2. KAPITEL

In dem unbehaglichen Schweigen, das dem absurden Geständnis folgte, sah Natasha in Leos mit Alkohol benetztes Gesicht und wünschte, der Brandy befände sich noch in ihrem Glas, damit sie ihn ein zweites Mal damit überschütten könnte!

„Wie kannst du es wagen?“, herrschte sie ihn entrüstet an. Ihre blauen Augen blitzten auf und funkelten dann wie Dia­manten, als sie sich wieder mit Tränen füllten. „Meinst du nicht, ich bin bereits genug gedemütigt worden? Musst du dich auch noch über mich lustig machen, als sei alles nur ein schlechter Scherz gewesen?“

„Das war kein Witz“, hörte Leo sich murmeln. Als ihm die Wahrheit seiner Worte bewusst wurde, verzog er das Gesicht. Dass er sich seit Wochen nach Natasha verzehrte, war wirklich kein Scherz.

Nein, der eigentliche Witz lag in der Tatsache, dass er es zugegeben hatte.

Er wandte sich ab und fischte mit einer Hand das nie gebrauchte, aber stets von seiner Haushälterin dort platzierte Taschentuch aus der Seitentasche des Jacketts. Während er den Brandy von seinem Gesicht wischte, warf er Natasha einen kurzen Seitenblick zu. Wie erstarrt stand sie in ihrem adretten blauen Kostüm und den Schuhen mit den niedrigen Absätzen vor ihm, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.

„Du hast seltsame Vorstellungen von Männern, Natasha, wenn du glaubst, zurückgebundene Haare und hochgeschlossene Kleidung könnten sie davon abhalten, sich neugierig zu fragen, was wohl vor ihnen verborgen werden soll.“

Ein raues Lachen entrang sich Leos Kehle.

„Wir stehen nicht alle auf magersüchtige Popstars, die gerade erst die Schule beendet haben“, klärte er sie auf. „Manche Männer mögen sogar die Herausforderung einer Eroberung, anstatt alles auf einem Silbertablett serviert zu bekommen.“

Sein Blick fiel unmissverständlich auf die sanften Rundungen ihrer Brüste. Es geschah aus reinem Selbstschutz, dass sie die Arme vor der Brust verschränkte. Als er den Kopf wieder hob, wirkten seine Augen verschleiert. In diesem Moment wusste Natasha, wovon er sprach.

„Willst du deine Jacke ablegen und meine Neugier stillen?“, fragte er lächelnd. „Nein? Das dachte ich auch nicht.“

„Warum tust du das? Warum sagst du solche Sachen zu mir?“, fragte sie fassungslos. „Glaubst du, weil du dasselbe mit angesehen hast wie ich, gibt es dir das Recht, mit mir wie mit einem Flittchen zu sprechen?“

„Du würdest kein Flittchen spielen können, selbst wenn dein Leben davon abhänge“, spottete Leo. „Das ist einer der Gründe, weshalb ich so fasziniert von dir bin. Du bist das komplette Gegenteil deiner Schwester.“

Natasha blickte ihn nur weiterhin fassungslos an. Womit, überlegte sie fieberhaft, habe ich das nur verdient? „Du bist abscheulich“, murmelte sie schließlich. „Und daran ist absolut nichts faszinierend.“

Sie hob ihre vorhin zu Boden gefallene Tasche auf und wandte sich, so würdevoll wie möglich, zum Gehen.

„Da hast du recht“, erwiderte er.

„Das weiß ich.“ Sie nickte und setzte einen weiteren wackligen Schritt in Richtung Tür.

„Na schön“, sagte Leo hinter ihr. „Es tut mir leid. Okay?“

Natasha straffte die zitternden Schultern. „Ich habe dich nicht gebeten, mich herzubringen“, brachte sie mit belegter Stimme heraus. „Ich habe dich um gar nichts gebeten. Meine Schwester ist eine Schlampe, dein Bruder auch nicht viel besser. Abgesehen davon, haben du und ich nichts gemeinsam oder uns zu sagen.“

Sie machte einen weiteren Schritt auf die Tür zu. Nur fort von hier, das war alles, was sie wollte. Hoffentlich gaben ihre Beine nicht unter ihr nach.

Wieder klingelte ihr Handy.

