und Kinsellas Angebot annehmen sollen. Vielleicht war eine kühle, schlanke Blondine mit blauen Augen ja das perfekte Gegenmittel für das, was ihn quälte …

Nein. Er mochte die Geräusche und Gerüche ausgeschlossen haben, aber das rhythmische Pulsieren der Stadt hatte ihn erfasst. Das, was durch ihn hindurchvibrierte, konnte nur von einer heißblütigen Frau befriedigt werden, von dem warmen dunklen Typ mit glutvollen Augen.

Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Eine ansehnliche Oberweite sollte sie schon haben, festes Fleisch, an dem seine Augen, seine Finger und sein Mund sich ausgiebig weiden konnten …

Doch im Moment musste sein Mund sich mit einem Schluck Whisky zufriedengeben. Natürlich kein Ersatz für den wunderbaren Geschmack einer Frau, aber Anton ließ den Whisky trotzdem lange über seinen Gaumen rollen, während seine Traumfrau hinter geschlossenen Lidern Gestalt anzunehmen begann.

Dunkle Augen … ja. Verhangene Augen, in denen das Verlangen glühte, umrahmt von dichten dunklen Wimpern, die die sinnliche Lust halb verdeckten, wenn diese Frau ihre Kunstfertigkeit einsetzte, während er sich zurücklegte und einfach nur genoss. Lange Haare wie Ebenholz, leicht gewellt, die ihm auf die Brust fallen würden, wenn die Frau sich über ihn beugte und mit ihren vollen, gierigen Lippen seinen Mund eroberte, während sie sich auf ihm niederließ und ihn tief in sich aufnahm …

„Verflucht!“

Anton setzte sich so abrupt auf, dass der Scotch über den Glasrand schwappte. Er hatte Cristina beschrieben. Da lag er hier und erfand ein Fantasiewesen, das das genaue Abbild der einen Frau war, die er unbedingt aus seinem Kopf verbannen wollte!

Bring das mal deinem Körper bei! dachte er düster. Er stellte das Glas ab und fuhr sich noch mal übers Gesicht. Die Verspannung hielt ihn jetzt in eisernem Griff. Er stieg aus der Wanne und griff nach dem Badelaken, um sich abzutrocknen. Es streifte den Körperteil, der die Höllenqualen ungestillten Verlangens litt. Fluchend warf Anton das Laken beiseite und stellte sich stattdessen unter die kalte Dusche.

Er wollte Cristina nicht begehren, wollte sich nicht daran erinnern, wie es mit ihr war. Er wollte, dass die Realität jegliche Sinnlichkeit abtötete, und hoffte, dass Cristina, wenn er ihr erst gegenüberstand, zu einer abstoßend hässlichen Schlampe geworden war.

Dass er Cristina Marques gegenübertreten würde, stand außer Frage. Die Räder der Maschinerie waren bereits in Gang gesetzt und drehten sich eifrig.

Das Telefon klingelte, als Anton sich gerade fertig rasiert hatte. Nackt kam er aus dem Bad und nahm den Hörer auf.

„Ich konnte sie in Rio ausfindig machen, senhor“, wurde ihm von einer männlichen Stimme mitgeteilt. „Sie wohnt bei Gabriel Valentim. Er wird sie morgen Abend zu der Wohltätigkeitsgala begleiten, wie erwartet.“

Sie hing am Angelhaken, die Show konnte losgehen. Ein heißes Triumphgefühl durchlief Anton und löste eine sexuelle Erregung in ihm aus, die er längst wieder unter Kontrolle geglaubt hatte.

„Gut“, sagte er kalt. „Den Rest können Sie mir morgen berichten.“

„Warten Sie, da gibt es noch etwas, das Sie wissen sollten, senhor!“, fügte Afonso Sanchiz hastig an. „Vor sechs Jahren heiratete die Lady einen Mann namens Vaasco Ordoniz. Jetzt ist sie verwitwet und benutzt wieder ihren Mädchennamen, aber …“

Cristina wollte nicht hier sein. Zu feiern, während ihr Leben um sie herum zusammenfiel, hinterließ einen schalen Geschmack in ihrem Mund. Aber Gabriel hatte darauf bestanden, es sei der einzige Weg. Die besten Deals wurden auf dem gesellschaftlichen Parkett geschlossen, nicht am Schalter einer Bank.

Also war sie jetzt hier, im Foyer eines von Rios exquisitesten Hotels, eingehüllt in schwarze Seide, das Haar zu einer eleganten Frisur hochgesteckt, die Diamanten ihrer verstorbenen Mutter an Hals und Ohren.

