Cristina blickte starr auf die kleine Gruppe und spürte, wie der Schock sie wie eine eiskalte Messerschneide durchfuhr. Kinsella, in einem eng anliegenden pastellblauen Kleid, das jede Kurve betonte, bedachte Cristina mit einem Blick voller Wut, die sie offensichtlich nur schwer unter Kontrolle halten konnte.
„Wie konntest du nur?“, entfuhr es Cristina vorwurfsvoll. Hastig versuchte sie, sich aus Luis’ Armen freizumachen.
Doch er hielt sie fest. „Hör zu“, sagte er leise. Für jeden anderen musste es aussehen, als flüstere er ihr Liebkosungen ins Ohr. „Die Frau neben Kinsella ist meine Mutter. Sie ist der wichtigste Mensch für mich auf dieser Welt. Also verhalte dich gefälligst wie eine Braut, die hingerissen von ihrem Bräutigam ist. Verstanden?“
Oh ja, sie verstand. Mehr, als Luis je begreifen würde. Sie richtete den Blick von der wütenden Kinsella auf die Frau, die einst mit Vaasco Ordoniz verlobt gewesen war.
Maria Ferreira war eine zeitlos schöne Frau, elegant in einem rauchblauen Seidenanzug, der ihre grazile Statur und ihre würdevolle Haltung betonte. Doch in diesem Moment gelang es auch ihr nicht, ihre schockierte Empörung zu verheimlichen.
Darauf war Cristina in keiner Weise vorbereitet. In den letzten achtundvierzig Stunden waren sowohl ihr Geist als auch ihr Körper so völlig von Luis erfüllt gewesen, dass sie nie damit gerechnet hätte, mit dem Menschen zusammenzutreffen, den Vaasco mit solcher Inbrunst gehasst hatte.
Sie drehte sich in seinen Armen, wollte das hier beenden, bevor die Konsequenzen nicht mehr abzuschätzen waren, doch Luis war nicht gewillt, ihr zuzuhören.
„Benimm dich“, raunte er, küsste sie auf die bleiche Wange und zog sie an der Hand mit sich aus der Kabine hinaus.
Es war kein Zufall, dass er sie bei der linken Hand hielt. Es zog die Blicke der beiden Frauen an, sodass der große Rubinring nicht zu übersehen war. Er macht hier eine öffentliche Erklärung, wurde Cristina mit der Ahnung einer heraufziehenden Katastrophe klar.
Maria fasste sich als Erste und trat einen Schritt vor. Wusste sie es? fragte Cristina sich.
„Querida“, grüßte Anton warm und küsste seiner Mutter die Wange. „Du siehst müde aus. Vielleicht sollten wir bis morgen mit diesem Dinner warten und dich erst deinen Jetlag ausschlafen lassen.“
„Querido …“ Sie erwiderte die Umarmung. „Nein, mir geht es gut, keine Sorge. Allerdings hatte ich erwartet, wir beide würden allein sein.“ Der leichte Tadel war nicht zu überhören. „Ich muss dringend etwas mit dir besprechen, und …“
„Du wirst dich doch ein wenig gedulden können, hoffe ich?“, gab ihr Sohn amüsiert zurück, und Maria erkannte an seinem Ton, dass er sich hiervon nicht abbringen lassen würde.
„Meu querida“, er umklammerte Cristinas Hand fester, „ich möchte dir meine Mutter vorstellen, Maria Ferreira Scott-Lee. Mutter, dieses wunderschöne Wesen ist Cristina Vitória de Santa Rosa … Marques.“
Die kleine Pause war beabsichtigt gewesen. Und die Reaktion erfolgte sofort. Seine Mutter straffte unwillkürlich die Schultern.
„Sie sind die Tochter von Lorenco Marques?“, fragte Maria nun scharf.
„Sie kannten meinen Vater?“ Cristinas Stimme klang verunsichert und gedämpft.
