9. KAPITEL

Cristina arbeitete bei der Hauptscheune, als dröhnendes Rotorengeräusch sie aufblicken ließ. Ein Helikopter kreiste über dem Anwesen, bevor er eine leere Weide außerhalb Cristinas Sichtbereichs ansteuerte, um zu landen.

Das war Luis. Ihr kam gar nicht der Gedanke, es könne jemand anders sein. Er war für die letzte große Konfrontation gekommen, auch wenn sie nicht damit gerechnet hatte, dass er so schnell hier sein würde.

Ein Schauer durchlief sie. Sie musste alle Kraft aufbringen, um das Prickeln von Aufregung und Erwartung zu unterdrücken. Entschlossen presste sie die Lippen zusammen und widmete sich wieder ihrer Arbeit. Doch sie fühlte es, wie er sich ihr näherte, es war, als würden eiskalte Finger nach ihrer Kehle greifen, bis sie kaum noch atmen konnte.

Anton blieb wenige Meter von ihr entfernt stehen, sah schweigend zu, wie sie Heuballen auf die Ladefläche des Trucks hievte, während Pablo, ihr Farmhelfer, den Neuankömmling unter dem Rand seines alten Hutes hervor argwöhnisch musterte. Cristina trug ausgeblichene Jeans und ein kariertes Hemd, schwere Arbeitshandschuhe schützten ihre Hände. Das Haar hatte sie unter einem roten Kopftuch versteckt, ihr Gesicht war ungeschminkt. Sie wirkte so grazil und zerbrechlich, und doch warf sie die Heuballen wie ein Mann.

Ärger wallte in ihm auf. Anton trat näher, bedachte den Helfer mit einem Blick, der den armen Mann sich hastig davonmachen ließ, und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf Cristina.

„Sieh mich an“, verlangte er.

Als einzige Reaktion spießte sie eine weitere Garbe auf. Frustriert stellte Anton den Fuß darauf, beobachtete, wie Cristina verharrte, blinzelte, als sie auf seinen schwarzen Lederschuh und die schwarze Hose blickte. Die Spannung wuchs, je höher ihr Blick an seinem Hosenbein glitt, weiter hinauf zu dem Abendjackett, unter dem er ein blütenweißes Hemd trug.

Auf ihrem Gesicht ließ sich erkennen, wie hingerissen sie war von dem, was sie sah.

„Zufrieden?“, fragte er und zog ihren Blick damit noch ein Stückchen höher, hinauf zu dem offen stehenden Hemdkragen, unter dem seine bronzene Haut zu sehen war. Die Fliege hing locker herunter, wie eine schwarze Schleife.

„Es hat Stunden gedauert, um den Charterpiloten zu überreden, mir den Hubschrauber zu überlassen“, begann Anton barsch. „Und davor musste ich erst mal nach Sao Paulo kommen. Da saß ich dir noch direkt auf den Fersen. Du kannst von Glück sagen, querida, dass ich aufgehalten wurde, sonst hätte ich dich wahrscheinlich schon auf diesem Heuballen hier erwürgt. So aber habe ich nicht die Energie dazu. Ich bin verschwitzt, hundemüde und brauche dringend eine Dusche und Rasur.“

Ihr Blick glitt flüchtig über den Bartschatten, der seine Wangen bedeckte. Ihre Lippen öffneten sich leicht, als flehten sie geradezu danach …

Seine eigenen Lippen zuckten. „Außerdem kratzt es schon in meiner Kehle vor Durst, und etwas zu essen würde ich auch dankend annehmen – nachdem du dafür gesorgt hast, dass aus dem Dinner gestern Abend nichts wurde.“ Um auch ganz sicherzustellen, dass er sich verständlich gemacht hatte, beugte er sich vor und sah sie eindringlich an. „Mit anderen Worten, Sweetheart, vor dir steht ein Mann, der am Ende seiner Kräfte ist. Deshalb sei gewarnt, dass es sehr, sehr riskant sein könnte, solltest du beschließen, mich zu ignorieren.“

Sie blinzelte, schluckte, und mit bebenden Lippen holte sie Luft. Er hielt ihren Blick gefangen, überlegte, ob er sie küssen sollte – hart, fest, bestrafend, bis ihr die Luft wegblieb –, aber dann richtete er sich nur auf und nahm den Fuß vom Heuballen.