Die Diamanten hätte sie längst verkauft, wären die etwas wert gewesen. Doch es waren unechte Steine. Eine exzellente Fälschung zwar, nichtsdestotrotz eine Fälschung, wie Cristina hatte erfahren müssen. Sie konnte nicht sagen, wann ihr Vater die echten Steine verkauft und durch falsche ersetzt hatte, aber in den Monaten nach seinem Tod hatte sie herausgefunden, dass kaum etwas auf Santa Rosa nicht durch wertlose Kopien ausgetauscht worden war. Sie hoffte inbrünstig, dass Lorenco Marques von seinen Kunst sammelnden Vorfahren ein kräftiger Tritt nach unten in die andere Richtung versetzt worden war, als er an die Himmelspforte geklopft hatte.

Und ja, sagte sie zu dem Teil in ihr, der schockiert über einen solchen Gedanken war, sie fühlte sich tatsächlich so verbittert und wütend.

Gabriel geleitete sie jetzt in den Saal, aus dem ein Bossa Nova herüberdrang. Die Glaswände boten einen atemberaubenden Blick auf das nächtliche Rio und den beleuchteten Zuckerhut. Prächtig gekleidete Menschen gesellten sich in bester Laune zueinander, Gelächter und Geplauder drangen durch eine wohlriechende Wolke teuren Parfüms.

Von der anderen Seite des Raumes beobachtete Anton, wie Cristina am Arm eines äußerst attraktiven Mannes den Saal betrat. Immer noch makellos schön, wie ihm auffiel. Er zog eine kleine Grimasse. So viel also zu seiner „Schlampen-Hoffnung“. Ihr Haar war ihm zu ordentlich, und ihr Kleid mochte elegant und sexy sein, aber er hatte sie noch nie gern in Schwarz gesehen. Intensive Farben standen ihr, Farben, die ihrem heißblütigen Temperament entsprachen. Doch dieses Gesicht, die mandelförmigen Augen, der rote Mund, zum Küssen geschaffen …

Ihr Begleiter beugte sich zu ihr und sagte ihr etwas ins Ohr. Sie sah auf und lächelte, und Anton fühlte die plötzliche Anspannung, die ihn erfasste. Es war das Lächeln einer Sirene, einer geborenen Verführerin. Dieses Lächeln war einmal ausschließlich für ihn reserviert gewesen. Und hatte jedes Lächeln anderer Frauen wirkungslos für ihn gemacht.

Ob sie mit Gabriel Valentim schlief? Hatte der gut aussehende Anwalt vielleicht ein paar angenehme Stunden mit der Witwe von Vaasco Ordoniz verbracht, bevor sie zusammen hier auftauchten?

„Anton, Ihr Glas ist leer …“

Verwundert sah er auf den Champagnerkelch in seiner Hand. Er hatte es gar nicht bemerkt. Und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie verkrampft er das Glas hielt.

„Ich hole Ihnen ein neues.“

Kinsella beugte sich zu ihm, um ihm das Glas abzunehmen. Dabei streifte sie ihn wie unabsichtlich. Unter dem eng anliegenden Kleid trug sie keinen BH, Anton hatte die harte Knospe über seinen Handrücken gleiten gefühlt.

Eine weitere erotische Botschaft von seiner Sekretärin? Die Verwirrung wurde unwichtig, als er sah, wie der attraktive Anwalt vertraulich Cristinas Schläfe küsste.

„Hör auf, dir Sorgen zu machen“, sagte Gabriel leise. Er hatte gespürt, wie Cristina sich neben ihm versteifte. „Man wird dich schon nicht fressen.“

Nein? Cristina war sich da nicht so sicher. Vor sechs Jahren hatte sie die hier Anwesenden schockiert, weil sie einen Mann geheiratet hatte, der alt genug gewesen war, um ihr Vater zu sein. Von diesem Augenblick an hatte man in ihr nur das geldgierige Weib gesehen, das nichts als Verachtung verdiente. Die Tatsache, dass Vaasco Ordoniz seine Witwe völlig mittellos zurückgelassen hatte, dürfte die allgemeine Meinung kaum geändert haben.

Ein Kellner mit einem silbernen Tablett voller Champagnerflöten erschien. Gabriel nahm zwei Gläser und reichte Cristina eines davon.