Und wie um das Chaos noch zu verschlimmern, schrillte ein weiteres Telefon irgendwo im Haus. Verwirrt blieb Natasha stehen und versuchte, die verschiedenen Geräusche einzuordnen.

Plötzlich klopfte es auch noch an der Tür. Die Klinke wurde von außen heruntergedrückt. Vor ihrem geistigen Auge sah Natasha Rico ins Zimmer kommen. Instinktiv wich sie vor ihm zurück. Vielleicht taumelte sie, denn zwei starke Hände fassten nach ihren Armen. Das Nächste, woran sie sich später erinnern konnte, war, dass Leo sie zu sich umdrehte und gegen seine breite Brust presste.

„Ganz ruhig“, sagte er ihr leise ins Ohr.

Natasha erschauerte.

„Oh, Entschuldigung, Mr Christakis“, rief eine Frauenstimme überrascht. „Ich habe Sie nach Hause kommen hören und angenommen, Sie seien allein.“

„Wie Sie sehen, Agnes, bin ich es nicht“, entgegnete Leo.

Unverblümt, wie immer. Seine Haushälterin war daran gewöhnt. Dennoch blickte sie neugierig die Verlobte seines Stiefbruders an, die er immer noch an sich gedrückt hielt. Als Agnes wieder ihn anschaute, spiegelte sich in ihrer Miene nicht der leiseste Hinweis, dass der Anblick sie schockierte.

„Mr Rico ruft immer wieder an und verlangt, Miss Moyles zu sprechen.“

Natasha erschauerte. Beruhigend streichelte er ihren Rücken. „Wir sind nicht hier“, wies Leo die Haushälterin an. „Und lassen Sie niemanden ins Haus.“

„Ja, Sir.“

Agnes ging aus dem Zimmer. Hinter ihr blieb eine angespannte Stille zurück, die Natasha fast körperlich zu spüren vermeinte. Sie verstand ihre wirren Gefühle nicht mehr. Ihre Wangen röteten sich vor Verlegenheit. Vorsichtig entzog sie sich Leos Umarmung.

„Sie wird denken, wir …“

„Agnes wird nicht fürs Denken bezahlt“, unterbrach Leo sie. Er schritt zu dem Schränkchen mit den Alkoholika, um einen zweiten Brandy einzuschenken.

Unterdessen sank Natasha kraftlos in den Sessel.

„Hier, nimm.“ Er ging vor ihr in die Hocke und reichte ihr das Glas. „Versuch aber diesmal, den Inhalt zu trinken, anstatt ihn mir ins Gesicht zu schleudern.“

Schuldbewusst schaute sie ihn an. „Es tut mir leid. Ich weiß gar nicht, warum ich es getan habe.“

„Mach dir deswegen keine Sorgen.“ Leo lächelte spöttisch. „Ich bin es gewohnt, in Tiefgaragen geschlagen und mit Drinks übergossen zu werden. Verabscheuungswürdige Kerle erwarten das nämlich.“

Er presste die Lippen wieder zu der üblichen schmalen Linie zusammen. Erst jetzt fiel ihr auf, wie schön sein Mund war. Nicht zu groß, dafür sinnlich und verführerisch.

Auch seine Augen waren schön. Dunkelbraun, eingerahmt von dichten schwarzen Wimpern, was sein Gesicht beinahe sanft erscheinen ließ. Die leichte Unebenheit auf seinem Nasenrücken korrigierte jedoch den ersten Eindruck und gab ihm etwas Raues und Eigenwilliges.

Er war acht Jahre älter als Rico, und somit über zehn Jahre älter als sie. Und diese zusätzlichen Jahre an Lebenserfahrung spiegelten sich in seinen unverblümten Meinungen, die er ohne die geringsten Skrupel auch aussprach.

Seine Haut schimmerte in einem warmen Honigton. Zum ersten Mal bemerkte sie seine ebenmäßigen Gesichtszüge – dabei runzelte er die Stirn so oft. Zumindest in ihrer Gegenwart.

Sie war sich nicht bewusst, dass sie, während sie ihn eingehend musterte, den Brandy in kleinen Schlucken trank. So sehr war sie mit den breiten Schultern beschäftigt, dem muskulösen Oberkörper. Im Stehen überragte er Rico um mehrere Zentimeter. Sein schwarzes Haar war kurz geschnitten und betonte so zusätzlich die Ausdrucksstärke seines Gesichts.