Erst jetzt sah Cristina die Reisetasche, die er neben sich auf den Boden hatte fallen lassen. „Luis …“

„Anton“, verbesserte er brüsk und betrachtete seine Umgebung. „Im Moment fühle ich mich überhaupt nicht wie Luis.“

„Ich werde dich nicht heiraten.“

„Auch gut.“ Er zuckte gleichgültig die Schultern. „Dann führe mich herum. Ich möchte die Investition kennenlernen, in die ich mich eingekauft habe.“

„Wirst du mir endlich zuhören?“

Er drehte sich abrupt zu ihr um, seine Züge waren maskenhaft starr. „Nur, wenn du etwas zu sagen hast, das ich hören will.“

„Ich brauche dein Geld nicht mehr! Hat deine Mutter dir das nicht gesagt?“

„Das mit der Hinterlassenschaft meines Vaters?“

„Vater …?“

Anton bedachte sie mit einem Blick, der ihr deutlich machte, dass er sich auf keine Spiele mehr einlassen würde. „Du weißt, dass Enrique Ramirez mein leiblicher Vater ist, weil meine Mutter es dir gesagt hat. Da dieser Anreiz zu weiteren Täuschungsmanövern nun auch aus der Welt geschafft ist, könntest du mich jetzt herumführen … bitte.“

Bitte. Cristina betrachtete diesen großen, selbstsicheren, arroganten Mann mit den guten Manieren und den hart blickenden Augen, die sie warnten.

Dennoch hielt sie trotzig ihre Stellung. „Ich kann meine Schulden abzahlen.“

„Du kannst es ja versuchen.“ Er lächelte dünn. „Allerdings … sobald du den ersten Schritt machst, werde ich sämtliche meiner Anteile an das Alagoas-Konsortium verkaufen, und die sind wesentlich schwieriger zufriedenzustellen als ich.“

Cristina wusste, dass er es ernst meinte. „Du bist auch nicht leicht zufriedenzustellen.“ Mit einem Seufzer zog sie die Arbeitshandschuhe von den Händen und warf sie auf den Heuballen.

Ohne Anton anzusehen, ging sie zu der altmodischen Pumpe und wusch sich die Hände unter dem kühlen Wasserstrahl, dann tränkte sie ihr Kopftuch und wischte sich damit über das erhitzte Gesicht und den Nacken.

Wenn Luis glaubt, einen schlechten Tag hinter sich zu haben, dann kennt er meinen nicht, dachte sie müde. Drei Farmhelfer waren gegangen, kaum dass sie nach Rio aufgebrochen war, und hatten Pablo allein mit der Arbeit für vier zurückgelassen – fünf, wenn sie sich selbst mitzählte. Sie waren seit Monaten nicht mehr bezahlt worden, Cristina konnte es ihnen nicht übel nehmen. Und als sie zurückgekommen war, fand sie Orraca, die Haushälterin, auf Händen und Knien vor, wie sie Wasser vom Küchenboden aufwischte, weil ein Rohr geplatzt war. Orraca war viel zu alt, um auf allen vieren über den Boden zu kriechen, also hatte Cristina das Trockenwischen übernommen, während Pablo die Leitung reparierte. Dann waren Pablo und sie hier herausgekommen, um die Arbeit zu erledigen, die seit Tagen liegen geblieben war.

Jetzt war es zwei Uhr nachmittags, die Stunde, zu der die Sonne am höchsten stand, und alles, wonach Cristina sich sehnte, war jene Dusche, die Luis erwähnt hatte. Danach wollte sie nur noch ins Bett und schlafen.