„Hier. Und denk immer daran, weshalb du hier bist. Aber jetzt trink etwas von diesem vorzüglichen Champagner, und setze endlich diese Trauermiene ab.“

Cristina versuchte das heftige Pochen ihres Pulses zu ignorieren. „Ich bin nicht sonderlich erpicht darauf, mit Leuten, die ich nicht besonders mag, angenehme Konversation zu machen.“

„Gilt das auch für mich?“

Cristina sah in das fein geschnittene Gesicht des Mannes, den sie seit ihrer Kindheit kannte, sah das amüsierte Funkeln in den bernsteinfarbenen Augen. „Danke, dass du das hier für mich tust.“ Sie lächelte. „Mir ist klar, dass dein Vater dich dazu angehalten hat.“

„Niemand muss mich anhalten, um einen Abend mit einer schönen Frau zu verbringen, querida.“ Er nahm ihre Hand mit dem Glas und führte es ihr an den Mund, bis sie einen kleinen Schluck trank. „Du solltest doch wissen, dass ich diesen Klatsch über die raffgierige Hasardeurin nie geglaubt habe.“

Ihr Lächeln erstarb. „Und wenn ich dir sagte, dass die Gerüchte der Wahrheit entsprachen?“

Gabriel verzog den Mund. „Sieh dir diese Leute hier an, Cristina“, erwiderte er. „Glaubst du nicht, dass sie alle ihre Leichen im Keller versteckt haben? Ich bin Anwalt, wie mein Vater. Ein Beruf, der mir bedingtermaßen Einblick in gewisse Dinge erlaubt, die jedem Priester im Beichtstuhl die Haare zu Berge stehen lassen würden. Ich gebe dir einen Rat: Stelle sie dir alle als Gauner und Betrüger vor, und du wirst merken, dass du dich sofort besser fühlst.“

Fasziniert riss sie die Augen auf. „Sind sie wirklich alle Gauner und Betrüger?“

Gabriel lachte. „Nein. Aber es hilft, sie als das zu sehen.“

Jemand trat auf Gabriel zu, um ihn zu begrüßen. Ein Fremder für Cristina, also konnte sie sich ein wenig entspannen und brachte sogar ein Lächeln zustande, als Gabriel die offizielle Vorstellung übernahm. Die Männer unterhielten sich, wenig später war der Fremde wieder in die Menge eingetaucht.

Während Gabriel mit Cristina durch den Saal ging, lag seine Hand leicht um ihre Hüfte. Er war bekannt und gern gesehen, und Cristina hätte ihn umarmen mögen für die Umsicht, mit der er sie durch die Menge führte, sodass sie keinen Zusammenstoß mit den Leuten von früher riskierte.

Es geschah in dem Augenblick, als sie sich endlich zu entspannen begann. Eine tiefe, sehr englische Stimme, die fließend Portugiesisch sprach, drang an ihr Ohr. Spontan drehte sie sich danach um, ohne vorher nachzudenken.

Und da war es auch schon zu spät. Im gleichen Moment fand sie sich von einem Paar funkelnder grüner Augen auf der Stelle wie festgenagelt.

Luis, schoss es ihr durch den Kopf. Meu Dues, es ist Luis.

Er stand keine drei Meter entfernt, eine große, dunkle Gestalt vor dem Fenster, hinter ihm leuchtete die Skyline von Rio. Cristina spürte, wie ihre Knie nachgeben wollten, für einen albernen Moment glaubte sie gar, in Ohnmacht zu fallen. Alles in ihrem Kopf drehte sich. Plötzlich gab es niemanden mehr in diesem Raum, außer ihm. Das Partygemurmel verstummte, die Musik wurde unhörbar. Ein Blick aus diesen Augen, und sechs Jahre fielen von ihr ab, ließen sie bloß und verletzlich zurück. Und trotzdem schaffte sie es nicht, den Blick abzuwenden.

Er hatte das scheinbar ebenfalls nicht vor, denn er begann eine genaue Musterung ihrer Erscheinung. Cristina fing an zu zittern, als ein vertrautes kleines Lächeln auf seinem Gesicht erschien, elektrisierend, erregend, sinnlich. Ihre Haut prickelte. Vor sechs Jahren waren sie zwölf Monate lang ein Paar gewesen. Jetzt schienen diese sechs Jahre innerhalb von Sekunden zu nichts zu schrumpfen.

Auch ihr Zittern beobachtete er, und ein spöttisches Glitzern trat in seine Augen. Er hob sein Glas und prostete ihr stumm zu – eine verächtliche Geste, die sie mit Wucht in die Zeit vor sechs Jahren zurückkatapultierte.