„Wir trafen einmal zusammen, vor vielen Jahren.“ Maria schien verwirrt. Der Blick ihrer schönen braunen Augen richtete sich auf Anton. „Aber mir wurde gesagt …“
„Du kanntest Cristinas Vater also?“, übernahm Anton wieder die Führung des Gesprächs. „Eine interessante Neuigkeit, die meine nächste Ankündigung umso erfreulicher macht.“ Er lächelte. „Mutter, du bist die Erste, die uns gratulieren darf, denn die außergewöhnlich schöne Tochter von Lorenco Marques wird meine Frau werden.“
Danach entwickelte sich alles wie in einem Albtraum. Die Körpersprache der beteiligten Personen strafte jedes einzelne gesprochene Wort Lügen.
„Also das ist … eine Überraschung.“ Luis’ Mutter rettete sich in ihre Würde. „Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe.“ Sie brachte es sogar über sich, Cristina auf beide Wangen zu küssen. Dabei drängte sie es sicher, Antworten auf die Fragen zu verlangen, die sich in ihrem Kopf überschlagen mussten.
Hatte Kinsella den Namen Ordoniz gegenüber Luis’ Mutter fallen lassen? Cristina brauchte nur in die kaltes Gift versprühenden blauen Augen zu blicken, als die Blondine sich gezwungenermaßen den Glückwünschen anschloss, um zu wissen, dass es so gewesen war.
Luis schien die unterschwelligen Strömungen scheinbar nicht zu spüren. Er lächelte, war charmant und geistreich und schien der glücklichste Mann auf Erden zu sein, als man mit Champagner auf das Brautpaar anstieß. Schließlich wechselte man von der Lounge in das Restaurant über.
Und während der gesamten Zeit hielt er Körperkontakt mit Cristina, entweder mit seiner Hand oder seinen Augen oder seinem Mund. Es war eine provozierende Schau, die er lieferte, denn er machte jedem damit klar, womit Cristina und er die Zeit verbringen würden, säßen sie nicht hier am Tisch.
Die Vorspeise wurde gebracht, von vier dienstbeflissenen Kellnern. Cristina sah auf ihren Salat und fragte sich, wie sie auch nur einen Bissen hinunterbekommen sollte. Die Anspannung versteifte jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper. Ein Blick über den Tisch zu Maria Ferreira zeigte ihr, wie anstrengend Luis’ Mutter es fand, die Konversation freundlich und leicht zu halten.
Kinsella stocherte in ihrem Essen und hielt den Blick bedachtsam gesenkt. Cristina hatte Angst vor dem, was hinter diesen Lidern vorging. Wie konnte Luis das dieser Frau nur antun? Seiner Geliebten, mit der er vor Kurzem noch das Bett geteilt hatte, zuzumuten, hier zu sitzen und das ertragen zu müssen.
Er war erbarmungslos und grausam. Er würde nie nachgeben. Wusste seine Mutter, was für einen Mann sie großgezogen hatte?
„Darf ich Ihren Ring sehen, Miss Marques?“, bat Maria jetzt.
„Cristina“, berichtigte ihr Sohn leise.
Cristina biss sich auf die Zunge. Seine Mutter versuchte zumindest, nett zu sein. So streckte sie ihren Arm aus und hielt Maria ihre Hand entgegen.
Lange betrachtete Mrs Scott-Lee das schöne Schmuckstück, bevor sie Cristina in die Augen schaute. „Ich habe fast den gleichen, nur dass ein Smaragd in den Diamanten eingebettet sitzt – in dem gleichen Grün wie die Augen meines Sohnes.“
Aus irgendeinem Grund kniff Anton in diesem Moment die Augen zusammen. Maria vermied es, ihren Sohn anzusehen. Spannung lag in der Luft.
Die Kellner kamen, um die Teller abzuräumen. Während man auf den Hauptgang wartete, war es erneut Luis’ Mutter, die Cristina überraschte.
„Ich war einmal zu Besuch in Ihrem Heim, Cristina. Es ist ein so wundervolles Anwesen.“
Cristina errötete. „Obrigado“, sagte sie leise und dachte, dass heutzutage nicht mehr viel Wundervolles an dem Anwesen zu entdecken war.