Plötzlich war da eine Hand, die Cristina das Tuch abnahm. Es war albern, dass ihre Lippen zu zittern anfingen, aber sie taten es. Luis hielt das Tuch erneut unter das kalte Wasser, wrang es aus und legte es Cristina behutsam an den Nacken.

Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. „Du brauchst nicht nett zu mir zu sein“, protestierte sie und blinzelte die Tränen zurück.

„Würdest du lieber meine Hand dort spüren anstelle des Tuchs? Oder wünschst du dir, ich würde mich auf dem Absatz umdrehen und wieder gehen?“

Cristina öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Jetzt legte Luis seine Hände auf ihre Schultern, und es war einfach nicht fair, dass er sie an sich heranzog. Ehe sie wusste, was sie tat, spielte sie gedankenverloren mit der baumelnden Fliege an seiner muskulösen Brust.

„Ich stecke dir im Blut“, sagte er rau. „So wie du mir im Blut steckst. Warum ständig dagegen angehen?“

Weil ich muss, antwortete sie in Gedanken. Sie hob das Kinn und wich einen Schritt zurück. „Möchtest du eine Erfrischung?“, fragte sie.

„Oder vielleicht etwas anderes?“, erwiderte er vieldeutig.

„Möchtest du oder nicht?“, wiederholte sie gereizt.

Er stieß einen Seufzer aus und sah auf die Uhr. „Wenn du mich herumführen willst, dann bleibt im Moment keine Zeit für Essen und Trinken. Der Wetterbericht hat ein Gewitter angesagt“, führte er aus. „Ich würde mir Santa Rosa gern von der Luft aus ansehen, solange es noch möglich ist.“

Die komplette Verweigerung, auch nur einen Millimeter nachzugeben, wie Cristina auffiel. Sie stand da, mit verschränkten Armen, darauf eingestellt weiterzukämpfen, doch dann erkannte sie mit einem Mal die Anzeichen von Erschöpfung in seinem Gesicht. Und gab auf – für den Moment.

Starrsinnig konnte sie später immer noch sein. Sie ging, um Pablo zu suchen, und instruierte ihn, Luis’ Tasche ins Haus zu tragen. Pablo warf einen düsteren Blick auf Luis, nickte dann aber. Nahm auch das Jackett an, das Luis ausgezogen hatte und dem Mann mit einem höflichen „Danke“ überreichte.

Nach diesem Erkundungsflug wird die ganze Gegend wissen, dass ich von einem Mann überrumpelt worden bin, dachte sie, während sie zum Truck ging und eine Flasche Mineralwasser aus der Kühltasche hervorholte. Stumm reichte sie Luis die Flasche, der mit großen Zügen auf dem Weg zum Helikopter trank. Keine zehn Minuten später waren sie in der Luft, und Cristina erklärte mit leiser Stimme, was sie unter sich sahen. Luis hörte aufmerksam zu, stellte Fragen und flog den Hubschrauber, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan.

Anton bemerkte, wie ihre Stimme sanfter wurde, während sie das Land beschrieb. Er konnte verstehen, wieso. Santa Rosa war ein einzigartiges Anwesen voller atemberaubender Kontraste.

Sie flogen über weites offenes Land mit Viehherden, dann wechselten die Pampas zu grünen, üppigen Weiden, durchzogen von silbern glänzenden Flüssen. Cristina wies ihn an, über einen Hügel in das nächste Tal zu fliegen, in dem zahllose kleine weiße Häuser mit einem eigenen Stück Land standen.

„Gehört das auch zu Santa Rosa?“

Cristina nickte. „In diesem Tal will das Alagoas-Konsortium die Verbindungsstraße zur Autobahn anlegen.“

Anton brauchte nicht erklärt zu werden, was das für die Menschen bedeutete, die dort unten lebten, wenn die Landentwickler ihr Vorhaben durchsetzen konnten.