Diese Frau ist auf Streit aus, dachte Leo, ihren hübschen Mund betrachtend, während sie ihn abschätzend musterte.

„Wie alt bist du, Natasha?“, fragte er neugierig. „Sechsundzwanzig? Siebenundzwanzig?“

„Ich bin vierundzwanzig!“, erwiderte sie kalt. „Und das war eine weitere Beleidigung!“

„Du bist ganz schön kleinlich.“ Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

„Ja.“

Wenn ihre blauen Augen so wie jetzt aufblitzen, schoss es Leo durch den Kopf, sieht sie fantastisch aus. Was sollte er jetzt tun?

Er könnte sie küssen – aus irgendeinem Grund kam es ihm so vor, als wolle sie, dass er genau das tat. Oder er könnte ihr das Glas aus den zitternden Fingern nehmen und sie ermutigen, es endlich hinter sich zu bringen und sich an seiner Schulter auszuweinen.

Ein seltsames Gefühl stieg in ihm auf – diesmal kein erotisches Verlangen, sondern eher ein schmerzhaftes Sehnen. Wusste sie eigentlich, wie sehr sie zitterte?

„I … ich möchte jetzt nach Hause“, murmelte sie.

In das Apartment, das sie mit ihrer Schwester bewohnte? „Trink erst den Brandy“, sagte Leo ruhig.

Natasha schaute auf das Glas, das sie mit festem Griff umklammert hielt. Der Anblick schien sie zu überraschen. Leo beobachtete, wie sie das Glas an die Lippen setzte, wie sie den Mund ein wenig öffnete und einen Schluck goldgelben Brandy trank … und das seltsame Gefühl wandelte sich wieder in leidenschaftliches Begehren.

Unvermittelt ertönte die Türklingel.

Rico rief laut Natashas Namen.

Natasha sprang auf. Das Glas rutschte ihr aus den Fingern und landete mit einem dumpfen Laut auf dem Boden. Die Reste des Brandys ergossen sich über den Teppich.

„Natasha …“ Leo, der immer noch gehockt vor ihr saß, streckte die Arme aus, weil er fürchtete, sie könne ohnmächtig werden.

Aber wieder einmal verblüffte Natasha Moyles ihn. Es war gar nicht nötig, sie zu sich auf die Knie zu ziehen. Sie landete zwischen seinen Beinen, schlang die Arme um seinen Nacken und sah ihn mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Entsetzen an.

„Lass ihn nicht herein“, bat sie.

„Das werde ich nicht“, versprach Leo.

„Ich hasse ihn. Ich will ihn nie wiedersehen.“

„Ich werde ihn nicht ins Haus lassen“, wiederholte er.

Aber Rico hörte nicht auf, ihren Namen zu rufen. Sie hörten, wie Leos Haushälterin ein paar scharfe Worte an Rico richtete.

„Mein Herz klopft so schnell, ich kann nicht richtig atmen“, wisperte Natasha.

Ein herausforderndes Funkeln trat in Leos Augen. Er hätte es verbergen sollen, dennoch flüsterte er leise: „Ich kann es noch schneller schlagen lassen.“

Falls er sie damit von Rico ablenken wollte, funktionierte das ausgezeichnet. Als sie vor Überraschung nach Luft rang, spürte er ihn wieder, jenen vibrierenden Funken tief in seinem Inneren.

Er beugte sich vor und presste seine Lippen auf die ihren.

Es ist, als fiele man in eine Grube voller elektrischer Blitze, ging es Natasha durch den Kopf. Etwas Vergleichbares hatte sie noch nie erlebt. Leo intensivierte den Kuss und ließ seine Zunge in ihren Mund gleiten. Die Berührung sandte einen lustvollen Schauer über ihren Körper.

Leo murmelte etwas, legte die Arme um ihre Hüften und zog Natasha enger an sich. Die nächsten Sekunden verflogen wie im Rausch. Vor der Haustür rief Rico weiterhin nach ihr.

Das ist doch verrückt, dachte sie. Schließlich mochte sie Leo Christakis nicht einmal. Und doch küsste sie ihn voller Leidenschaft.

Er ließ seine Hände über ihren Rücken wandern und schmiegte sie noch enger an sich. Gleichzeitig vertiefte er den Kuss, umtanzte mit seiner Zunge die ihre, sodass heiße Wogen der Lust ihren Körper zum Schmelzen zu bringen schienen.