Er hasste sie. Sie konnte es sehen. Und sie konnte es ihm nicht einmal verübeln. Sie hatte diesen Hass bewusst geschürt. Wie eine Oscar-Preisträgerin hatte sie ihm eine brillante Aufführung geboten, hatte ihn verspottet und beschimpft und war mit jeder gehässigen Bemerkung, die sie ihm ins Gesicht geschleudert hatte, ein wenig mehr gestorben.

Tränen stauten sich in ihrer Kehle, heiß und brennend. Sie hatte ihn geliebt, sie würde ihn immer lieben, bis zum letzten Atemzug. Und doch hatte sie darum gefleht, ihm nie wieder zu begegnen.

Eine Bewegung neben ihm zog ihren Blick auf sich. Eine Frau, blond, schlank, schön, flüsterte ihm etwas zu und erntete dafür ein laszives Lächeln von ihm.

Cristina kannte dieses Lächeln, erkannte, was es bedeutete. Die beiden waren ein Paar. Eifersucht, heiß, gallig, ätzend, stieg in ihr auf, tobte wie ein wildes Tier in ihr, und mit einem erstickten Schluchzen wandte Cristina sich hastig ab, schmiegte sich enger in Gabriels Arm. Was ihr einen neugierigen Seitenblick einbrachte, ohne dass Gabriel die Unterhaltung mit seinem Gegenüber unterbrochen hätte.

„Es ist ein globales Problem“, sagte er gerade, „aber der Bereich zeigt bereits Anzeichen des Aufschwungs. Wir sind absolut zuversichtlich, dass wir uns einen Platz unter den Ersten sichern werden, sobald die Entwicklung Fuß fasst. Der Preis für erstklassige Zuchtnachweise steigt wieder. Santa Rosa kann diese Nachfrage erfüllen und den Markt beliefern, nicht wahr, Cristina?“

Er versuchte, Investoren für sie zu finden, und erwartete irgendeinen Beitrag von ihr. Sie musste sich zusammennehmen. „Ja, das Vieh wird auf Santa Rosa gezüchtet und kann frei auf dem Land weiden. Wir sind stolz, sagen zu können, dass wir immer noch die traditionellen Methoden zur Viehzucht verwenden und uns Qualität wichtiger als Quantität ist.“

„Aber es ist die Quantität, senhorita, die den Profit garantiert.“

„Sim.“ Sie nickte. „Auch uns ist das klar. Daher planen wir, andere Geschäftszweige in Angriff zu nehmen. Santa Rosa soll ein Modell werden für Leute, die eine Weile auf einer traditionellen brasilianischen Ranch leben und mit den Gauchos über die Weiden reiten wollen. Aber für einen solchen Plan sind Investitionen nötig, die …“

„Ein hohes Risiko für den Investor bergen“, mischte sich eine kühle Stimme dazwischen.

Gabriel und sein Gesprächspartner drehten sich zu dem Neuankömmling um, Cristina nicht. Dazu klopfte ihr Herz viel zu rasant.

„Es ist doch immer ein Risiko, zu investieren, senhor“, gab Gabriel ruhig zurück. „Mit unserem Einsatz und harter Arbeit können wir unseren Investoren schon heute einen sicheren Gewinn versprechen. Aber darf ich mich Ihnen erst einmal vorstellen.“ Er ließ Cristina los und streckte die Hand aus. „Ich bin Gabriel Valentim, und das ist …“

„Ich kenne die Dame bereits“, unterbrach Anton ihn und legte seine Hand sofort an die Stelle, wo vorher Gabriels Finger gelegen hatten. Die leichte Berührung jagte Cristina einen hitzigen Schauer über den Rücken, und sein warmer Atem strich über ihre Wange, als er sich vorbeugte. „Cristina, meu querida“, sagte er heiser. „Du erinnerst dich doch noch an mich?“

„Luis“, erwiderte sie so gelassen, wie es ihr möglich war.

„Sie irren“, mischte sich eine weibliche Stimme ein. „Das ist Anton Scott-Lee.“

Anton Luis Ferreira Scott-Lee, mit vollem Namen, korrigierte Cristina im Stillen. Anton für die meisten, aber für sie würde er immer Luis sein. Ein Mann mit zwei Gesichtern – einem englischen und einem brasilianischen.