Dann dirigierte Cristina ihn über die andere Seite des Tales hinaus, und Anton wusste sofort, warum sie ihn hierher gebracht hatte. Vor ihnen lag der Regenwald wie eine dunkelgrüne Wand. Majestätisch, unbesiegbar, immerwährend … so wollte man glauben. Er erkannte sofort, warum dieses Land so wertvoll für das Konsortium war. Ein breiter Fluss bahnte sich seinen Weg durch den Dschungel, Meile um Meile, um dann in der azurblauen See zu münden, gesäumt von einem makellos weißen Sandstrand.

„Das ist es?“, fragte er, während er dem Lauf des Flusses mit dem Helikopter folgte.

„Sim.“

„Der Bankier in mir sagt, dass du auf einer Goldmine sitzt, Cristina. Der Mensch in mir schreit auf, was für ein schreckliches Verbrechen an der Natur es wäre, dies hier zu zerstören.“

Cristina erwiderte nichts darauf. Und so schwiegen sie beide auf dem Rückflug.

Der Hubschrauber setzte auf der Weide hinter dem Haus auf, aber nicht eher, bis Anton zweimal um das zweistöckige Herrenhaus gekreist war. Er machte keine Bemerkung über den bedauernswerten Zustand des Gebäudes, doch seine Lippen waren nur ein dünner Strich, als er landete.

Die Hitze des Nachmittags war unerträglich – ebenso wie das Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, als sie an den verwitterten Scheunen vorbeigingen. Das Haus selbst war von einer niedrigen weißen Mauer umgeben, ein offener Torbogen führte in einen Garten, der einst sehr schön gewesen sein musste, doch jetzt, wie auch das Haus, die Spuren der Vernachlässigung aufwies.

Keine Menschenseele begegnete ihnen.

„Es ist sehr ruhig hier“, stellte Anton fest.

„Siesta“, erwiderte Cristina.

Eine reizvolle Idee, dachte er, behielt es jedoch für sich.

Sie betraten das kühle Haus. Wortlos führte Cristina Anton durch die Eingangshalle mit der hohen Decke und die geschwungene breite Treppe hinauf, während er sich umsah und den einst eleganten, doch jetzt teils abgeschlagenen Fliesenboden bemerkte, die großen Ölgemälde an den Wänden, die so stark nachgedunkelt waren.

Cristina ging voran zu dem einzigen Gästezimmer, das von den insgesamt zwölf noch zu benutzen war, und war erleichtert, dass Pablo genügend Geistesgegenwart besessen hatte, Antons Tasche hierher zu bringen.

„Dort ist das Bad.“ Cristina zeigte auf die Verbindungstür. Ihr Ton war kühl und sachlich und ließ nichts von dem Tumult erahnen, der sich in ihr abspielte. „Ich werde einen Imbiss anrichten.“ Damit drehte sie sich um und verließ den Raum, zog die Tür leise hinter sich ins Schloss.

Sobald sie auf dem Gang stand, floh sie regelrecht die Treppe hinunter, durch die Halle und in die Küche. Sie erlaubte es sich nicht, darüber nachzudenken, warum sie fühlte, wie sie fühlte, hielt sich verzweifelt beschäftigt und holte ein Tablett hervor, auf das sie frisch gebackenes Brot, selbst gemachte Marmelade und eisgekühlte Limonade stellte. Im letzten Moment eilte sie noch hinunter in den Weinkeller ihres Vaters und griff wahllos eine Flasche aus den Regalen, stellte sie zusammen mit zwei Gläsern und einem Korkenzieher dazu.

Bedauernswert, jämmerlich, traurig, warf sie sich selbst in Gedanken vor, nahm das Tablett auf und ging zurück zur Treppe.

Anton machte Ähnliches durch. Bei ihm äußerte sich der Gefühlstumult allerdings in Rage. Er stand in dem Zimmer und schaute sich um.