„Kennst du Santa Rosa schon, Anton?“, richtete Maria sich an ihren Sohn. „Es liegt am Rande der offenen Pampas, mit saftigen Weiden und fruchtbaren Tälern, eingenestelt in den Bergen und einem beeindruckenden Tropenwald, der wie eine Grenze den dahinter liegenden Ozean zurückhält …“ Sie blinzelte. „Natürlich ist das dreißig Jahre her, aber wenn ich mich recht erinnere, ist die Villa im Stil eines portugiesischen Herrenhauses gebaut.“
Cristina nickte und benetzte ihre trockenen Lippen mit einem Schluck Wein. „Meine Vorfahren haben das Haus errichtet, als sie aus Portugal kamen, in dem Baustil, den sie aus ihrer Heimat gewöhnt waren. In der Gegend gibt es viele ähnliche Häuser.“
„Aber sicher nicht viele, die mit der Grandeur von Santa Rosa mithalten können, nehme ich an.“
Cristina senkte den Blick, dachte an das Heim, das sie vor nur wenigen Tagen verlassen hatte. Abblätternde Farbe und feuchte Wände waren längst an die Stelle von Ehrfurcht gebietender Hochherrschaftlichkeit getreten.
„Glauben Sie, ich könnte auch Ihre Mutter kennen?“
Cristina schüttelte den Kopf. „Mein Vater lernte meine Mutter in Portugal kennen und heiratete sie auch dort. Sie starb ein Jahr später, bei meiner Geburt.“
„Zu schade, dass Ihr Vater heute Abend nicht hier ist.“
Marias Ton hatte sich verändert. Jeder bemerkte es. Luis versteifte sich, Kinsella griff hastig nach ihrem Weinglas. Cristina wartete einen Moment, bevor sie antwortete.
„Meine Eltern sind beide tot, Senhora Scott-Lee“, sagte sie, so ruhig sie konnte.
„Mein Beileid.“ Mrs Scott-Lee neigte fragend den Kopf zur Seite. „Aber Ihr Vater hat doch sicher wieder geheiratet? Ihnen vielleicht einen Bruder geschenkt, der Santa Rosa geerbt hat?“
„Ich bin das einzige Kind. Santa Rosa ist an mich übergegangen.“
„Dann hat mein Sohn wohl eine ausgezeichnete Wahl getroffen. Ihre Kinder sind von beiden Familien gesegnet – oder haben Sie Kinder aus Ihrer ersten Ehe?“
Es war wie ein zweifacher Schlag in den Magen. Cristina antwortete nicht, konnte nicht antworten. Kinsella sandte ihr ein vielsagendes, bösartiges Lächeln, das Cristina das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Gibt es einen bestimmten Grund für deine Fragen, Mutter?“, mischte Anton sich endlich ein.
Maria sah zu ihm hin. „Mir gegenüber wurde angedeutet, dass deine Verlobte schon einmal verheiratet gewesen sei.“
„Interessant. Und wer hat dir das zugetragen?“
Maria zuckte mit keiner Wimper. „Miss Lane und ich unterhielten uns darüber, dass du einen Gast bei dir hast, vorhin, bevor du heruntergekommen bist.“
„Miss Lane“, Anton sah nicht einmal in Kinsellas Richtung, „sollte es besser wissen, als meine persönlichen Angelegenheiten nach außen zu tragen.“
„Ich muss mich entschuldigen, Anton, wenn ich meine professionellen Kompetenzen hier überschritten haben sollte“, ließ Kinsella sich reuig vernehmen. „Ich nahm an, Ihre Mutter wüsste bereits …“
„Und warum veranlassen dich Informationen“, er überging Kinsella völlig, „die du von meiner Sekretärin erhältst, dazu, die nächste Maschine von London nach Rio zu nehmen?“
Seine Mutter versteifte sich abrupt, als es ihr klar wurde. „Max!“
Anton nickte grimmig. „Ich würde außerdem gerne erfahren, warum Cristinas erste Ehe irgendjemanden außer Cristina und mich interessieren sollte und warum du es für nötig hältst, sie zu verhören.“
Maria wurde rot. „Ich wollte doch lediglich …“
„Du wolltest herausfinden, was ich vorhabe?“
„Du kennst diese Frau doch kaum, querido!“, brauste Maria plötzlich auf. „Du hast sie gerade erst kennengelernt! Sie ist nicht, was sie vorgibt zu sein, sie ist …“
„Die Witwe von Vaasco Ordoniz“, fiel Cristina klar und deutlich ein.