Natasha seufzte auf. Auch Leo gab ein ähnlich raues Geräusch von sich. Dann rief Rico noch einmal nach ihr, wütend und schroff genug, um zu ihr durchzudringen. Sie zuckte zurück.

Zitternd und außer Atem sah sie Leo an, während das Bild vor ihrem inneren Auge auftauchte, wie Rico sich mit ihrer Schwester auf seinem Schreibtisch vergnügt hatte.

Als könne Cindy ihre Gedanken lesen, begann in diesem Moment ihr Handy zu klingeln.

Vor Scham hätte sie im Boden versinken mögen.

„Um Gottes willen, Natasha, lass mich mit dir sprechen“, hörte sie Ricos Stimme.

Rachegelüste durchzuckten sie.

Leo sah, wie es passierte. Plötzlich setzte sein Verstand wieder ein. Sie würde sich ihm anbieten. Aber wollte er sie wirklich so? Verletzt und gedemütigt, mit dem fragwürdigen Wunsch nach Rache an Rico, der leicht jeden Moment ins Zimmer platzen und sie erwischen konnte?

Mit zitternden Fingern begann Natasha, die Knöpfe an ihrer Jacke zu öffnen.

Leo seufzte. „Das willst du doch gar nicht tun, Natasha.“

„Sag mir nicht, was ich will“, entgegnete sie unwirsch.

Unter der Jacke kam ein weißes Top aus einem weichen dehnbaren Material zum Vorschein, unter dem sich ihre vollen Brüste deutlich abzeichneten.

Leo schaute auf die verführerischen Rundungen, dann in Natashas weit aufgerissene Augen, in denen ein fiebriger Glanz lag. Am liebsten hätte er laut geflucht. Als sie die Jacke abstreifen wollte, streckte er die Hände aus, um sie davon abzubringen. Doch der flehende Ausdruck in ihren Augen ließ ihn innehalten.

Wenn er sie jetzt abwies, würde sie das endgültig zerbrechen.

Leo sah, wie sie schluckte. „Bitte …“ Kaum mehr als ein Flüstern.

Er war verloren, das wusste Leo. Als sie die Führung übernahm und ihre Arme wieder um seinen Nacken legte, wusste er genau, dass er sie diesmal nicht zurückhalten würde.

Ihre Lippen glichen einer unwiderstehlichen Einladung. Mit beiden Händen fuhr er über ihre Taille, dann hinauf zu den perfekt geformten Brüsten. Ein Zittern durchlief ihren Körper. Plötzlich löste sich ihr Zopf, und die langen blonden Haare fielen in seidigen weichen Wellen über ihren Rücken.

Die Eingangstür fiel ins Schloss.

Rico war fort.

Falls Natasha wusste, was das Geräusch zu bedeuten hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. In ihren Augen schimmerte immer noch das sinnliche Angebot.

Zeit, eine Entscheidung zu treffen, dachte Leo düster. Weitermachen oder aufhören?

Doch dann presste sie ihre Lippen auf seine und nahm ihm die Entscheidung ab.

Natasha spürte, wie er nachgab. Das Gefühl von Triumph, das sie empfand, grenzte an Wahnsinn. An ihrem Bauch fühlte sie seine erregte Männlichkeit und schmiegte sich instinktiv daran. Er gab einen wohligen Laut von sich und zog Natasha mit sich auf die Füße. Dann hob er sie in die Arme und setzte sich, ohne den Kuss auch nur einen Moment zu unterbrechen, in Bewegung.

Erst als er die Treppe ins Obergeschoss betrat, erwachte in Natasha ein Funken Vernunft. Sie hob den Kopf und blickte in Leos, von schweren Lidern überschattete Augen. Dann schaute sie sich verwirrt um, als sei sie soeben aus einem Traum erwacht.

Der Flur war leer. Es war niemand da. Kein Rico, der mit ansehen musste, wie ihr zukünftiger Liebhaber sie ins Bett trug.

„Änderst du deine Meinung, weil es keine Zeugen gibt?“

Leo war auf einer der Stufen stehen geblieben. Der kalte Zynismus war in seine Augen zurückgekehrt.