Wie lange lebte sie schon in diesem Mausoleum? Wie ein Hausgeist, der durch die Gänge schlich. Wie konnte sie das hier einem erfüllten Leben mit ihm vorziehen?

Er riss sich das verschwitzte Hemd vom Körper, wischte sich damit den Schweiß vom Gesicht und ließ es auf den verblichenen Perserteppich fallen, der einst ein Vermögen wert gewesen sein musste.

Jetzt war er nichts mehr wert. Genauso wenig wie die zerschlissenen Satinvorhänge an den Fenstern und die Tagesdecke auf dem Bett – alles in diesem Haus, das wie in der Zeit eingefroren schien, gehörte entrümpelt.

Er holte seine Kulturtasche hervor und ging zu der Verbindungstür. War überrascht, ein funktionsfähiges, wenn auch mit altmodischer Keramik ausgestattetes Badezimmer vorzufinden. Er drehte das Wasser auf, und mit einem Seufzer machte er sich daran, zuerst die Bartstoppeln von seinem Gesicht zu entfernen.

Er wusste nicht, was folgen würde. Wollte es gar nicht wissen, weil wahrscheinlich nur die nächste Konfrontation bevorstand, in der er wieder einmal versuchen würde, Cristina zur Vernunft zu bringen.

Und doch merkte er, wie alles in ihm sich darauf vorbereitete.

Das Tablett auf einem Arm balancierend, klopfte Cristina nach kurzem Zögern an die Tür des Gästezimmers und schob sie auf.

Luis war nicht im Raum. Sie hätte nicht sagen können, ob es Erleichterung war, was sie empfand. Sie stellte das Tablett auf den Tisch beim Fenster, hörte Wasser rauschen, und dann erblickte sie seine Kleidung, achtlos zu Boden geworfen auf einen Stapel.

Würde sie es tun?

Ihr Magen zog sich zusammen, ihr Herz pochte wild, weil … ja, sie würde es tun. Einmal, ein einziges Mal würde sie tun, was sie wirklich wollte, und den Traum ausleben, der sie seit sechs Jahren verfolgte. Einen Traum, der von Luis handelte, von diesem Haus und diesem Bett.

Ihre Kleidung landete auf seiner. Sie löste den Knoten und benutzte Luis’ Fliege, um sich das Haar locker zusammenzubinden, bevor sie an die Badezimmertür klopfte.

Anton war gerade dabei, sich das Gesicht nach der Rasur abzutrocknen, als er das Klopfen hörte. Er drehte sich um – und verharrte regungslos, als eine nackte Cristina durch die Tür kam, diese verschloss und sich zu ihm umdrehte.

Sie sah ihn an. Er sah sie an. Keiner sprach ein Wort.

Ihr Kinn war ein wenig erhoben, ihre Lippen zitterten, ihre Augen blickten unendlich verletzlich. Nun, da sie bis hierher gekommen war, wusste sie nicht, wie es weitergehen sollte. Sie hörte das Wasser hinter dem Duschvorhang rauschen, sah den Dampf dahinter hervorquellen und war insgeheim dankbar dafür, dass der alte Boiler sie dieses Mal nicht im Stich gelassen hatte, wie sonst so oft.

„Ich dachte mir, wir könnten vielleicht gemeinsam duschen“, hörte sie sich atemlos sagen. „Hast du etwas dagegen?“

Ob er etwas dagegen hatte? Zum ersten Mal seit sechs Jahren kam sie zu ihm, es bedurfte keiner Worte, um ihr klarzumachen, was das für ihn bedeutete. Cristina brauchte nur den Blick auf seine Lenden zu richten, um die Antwort auf ihre Frage zu finden.

Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Verlegen hob sie den Blick wieder auf sein Gesicht. Ohne ein Wort zu sagen, zog Anton den Duschvorhang zur Seite, eine Einladung, die sie ebenso wortlos annahm. Sie ging hin, streckte die Hand aus und fühlte die Wassertemperatur, beschäftigte sich unnötig lange damit, sie zu regulieren. Anton umfasste von hinten Cristinas Hüften mit den Händen, presste sich an sie, ließ sie wissen, was ihre Anwesenheit mit ihm anstellte.

Das Absurde an dieser Situation – sie, die angelegentlich Knöpfe drehte, er, der erregt hinter ihr stand – ließ sie auflachen. Die Anspannung löste sich endlich.

Anton hob sie hoch und trat mit ihr unter das heiße Wasser, biss sie sanft in die Schulter, während er den Duschvorhang zuzog. Der Dampf war wie Nebel, der es unmöglich machte, klar zu sehen. Luis war es, der es Cristina unmöglich machte, klar zu denken.

Er drückte sie an sich, streichelte, rieb, massierte. Sie legte ihm die Arme um den Nacken und hob den Kopf, um seinen Mund in Besitz zu nehmen. Sie seiften sich gegenseitig ein, erregten sich, bis die Liebkosungen ihnen beiden nicht mehr ausreichten. „Luis, Luis“, stieß Cristina unablässig hervor, als rufe sie ihren lang verlorenen Liebsten. Ich bin hier, wollte Anton sagen, doch er wagte es nicht, um den Bann nicht zu brechen, der sie beide gefangen hielt.

Er hatte das Gefühl, es nicht länger aushalten zu können. Abrupt stellte er das Wasser ab, wickelte sie beide in Laken ein und trug Cristina ins Schlafzimmer zurück.

Seine Augen funkelten, als er sah, dass das Bett aufgeschlagen war. Sie hatte es geplant, hatte gewusst, dass sie beide hier enden würden. Diese wunderschöne, starrsinnige Frau, die sich selbst der schlimmste Widersacher war, die ihn mit der einen Hand wegstieß und mit der anderen heranlockte.

Sie fielen zusammen auf das Bett, liebten sich wild und leidenschaftlich, bis die Sonne tief am Himmel stand. Und auch dann war es nicht vorbei, weil sie sich immer noch zärtlich streichelten, sich küssten, das Nachspiel wie kostbare silberne Fäden weiterspannen, bis Hunger und Durst Cristina endlich aus dem Bett steigen ließen, um das Tablett vom Tisch am Fenster zu holen.

Sie hat nichts vergessen. Anton lächelte still in sich hinein, während sie das Essen auf die Matratze zwischen sie beide stellte und ihm die Weinflasche zum Entkorken reichte. Völlig frei bewegte sie sich in ihrer Nacktheit und brach Stücke von dem Brot ab, bestrich sie mit Marmelade, lächelte Luis an, als sie ihm eines davon reichte und die offene Flasche entgegennahm, um die Gläser voll zu schenken.

Sie hielt ihm eins der Gläser hin. Er nahm es an, trank – und verzog angewidert das Gesicht.

„Himmel, willst du mich vergiften!“ Zu seinem Entsetzen traten ihr gleich Tränen in die Augen. „Was habe ich denn gesagt? Cristina …“ Er seufzte. „Komm schon, sei nicht albern. Das war doch nur ein Scherz. Hier, probier selbst von dem Wein, dann wirst du verstehen.“

Sie schüttelte stumm den Kopf, ihre Lippen, von den fiebrigen Küssen so sinnlich geschwollen, waren zusammengepresst, die Augen groß und glänzend von den Tränen. Rage schäumte jäh in ihm auf, machtvoll und wild wie ein Monster. Wer hatte ihr das angetan? Wer hatte ihr die Lebenslust so sehr genommen, dass ein Glas verdorbenen Weins sie die Fassung verlieren lassen konnte?

Etwa dieser Mistkerl von Ordoniz?