„Cristina …“
Sie ignorierte den warnenden Ton in Luis’ Stimme. „Da Sie sagten, dass Sie meinen Vater kennen, gehe ich davon aus, dass Sie auch meinen Ehemann kannten.“
„Er war …“
„Ich weiß, was er war, Senhora Scott-Lee. Ich habe ihn schließlich geheiratet. Sie nicht.“ Cristina wusste, dass der Sinn der Worte verstanden worden war, als sie beobachten konnte, wie die Ältere blass wurde. „Deshalb verstehe ich sehr gut – auch wenn Luis das vielleicht nicht nachvollziehen kann –, warum Sie wissen wollen, wie ich einen Mann heiraten konnte, der doppelt so alt war wie ich.“
„Sie missverstehen mich …“
„Oh nein, keineswegs. Ich verstehe Sie vollkommen.“
Maria schickte Cristina einen flehenden Blick. Sie fürchtete sich vor dem, was Cristina als Nächstes sagen würde. Kinsella verfolgte die Szene fasziniert, und Luis blieb so ruhig, dass niemand davon ausgehen konnte, er wisse, was kurz vor der Enthüllung stand.
Doch Cristina würde nicht diejenige sein, die ihn aufklärte. Sollte seine mamma ihm ihre Sünden selbst beichten. Sie erhob sich. „Ich denke, ich sollte besser …“
Luis hielt ihre Hand in seiner geschlossenen Faust. „Setz dich“, ordnete er an.
„Anton …“, warnte seine mamma leise. Sie zogen bereits die Aufmerksamkeit mehrerer Gäste auf sich.
Ein junger, makellos gekleideter Mann erschien plötzlich an Cristinas Seite. „Verzeihen Sie bitte die Störung, senhora“, sagte er höflich. „Aber ich wurde beauftragt, Ihnen das hier zu geben.“
Er reichte Cristina einen weißen Umschlag, verbeugte sich tief und war genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Das Ganze hatte etwas Unwirkliches an sich.
„Was soll das nun wieder bedeuten?“, verlangte Anton zu wissen.
Er war nicht der Einzige, der nicht die geringste Ahnung hatte – außer Cristina. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Umschlag, wurde weiß wie die Wand, drehte sich mit einem gemurmelten: „Entschuldigen Sie mich“, um und ergriff die Flucht.
Anton wollte ihr folgen, doch seine Mutter war ebenfalls aufgesprungen. „Nein, Anton. Ich glaube, Miss Marques sollte diesen Brief allein lesen.“
Nicht, solange ich hier bin, dachte Anton grimmig und lief hinter Cristina her.
„Du kannst doch nicht in den Waschraum für Damen, Darling!“, rief Maria ihm nach.
„Ich gehe, wenn Sie möchten.“
Anton blickte um. „Sie, Miss Lane, bleiben, wo Sie sind, damit ich Sie sehen kann“, herrschte er seine so genannte private Sekretärin an.
Bei seinem Ton wurde Kinsella blass. Seine Mutter schnappte entsetzt nach Luft. Die Leute starrten jetzt offen zu ihnen herüber.
Alles war komplett schief gelaufen. Wie hatte er das zulassen können?
Dieses Dinner hatte eine Demonstration sein sollen, dazu gedacht, seiner Mutter und Kinsella Lane deutlich zu zeigen, dass, ganz gleich, wie sehr sie das Gegenteil erreichen wollten, was sie sich wünschten oder erhofften, er und Cristina ein unzertrennliches Paar waren. Was immer sonst noch gesagt werden musste, hätte hinter geschlossenen Türen stattfinden sollen, nicht aber im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Er wollte Cristina nicht in Verlegenheit bringen, sie war die Frau, die er heiraten würde. Sie war die Frau, die er …
In diesem Augenblick traf es ihn, das eine Eingeständnis, das er jetzt schon unendlich lange vermied. Dabei hatte er dieses Wissen, seit er sie bei jener Gala in dem überfüllten Foyer hatte stehen sehen. Eigentlich seit er ihren Namen in fett gedruckten Lettern auf dem Briefbogen eines Anwalts gesehen hatte. Noch als er sie in dem roten Kleid vor dem Spiegel posieren sah, hatte er sich eingeredet, lediglich in eine Erinnerung verliebt zu sein. Doch es war nicht die Erinnerung.