„Nein“, erwiderte Natasha und stellte fest, dass sie es auch meinte. Sie wollte von diesem Mann ins Bett getragen werden und mit ihm schlafen. Sie wollte alle ihre Hemmungen und Moralvorstellungen über Bord werfen!

„Bitte“, hauchte sie und küsste ihn ganz sanft auf den Mund. „Liebe mich, Leo.“

Er zögerte einen Moment, dann ging er weiter die Treppe hinauf. Er trug sie in ein von der Sommersonne durchflutetes Schlafzimmer. Die Wände waren in einem hellen Cremeton gestrichen, die Möbel aus dunklem Holz. Ein roter Perserteppich bedeckte fast den gesamten Boden aus Eichenparkett.

Dass er sie recht unzeremoniell aufs Bett fallen ließ, versetzte ihr einen kleinen Schock.

Mit eisiger Miene schaute Leo zu ihr hinunter. „Bleib da liegen und lass mich in Ruhe“, sagte er kalt, bevor er sich umwandte und ging.

„Warum?“, rief Natasha ihm nach.

„Weil ich keine Lust habe, den Ersatzmann zu spielen.“

Natasha richtete sich auf. „Du hast gesagt, du willst mich.“

„Sehr sonderbar, nicht? Aber zu sehen, wie sehr dich die Vorstellung anmacht, dass Rico uns erwischt, hatte auf mich dieselbe Wirkung wie eine kalte Dusche.“

„Es hat mich nicht angemacht …“

„Lügnerin!“ Und dann machte er ihr wirklich Angst, weil er zurückkam und sich bedrohlich über sie beugte.

„Um eines klarzustellen, Natasha“, murmelte er mit seidenweicher Stimme, „wenn dir das, was wir unten getan haben, so gut gefallen hat, dass du Rico ganz vergessen hast, was sagt mir das dann über Miss Verraten und Betrogen, hm?“

Statt das zu sagen, hätte er sie ebenso gut ins Gesicht schlagen können. Fassungslos sah Natasha ihn an. Doch das eigentlich Schlimme war, dass er nur die Wahrheit sagte! Sie hatte an Rico gedacht, als sie im Wohnzimmer die Jacke abgestreift hatte. Und es gab keinerlei Entschuldigung für die Art und Weise, wie sie ihn angefleht hatte, sie ins Schlafzimmer zu tragen!

Aber hatte er sich auch nur einen Deut besser verhalten? „Du gemeiner Mistkerl“, flüsterte sie und zog die Knie an, damit sie ihren Kopf darauf legen und verbergen konnte.

Leo war geneigt, ihr zuzustimmen. Er benahm sich wie ein Schuft, wenn er ihr die alleinige Schuld an allem gab, was zwischen ihnen passiert war. Er richtete sich auf und wandte sich der Tür zu. Wäre ich doch bloß heute Morgen in Athen geblieben …, dachte er.

Zwei Telefone meldeten sich zeitgleich mit lautem Klingeln. Er zog sein Handy aus der Tasche und erwartete, auf dem Display Ricos Namen zu lesen. Doch es war Juno, seine Assistentin.

„Ich hoffe, es ist wichtig“, eröffnete er das Gespräch, während er die Schlafzimmertür hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Bei dem Geräusch hob Natasha den Kopf. Sie war allein. Er hatte sie wie ein Häuflein Elend auf seinem Bett zurückgelassen und war gegangen.

Hastig sprang sie vom Bett, unendlich verletzt und zum zweiten Mal an diesem furchtbaren Tag von einem Mann gedemütigt.

Sie musste hier weg! Fast hätte sie laut aufgeschrien, als sie sich umschaute und ihre Schuhe nirgends finden konnte. Jetzt wurde ihr klar, was der dumpfe Laut war, den sie gehört hatte, als Leo sie in die Arme gehoben hatte.

Sie taumelte auf die Tür zu. Ohne jemandem zu begegnen, schaffte sie es ins Wohnzimmer. Die so lange zurückgehaltenen Tränen brannten wieder in ihren Augen, als sie ihre achtlos auf dem Boden liegende Jacke erblickte.

Mit zitternden Händen griff sie danach, schlüpfte hinein und schloss alle Knöpfe. Während sie noch mit den Schuhen beschäftigt war, erschien Leo auf der Türschwelle.

Das Handy in ihrer Handtasche begann zu klingeln.