„Also gut“, sagte er, „lass uns darüber reden. Seit wann löst eine Bemerkung über schlechten Wein dich so völlig auf? Wieso schüttest du mir nicht empört den Inhalt deines Glases ins Gesicht?“

„Ich wollte, dass es perfekt ist.“

„Was sollte perfekt sein?“

„Das hier …“ Sie starrte auf das Bett, auf das Tablett, auf ihn. „Du, ich, hier zusammen, das letzte Mal …“, flüsterte sie.

Das letzte Mal …

Die Vorboten der nächsten Konfrontation kündigten sich an. Anton versuchte sie aufzuhalten, presste die Lippen zusammen, spannte sich an.

„Also ging es bei dem“, er zeigte auf das Tablett, „bei dem kleinen Überraschungsbesuch im Bad und dem ganzen Rest hier – nur um Sex?“

„Nein …“

„Sich noch einmal mit dem Engländer auf der Matratze wälzen, bevor du ihm wieder einen Tritt versetzt?“

„Du …“

„Mir reicht’s!“ Er schwang die Beine aus dem Bett.

„Luis, nein!“, rief sie. „Du verstehst nicht.“

„Was gibt es da nicht zu verstehen? Du rennst weg, ich folge dir. Du nimmst dir den Sex, rennst wieder weg … oder genauer, du wirfst mich hinaus.“

„So ist das nicht gemeint …“

„Nein?“ Er lachte bitter auf und streifte sich eine bequeme Hose über. „Ich habe dir einen Heiratsantrag gemacht – wieder einmal. Ich habe dir angeboten, dieses vermaledeite Anwesen zu retten. Ich habe dir den Sex gegeben, den du haben wolltest! Wer ist denn deiner Meinung nach der Trottel in diesem Spiel? Du oder ich?“

Sie schwieg. Er griff nach einem T-Shirt und zog es sich über. „Ach ja, ich darf natürlich nicht vergessen, dass du jetzt andere Möglichkeiten hast. Dafür hat Enrique Ramirez gesorgt.“

„Du hast gesagt …“

„Was habe ich gesagt?“ Er weigerte sich zu registrieren, wie sie nackt, zitternd und mit bleichem Gesicht dastand. „Dass ich an das Alagoas-Konsortium verkaufen würde? Hältst du mich allen Ernstes für einen solchen Schuft?“

Er erwartete gar keine Antwort, sondern kramte in seiner Tasche nach einem Paar sauberer Socken, fand ein weiteres T-Shirt und warf es Cristina zu. „Zieh dir was an“, befahl er barsch, als könne er ihren nackten Anblick nicht ertragen. Ihr schmerzverzerrtes Gesicht sah er nicht, weil er sich auf der Bettkante niederließ, um sich die Socken überzuziehen.

„Du hast schon einmal geheiratet, um all das hier zu retten, einen Kerl, der doppelt so alt war wie du. Ich wüsste zu gern, warum du das bei mir nicht über dich bringst.“

„Du bist nicht alt.“

„Du stehst also jetzt auf alte Männer? Machen Falten und ein schlaffer Körper dich neuerdings an?“, fragte er beißend.

Cristina krümmte sich innerlich, als sie das T-Shirt über den Kopf stülpte. Als sie den Kopf aus dem Kragen streckte, raubte ihr Luis’ Anblick den Atem. Er war jetzt vollständig angezogen, und seine Statur in dem lässigen Aufzug hatte eine stärkere Wirkung auf sie, als wenn er die üblichen korrekten Anzüge trug.

„Du siehst so sehr nach einem Südamerikaner aus“, bemerkte sie hilflos.

„Ich bin Engländer“, erklärte er verschlossen. „Bis zum letzten Blutstropfen.“

„Du hast nie zuvor deine brasilianische Seite verneint“, flüsterte sie.