Er musste einen verwirrten Eindruck machen, denn seine Mutter legte ihm sanft eine Hand auf den Arm. Und als er sich ihr zuwandte, erkannte er die Sorge in den dunklen Augen, das intuitive Verstehen einer Mutter, gemischt mit Reue.
„Ich sehe nach, ob mit Cristina alles in Ordnung ist“, sagte sie leise.
Der Brief. In Antons Kopf wirbelten die Gedanken. Wieso hatte ein einziger Blick auf den Umschlag sie in die Flucht getrieben? Panik erfasste ihn … Doch da gab es noch andere Dinge, die erledigt werden mussten, allem voran Kinsella Lane.
Er hielt seine Mutter kurz zurück, als sie in Richtung der Waschräume gehen wollte. „Sie ist das Wichtigste auf der Welt für mich. Also behandle sie respektvoll.“
Mit zusammengepressten Lippen nickte Maria, während die eigenen Worte wie ein Stakkato in seinem Kopf dröhnten.
Anton atmete tief durch und ließ langsam die Luft aus den Lungen entweichen. Als er sich zu Kinsella umdrehte, hatte er sich wieder völlig in der Gewalt.
„Lassen Sie uns das Ganze nun offiziell angehen, Miss Lane“, sagte er in strengem Ton. „Begeben wir uns also in den Konferenzsaal.“
Damit ging er mit ausholenden Schritten durch das Restaurant und ignorierte die neugierigen Blicke, die ihm folgten. Er zeichnete noch die Rechnung für das ruinierte Dinner ab, die der Maître d’Hotel eiligst zusammengestellt hatte. Auf dem Weg zu den Lifts beorderte er per Handy seine beiden Manager in den Saal. Er wollte Zeugen haben für das, was kommen würde.
„Anton, bitte, hören Sie mir zu.“ Kinsellas Hand lag plötzlich auf seinem Arm. Das und der flehende Ton in ihrer Stimme jagten ihm eine Gänsehaut über den Rücken. „Sie verstehen nicht. Ihre Mutter hat es mir praktisch unmöglich gemacht …“
„Sie sollten so viel Vernunft besitzen und warten, bis wir privat reden können“, schnitt er ihr barsch das Wort ab. Cristina hatte recht, Kinsella flatterte wirklich um ihn herum – wie eine aufgescheuchte Motte.
Angewidert streifte er ihre Hand ab und betrat den Aufzug.
Cristina saß auf einem Schemel und blickte starr auf den weißen Umschlag, den sie verkrampft in den Fingern hielt. Adressiert an Cristina Ordoniz, das allein reichte schon, um Übelkeit in ihr hervorzurufen. Doch es war das Emblem des Absenders, das sie der Fähigkeit beraubte, den Umschlag zu öffnen.
Estes & Kompagnons, Rechtsanwälte.
Vaascos Anwalt. Wie viele dieser weißen Umschläge hatte sie nicht in den Monaten nach seinem Tod erhalten, und jeder einzelne hatte nur schlechte Nachrichten enthalten. Jeder einzelne hatte dazu beigetragen, sie in dieses zitternde, elende Wesen zu verwandeln, das sie jetzt war.
Doch die Briefe waren schon lange nicht mehr gekommen, noch bevor ihr Vater gestorben war. Warum jetzt wieder? Und warum wurde dieser Brief persönlich überreicht, mitten in einem geschäftigen Restaurant während eines Dinners?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden – den Umschlag zu öffnen.
Mit fahrigen Fingern brach Cristina das Siegel und zog ein einzelnes Blatt heraus.