Es war das brasilianische Gesicht, das sie jetzt mit dem sinnlichen Lächeln bedachte. „Sieh nicht so schockiert drein“, meinte er leise. „Ich höre auch auf Luis, wenn du diesen Namen immer noch vorziehst.“

Sie hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Ihre Lippen öffneten sich, und sie begann zu zittern, während sie verzweifelt nach einer harmlosen Erwiderung suchte.

„Es handelt sich hier um einen Scherz, nicht wahr?“, fragte Gabriel, während Cristinas Aufmerksamkeit sich auf die schlanke Hand richtete, die sich besitzergreifend auf Luis’ Arm legte.

Diese Hand gehörte seiner schönen blonden Begleiterin, die ihren eiskalten Blick jetzt auf Cristina heftete. War das der Frauentyp, den Luis heutzutage bevorzugte?

„Nein, kein Scherz“, hörte sie ihn sagen und richtete den Blick wieder auf sein Gesicht. „Cristina und ich sind sehr alte Freunde … nicht wahr, amante?“

Geliebte.

All ihre Sinne spielten plötzlich verrückt. Sie konnte nicht denken, sie konnte kaum atmen. Wie in Trance starrte Cristina in diese grünen Augen, sah nur noch sein Gesicht und sein Lächeln und hörte nur noch dieses eine Wort, das wie eine seidige Liebkosung über ihren ganzen Körper strich.

„Cristina?“, hakte Gabriel nach, um eine Reaktion von ihr zu erhalten, als das Schweigen peinlich wurde.

„Ich … entschuldigt mich“, brachte sie stockend hervor. „Ich muss den Waschraum aufsuchen.“

Damit floh sie zum Saal hinaus und ins Foyer, wo ein vorbeikommender Kellner nur einen Blick in ihr bleiches Gesicht warf und ihr ungefragt den Weg wies.

Sobald Cristina in dem Waschraum stand, schlug sie die Tür hinter sich zu und lehnte sich schwer atmend mit dem Rücken dagegen. Sie zitterte am ganzen Leib, der Schock war ihr mit Eiseskälte ins Mark gefahren. Mit schwankendem Gang schaffte sie es zu dem Schemel und ließ sich erschöpft darauf niedersinken.

Luis war hier. In Rio. Was wollte er hier? Nach all den Jahren? Wieso redete er überhaupt noch mit ihr?

Die letzte Szene tauchte wieder vor ihr auf, Bilder von vor sechs Jahren. Entsetzt schlug Cristina die Hände vors Gesicht …

„Was ist los mit dir?“ Luis hatte sie angestarrt, als sei sie der Leibhaftige. „Du liebst mich! Wir waren ein Jahr zusammen. Ich musste nach England zurück, um meinen Vater zu beerdigen. Dieses Jahr muss dir doch etwas bedeuten, muss dir gezeigt haben, dass es mir ernst ist!“

„Die Dinge ändern sich eben.“

Er war viel zu wütend und verletzt gewesen, um ihr bleiches Gesicht zu bemerken, um den Schmerz in ihren Zügen zu erkennen. „In drei Monaten? Nein. Du hast mir das Versprechen abverlangt zurückzukommen. Hier bin ich. Ich habe dir gerade einen Heiratsantrag gemacht. Cristina!“ Seine Stimme war rau geworden. „Ich liebe dich. Ich will, dass du meine Frau wirst. Ich will Kinder mit dir haben und zusammen mit dir alt werden. Will sehen, wie unsere Kinder erwachsen werden und selbst Kinder haben!“

Noch heute, hier in dem in weißem Marmor gehaltenen Raum, wand sie sich innerlich, als sie sich an die Worte erinnerte, die sie ihm damals entgegengeschleudert hatte.

„Ich werde dich niemals heiraten, Luis. Nie werde ich deine Kinder gebären. Wirst du das jetzt endlich akzeptieren?“

Oh ja, er hatte es akzeptiert, sie hatte es an seiner Miene gesehen. „Hast du Angst, dir deine perfekte Figur zu ruinieren?“

„Stimmt genau. Ich bin durch und durch eigennützig, hartherzig und hoffnungslos eitel. Zudem bin ich eine Marques. Portugiesisches Blut fließt durch meine Adern. Es wäre ein Sakrileg, dieses Blut mit dem dünnen Blut eines Halb-Engländers zu vermischen. Meine Vorfahren würden sich in ihren Gräbern umdrehen …“

Das leise Klopfen an der Tür war die einzige Warnung, die sie bekam. Cristina nahm die Hände vom Gesicht, hob den Kopf – und erstarrte.