„Nun, jetzt tue ich es!“ Wieder schäumte die Wut in ihm auf, mit blitzenden Augen drehte er sich abrupt zu Cristina um. „Vor sechs Jahren hast du mich abgewiesen, weil dir mein Englischsein nicht gefiel. Du wolltest nicht nach England ziehen, als Frau eines Bankiers. Du wolltest keine Kinder, denen das angeborene Temperament aberzogen werden würde.“ Er schoss ihre Worte von vor sechs Jahren wie aus einem Maschinengewehr auf sie ab. „Herauszufinden, dass mein leiblicher Vater ein Brasilianer war, ändert nicht, was ich bin, Cristina. Ich bin immer noch der Engländer, der wie ein Engländer denkt und handelt.“ Er stopfte achtlos und viel zu heftig seine Sachen in die Reisetasche. „Und ich verspreche dir, jetzt werde ich nach England zurückkehren und eine Engländerin heiraten, werde Kinder mit ihr haben, die ich zu Engländern erziehen werde, während du“, er machte eine abfällige Geste, „deinen größten Wunsch für dich behalten kannst.“

Mit einem Ruck zog er den Reißverschluss zu, fluchte, weil ihm einfiel, dass seine Kulturtasche noch im Bad war, und stürmte wütend an Cristina vorbei, die zitternd und wie erschlagen dastand.

Ein Schauder durchfuhr sie, als sie an die Grausamkeiten dachte, die sie ihm vor sechs Jahren entgegengeschleudert hatte. Sie schlug die Hand vor den Mund, um das Aufschluchzen zu ersticken.

Sie hatte sich über seinen englischen Akzent lustig gemacht, hatte seine englische Erziehung verspottet und über seine langweilige englische Bankiersfamilie gehöhnt. Über seinen Antrag hatte sie gelacht, hatte wissen wollen, wieso er sich einbildete, ihre Beziehung könne mehr als eine zeitweilige Affäre sein.

Dann war sie einfach gegangen.

Diesmal war er es, der ging. Und in seinen harten Zügen konnte sie lesen, dass er nie wieder zurückkommen würde.

Es traf sie wie ein Schlag, als er seine Utensilien aus dem Bad jetzt in die Reisetasche steckte und die Tasche aufnahm.

„Nein!“, stieß sie aus, lief an ihm vorbei und stellte sich mit dem Rücken an die Tür. „Du musst mir zuhören. Ich habe dir etwas zu sagen.“

Er streckte den Rücken durch und straffte die Schultern. „Geh mir aus dem Weg, Cristina.“ Er mied ihren Blick, wollte nie wieder in diese Augen sehen.

„Bitte“, flehte sie. „Bevor du gehst, musst du begreifen, warum ich dich nicht heiraten kann.“

Eiskalte Rage flackerte in seinen Augen auf. „Wenn du das noch einmal aussprichst, Cristina …“

„Ich habe dich angelogen, Luis!“, rief sie aus. „Alles, was ich vor sechs Jahren gesagt habe, war eine einzige Lüge! Ich wollte dir niemals wehtun. Ich habe dich immer geliebt, mehr als alles andere auf der Welt! Aber ich bin nicht die Frau, die du brauchst. Deine Mutter sagte …“

„Meine Mutter? Was hat meine Mutter damit zu tun?“

„Nichts.“ Das hatte sie nicht erwähnen wollen. „Sie … sie liebt dich.“

„Wunderbar. Alle lieben mich.“ Er ließ die Tasche fallen und hob frustriert die Arme. „Und was soll ich jetzt dazu sagen, Cristina? ‚Oh, na dann ist es ja in Ordnung, wenn du mir einen Tritt versetzt‘?“

„Schrei mich nicht an!“, verbot sie sich schrill. „Ich muss dir etwas sagen, und es fällt mir sehr schwer!“

„So? Was denn?“ Er würde es ihr nicht leichter machen. „Dass du das alles nur zu meinem Besten getan hast?“

„Als du vor sechs Jahren zur Beerdigung deines Vaters abflogst, war ich schwanger. Mit deinem Kind.“