Der Schock traf sie mit Wucht, ließ jeden klaren Gedanken schwinden.
Der Brief hatte absolut nichts mit ihrem verstorbenen Ehemann oder dem Anwesen zu tun.
Senhor Estes vertrat noch einen anderen Klienten … Natürlich hat er andere Klienten, dachte Cristina gereizt, aber … Enrique Ramirez?
Mit wachsendem Erstaunen las sie den Brief.
Eine Hinterlassenschaft. Von Enrique Ramirez. Und in einer Höhe, dass ihr schwindelte. Damit würde sie alle Schulden von Santa Rosa tilgen können. Sie würde Santa Rosa retten können.
Sollte sie es überhaupt wagen, das zu glauben? Der Brief war auf sehr unkonventionelle Weise abgeliefert worden. Vielleicht erlaubte sich ja jemand einen geschmacklosen Scherz. Vielleicht sollte sie besser erst überprüfen, ob alles seine Richtigkeit hatte, bevor sie …
Die Tür ging auf, Cristina blickte auf und sah Luis’ Mutter entgegen.
„Geht es Ihnen besser?“, fragte Mrs Scott-Lee.
„Nein.“ Warum sollte sie der anderen etwas vormachen?
„Ihnen ist übel? Der Brief hat Sie aufgeregt?“
Der Brief ließ einen Traum wahr werden. Doch ein anderer Traum würde sich nie erfüllen. „Ich möchte auf mein Zimmer“, wisperte sie.
„Natürlich.“ Luis’ Mutter ging auf sie zu. „Ich bringe Sie hin …“ Plötzlich verharrte sie. „Sie wissen von Vaasco und mir, nicht wahr?“
Cristina nickte. „Sie waren mit ihm verlobt, aber Sie hatten eine Affäre mit einem anderen Mann. Mit diesem Mann.“ Sie hielt Maria den Brief hin, und bleich wie sie selbst, mit ebenfalls zitternden Fingern wie ihre, nahm Maria ihr den Brief aus der Hand und begann zu lesen.
„Schon wieder Ramirez“, seufzte sie schließlich schwer und ließ sich auf den Schemel neben Cristina sinken.
Cristina wusste nicht, was sie sagen sollte. Wenn man wusste, dass eine Frau wie Luis’ Mutter eine heißblütige Affäre mit einem anderen Mann unter dem Dach ihres Verlobten anfing, fehlten einem die Worte.
„Kannten Sie Enrique so gut, dass er Ihnen so viel Geld hinterlassen hat?“
Das Geld. Cristina atmete tief durch, als ihr Magen wieder zu revoltieren begann. Und sie wusste auch genau, warum ihr so elend war, obwohl sie doch im Grunde vor Freude jubeln sollte. „Ich habe ihn nur ein einziges Mal getroffen“, erwiderte sie gequält. „Er … er hat mir das Leben gerettet, als ich noch sehr klein war. Warum … warum hat Luis mir gegenüber diesen Namen erwähnt?“
„Anton“, verbesserte Maria automatisch.
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund fing Cristina an zu lachen. „Ich weiß, wie er heißt, senhora. Ich kenne seinen Namen schon lange, um genau zu sein, sechs Jahre. Seit dem Tag, als wir uns kennenlernten, uns auf Anhieb verliebten und dann …“ Und dann haben wir uns verloren, fügte sie in Gedanken an.
„Sie sind das?“ Maria Ferreira Scott-Lee sah Cristina plötzlich mit ganz anderen Augen.
„Was meinen Sie?“ Cristina runzelte die Stirn.
„Nichts.“ Maria wandte den Blick ab. „Vergessen Sie, was ich gesagt habe.“
Schweigen breitete sich aus. Und so, wie alles an diesem Abend bizarr und außergewöhnlich verlief, war auch dieses Schweigen seltsamerweise weder feindselig noch verlegen, es war einfach nur ein Schweigen.
„Lieben Sie meinen Sohn denn?“, hob Mrs Scott-Lee plötzlich an.