Natasha beugte sich vor, hob die Tasche auf und zog ihr Telefon heraus. Dann warf sie das schmale Gerät mit aller Kraft auf den Eichenboden.

Das Klingeln verstummte.

Wie das Echo eines Trommelwirbels hallte die folgende Stille durch den Raum. Und noch immer stand Leo auf der Türschwelle und blockierte ihren einzigen Fluchtweg.

„Bitte“, stieß sie schließlich hervor. „Lass mich durch.“

Schweigen. Er sagte nichts. Rührte sich nicht. Irgendetwas an seiner Haltung, wie er sie mit über der Brust gekreuzten Armen aus schmalen Augen ansah, weckte Natashas Misstrauen.

„Was ist los?“, fragte sie.

Wie, überlegte Leo, wird sie wohl reagieren, wenn ich sie beschuldige, eine Diebin zu sein?

„Ich bin nur neugierig“, meinte er ruhig. „Wohin willst du?“

Innerlich fühlte er sich alles andere als ruhig. Innerlich fühlte er sich so betrogen und aufgewühlt, dass er keine Ahnung hatte, wie es ihm gelang, noch an sich zu halten!

Ricos kleine Komplizin … wer hätte das gedacht? Offensichtlich war Miss Steif und Prüde nicht ganz so prüde, wenn es darum ging, ihre hübschen gierigen Finger nach dem Geld auszustrecken, das Rico ihm gestohlen hatte.

„Zu Rico?“, schlug er vor, als er keine Antwort erhielt.

„Nein!“ Sie war eine wirklich gute Schauspielerin. „Nach Hause. In mein Apartment.“

„Du hast keinen Schlüssel.“ Schließlich hatte er Rasmus ihren Schlüsselbund in der Tiefgarage zugeworfen, damit er ihren Wagen nach Hause fuhr.

„Ich bitte den Hausmeister, mich hereinzulassen.“

„Oder deine liebe Schwester“, sagte Leo. „Ich vermute, sie wartet bereits auf dich.“

Ob Cindy auch in den Betrug verwickelt war?

Er ließ seinen Blick über Natashas Körper wandern. Die Knöpfe der Jacke waren wieder bis zum Hals geschlossen, als habe das leidenschaftliche Intermezzo niemals stattgefunden. Nur die offen auf ihre Schultern fallenden Haare und die von den wilden Küssen geröteten Lippen waren als stumme Zeugen übrig geblieben.

„Was kümmerte es dich?“, fragte Natasha. „Es ist ja nicht dein Problem“, fuhr sie steif fort. „Ich verstehe auch nicht, warum du mich überhaupt hergebracht hast.“

„Du brauchtest einen sicheren Platz, um dich zu sammeln.“

„Sicher?“, stieß sie hervor. „Kaum hattest du mich durch die Haustür gezerrt, da bist du doch schon über mich hergefallen!“

Sein gleichgültiges Schulterzucken versetzte sie erst richtig in Wut. Auf immer noch wackligen Beinen marschierte sie auf ihn zu. Sie war sich bewusst, dass er jeden ihrer Schritte mit Argusaugen verfolgte. Und sie ahnte, dass sie die Tränen nicht mehr viel länger würde zurückhalten können.

Dennoch blieb er wie angewurzelt auf der Türschwelle stehen. Je näher sie ihm kam, desto verwirrter reagierten ihre Sinne. Einerseits wappnete sie sich zu schreien, falls er es wagen sollte, sie noch einmal zu berühren. Andererseits verspürte sie die wilde Hoffnung in sich aufsteigen, dass er genau das tat.

Ich erkenne mich selbst nicht mehr, schoss es Natasha hilflos durch den Kopf. „Geh mir aus dem Weg“, forderte sie.

Seine einzige Reaktion bestand in einem leisen Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte. Ansonsten bewegte er sich keinen Zentimeter. „Du kannst nicht gehen“, erwiderte er kühl.

War er verrückt geworden? „Natürlich kann ich.“ Natasha presste beide Hände gegen seinen Oberkörper und versuchte, Leo beiseitezustoßen. Nichts passierte.

„Als ich sagte, du kannst nicht gehen, Natasha, war das mein voller Ernst“, erklärte er mit Nachdruck. „Zumindest so lange nicht, bis die Polizei eingetroffen ist und dich mitnimmt.“