Darauf werde ich nicht antworten, dachte Cristina. „Ich werde ihn nicht heiraten, wenn es das ist, worauf Sie hinauswollen.“
„Aber warum nicht? Was stimmt mit Anton nicht, dass Sie ihn schon zum zweiten Mal versetzen?“
„Wer behauptet, es wäre das zweite Mal?“
„Niemand hat das behauptet, entschuldigen Sie, mein Irrtum.“ Eine tiefe Falte lag jetzt auf Marias Stirn. „Warum wollen Sie ihn nicht heiraten?“
Es gab mindestens tausend Gründe, aber sie nannte nur einen. „Er ist ein Schürzenjäger, wenn Sie es unbedingt wissen wollen.“
„Natürlich ist er gern in Gesellschaft von Frauen“, verteidigte ihn seine Mutter. „Er ist jung, sieht gut aus und ist ein viriler Mann. Aber wenn Anton heiratet, wird er genügend Manieren und Anstand haben, seiner Ehefrau treu zu bleiben.“
Manieren? Cristina lachte trocken auf. Manieren würden wohl kaum ausreichen, damit der Kater das Mausen ließ! „Er hat die vorletzte Nacht noch in den Armen einer anderen Frau verbracht.“
„Das glaube ich nicht.“
„Seine Sekretärin klärte mich auf, dass sie und Luis seit Monaten ein Paar sind.“
„Miss Lane?“ Maria klang erschüttert. „Ich kann nur hoffen, dass Sie sich da irren.“
„Das bezweifle ich.“
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, schossen ihr Tränen in die Augen. Cristina stand auf. „Geben Sie das bitte Luis zurück.“ Sie zog den Ring vom Finger und ließ ihn Luis’ Mutter in den Schoß fallen. „Und zeigen Sie ihm den Brief. Dann wird er verstehen.“
„Er wird Sie nicht gehen lassen“, rief Maria hinter ihr her.
„Die Wahl liegt nicht mehr bei ihm.“ Cristina schluchzte laut auf.
„Die Wahl hat nie bei ihm gelegen!“ Ring und Brief in einer Hand, stand Maria auf, um Cristina mit der anderen festzuhalten. „Er muss Sie heiraten, Cristina, oder er wird nie das Erbe seines Vaters erhalten.“
Cristina drehte sich zu der anderen Frau um. „Wovon reden Sie? Sein Vater ist seit sechs Jahren tot!“
„Ich rede nicht von …“ Mrs Scott-Lee brach ab und stieß einen undamenhaften Fluch aus. „Das wird er mir nie verzeihen“, flüsterte sie vor sich hin. „Aber er wird mir meine Einmischung so oder so nicht verzeihen, also …“ Sie blickte Cristina fest ins Gesicht. „Bitte, setzen Sie sich wieder. Ich muss Ihnen ein paar Dinge erklären …“
Die Besprechung mit Kinsella war mehr als unangenehm. Einmal in die Ecke gedrängt und in ihrem eigenen Netz gefangen, spuckte die loyale Sekretärin Gift und Galle. Mit den beiden jungen Managern als Zeugen, teilte Anton ihr offiziell mit, dass sie aufgrund groben Fehlverhaltens fristlos entlassen sei.
„Und Sie glauben, ich lasse das so einfach mit mir machen?“, fauchte sie. „Nachdem ich Ihnen sechs Jahre meines Leben gewidmet habe? Seit dem Tag, an dem Sie die Nachfolge Ihres Vaters angetreten haben, arbeite ich daran, mich in Ihr perfektes Wunschbild zu verwandeln, in genau das, was Sie wollen.“
„Ich will nichts von dem, was Sie sind“, kam es schonungslos von Anton zurück.
„Nein, natürlich nicht.“ Kinsella bebte vor Wut. „Sie ziehen eine dunkelhaarige Hexe vor, die bei der ersten Gelegenheit nur allzu bereitwillig in Ihr Bett gefallen ist!“
Wie er es schaffte, dieser Frau nicht den Hals umzudrehen, verstand er selbst nicht. „Wissen Sie, Miss Lane“, erwiderte er schneidend, „der gravierende Unterschied zwischen Ihnen, die so unbedingt in mein Bett fallen will, und irgendeiner Frau, die ich dort haben will, ist der, dass diese Frauen begehrenswert sind – Sie aber nicht.“
„Aber sie spielt ja auch die Rolle der Straßendirne so gut, nicht wahr?“, sagte Kinsella. „Schließlich ist sie die Frau, die alles tut, um zu bekommen, was sie will. Sie heiratet auch einen fetten alten Mann! Ich frage mich, ob sie auch über ihn so hingekrochen ist wie über Sie!“
Mit weißem Gesicht, angewidert von dieser letzten niederträchtigen Bemerkung, sah Anton unwillkürlich zu der Tür, die Konferenzraum und Suite miteinander verband. Heute war sie geschlossen, doch gestern …
Ein eiskalter Schauder rann ihm über den Rücken, als er sich den Verlauf der Dinge in Erinnerung rief. Gestern also war Kinsella in den Konferenzraum gekommen und der Spur der verstreuten Kleidungsstücke gefolgt, hatte zugesehen bei dem, was allein zwischen ihm und Cristina hätte bleiben sollen. Seine Haut begann zu prickeln bei der Vorstellung, wie Kinsella dagestanden und ihnen zugesehen hatte, ein perverser Voyeur, um sich dann leise wieder davonzuschleichen, den Safe zu durchwühlen und seine Mutter anzurufen.
Ihm war übel. Diese Frau war krank. Er kehrte ihr voller Abscheu den Rücken zu. „Geleiten Sie sie hinaus“, wies er seine beiden Juniormanager an.
Als er wenige Minuten später in seine Suite hinüberging, fand er seine Mutter angespannt auf der Kante eines Stuhls sitzen.
„Wo ist Cristina?“, verlangte er zu wissen.
„Ich … Wir sollten uns unterhalten, Anton.“ Mit flehendem Blick sah sie ihn an.
„Wo ist sie?“, fragte er ungehalten und eilte zum Schlafzimmer. Er wollte, musste wissen, was in diesem verdammten Brief stand. Er musste erfahren, warum sie davongelaufen war!
„Sie ist fort!“ Die zittrige Stimme seiner Mutter ließ ihn mitten in der Bewegung erstarren. „Sie ist nach Hause zurückgefahren, nach Santa Rosa, querido. Sie …“
Diese Frau da vor ihm hatte er sein Leben lang bedingungslos geliebt, aber nun konnte er nachvollziehen, warum sie unsicher einen Schritt vor ihm zurückwich. „Wenn du ihr eingeredet hast, mich zu verlassen, werde ich dir nie vergeben.“
„Sie ging aus freien Stücken, das schwöre ich“, versicherte Maria. „Ich mag eine unvernünftige Frau sein, Anton, aber ich …“ Sie schluckte. „Ich soll dir von ihr ausrichten, dass sie sich bei dir melden wird, um alles zu erklären, sobald sie genügend Kraft dazu hat.“
Cristina war weg. Nur langsam begriff er. Sie hatte ihn verlassen. Wieder.
„Sie behauptet, Miss Lane sei deine Geliebte“, fuhr Maria zögernd fort. „Anton, hast du denn nichts gelernt, als du erfahren musstest, wer dein wirklicher Vater war? Enrique ist von einer Frau zur nächsten gezogen. Oh ja, er hat es genossen, aber er ist als unglücklicher und einsamer Mann gestorben.“
„Ich will nichts über ihn hören.“
„Und doch bist du nur seinetwegen hier!“
„Das alles ist grotesk!“ Er lachte unfroh auf. „Ich habe diesen Enrique Ramirez nie gesehen, und doch glaube ich, er hat mich besser gekannt als du oder sogar ich selbst. Ich bin ihretwegen hier. Ich liebe Cristina. Ich habe sie verdammt noch mal schon immer geliebt!“
„Meu Deus!“ Mit einem erstickten Seufzer ließ seine Mutter sich zurück auf den Stuhl sinken.
„Ich werde ihr nachfahren …“
„Nein, Anton, bitte!“ Sie stand wieder auf. „Erst muss ich dir etwas sagen, bevor du das tust …“