4. KAPITEL

Die Strahlen der Nachmittagssonne wärmten Natashas Gesicht. Die Fahrt zu ihrem Apartment verbrachten sie und Leo in absolutem Schweigen. Als sie Cindys silbernen Sportwagen auf dem Parkplatz vor dem Haus entdeckte, wurde ihr das Herz schwer.

Auch Leo musste den Wagen gesehen haben. „Ich begleite dich“, sagte er.

Ohne es sich wirklich eingestehen zu wollen, empfand Natasha große Dankbarkeit, dass sie Cindy nicht alleine gegenübertreten musste.

Dennoch stieg Furcht in ihr auf, während sie mit Leo das Foyer des Apartmenthauses betrat. Der Hausmeister schaute auf und lächelte.

„Ich habe meine Schlüssel verlegt“, sagte Natasha und erwiderte das Lächeln. „Könnten Sie mir den Ersatzschlüssel ausleihen?“

„Ihre Schwester ist zu Hause, Miss Moyles“, antwortete der Mann. „Ich kann anrufen, damit sie Ihnen öffnet.“

„Nein“, unterbrach Leo. „Wenn Sie nichts dagegen haben, nehmen wie lieber den Ersatzschlüssel.“

Binnen weniger als einer Sekunde war dem Hausmeister klar, wie mächtig und einflussreich der Mann sein musste, dem er sich gegenübersah. Ohne weiteren Protest übergab er den Schlüssel.

Als sie den Aufzug betraten, stieg die heute schon so häufig empfundene Übelkeit wieder in Natasha auf. Sie wollte diese Konfrontation nicht. Es wäre ihr viel lieber gewesen, nie wieder Cindys hübsches Gesicht sehen zu müssen.

„Soll ich für dich gehen?“

Das dunkle Timbre seiner Stimme hüllte sie ein. Natasha tat einen tiefen Atemzug und straffte die Schultern. Mit zusammengepressten Lippen schüttelte sie den Kopf.

Kaum hatte sie einen Fuß in das ultramodern eingerichtete Wohnzimmer gesetzt, sprang Cindy aus einem der schwarzen Ledersessel auf.

Ihre Augen waren gerötet, als habe sie geweint, die Haare zerzaust. „Wo warst du?“, schrie sie Natasha mit schriller Stimme an.

„Das geht dich nichts an“, erwiderte Natasha ruhig.

Cindy ballte die Hände zu Fäusten. „Natürlich geht es mich etwas an. Du arbeitest für mich! Wenn ich sage ‚Spring‘, hast du zu springen! Wenn ich sage …“

„Hol, wofür wir hergekommen sind, agape mou“, meldete Leo sich hinter ihr zu Wort.

Bei seinem Anblick erstarrte Cindy. Die hellblauen Augen weit aufgerissen, wurde sie knallrot. „M … Mr Christakis“, stammelte sie verlegen.

Aha, Respekt für einen Älteren, dachte Natasha. Mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen durchquerte sie das Zimmer und öffnete den Wandtresor, in dem sie ihre persönlichen Papiere aufbewahrte.

„Ich habe nicht mit Ihrem Besuch gerechnet …“

Meine liebe Schwester hat auch nicht damit gerechnet, von Leo Christakis bei ihrem Tête-à-Tête mit Rico ertappt zu werden, ging es Natasha durch den Kopf. Deshalb war es ihr peinlich, ihm jetzt zu begegnen.

Leo sagte nichts. Die Verachtung, die sein Schweigen ausdrückte, ließ Natasha zusammenzucken. Cindy hingegen war es nicht gewohnt, auf diese Weise behandelt oder gar ignoriert zu werden. Verlegenheit und Respekt wandelten sich zu beleidigtem Schmollen und der üblichen Unverfrorenheit, mit der sie normalerweise Natasha bedachte.

„Ich weiß nicht, was du da mit meinem Safe veranstaltest, Natasha, aber du …“

„Halt einfach den Mund, verstanden?“, sagte Leo.

Gerade noch rechtzeitig wandte Natasha sich um, um zu sehen, dass Leo ihre Schwester abschätzig musterte. Dann wandte er sich Natasha zu. „Hast du gefunden, was du brauchst?“

Die Zärtlichkeit in seiner Stimme rührte sie fast zu Tränen. Sie nickte und ging auf zitternden Beinen zu ihm zurück.

Cindy warf ihr einen ängstlichen Blick zu. „Du kannst nicht gehen“, rief sie. „Du kannst mich nicht verlassen. Dieser Idiot Rico ist in Panik geraten und hat auf der Suche nach dir unsere Eltern angerufen. Sie werden bald hier sein!“

Natasha überhörte sie. Ihre Aufmerksamkeit galt allein Leo, der ruhig, wie ein Fels in der Brandung, auf der Türschwelle stand.

„Du bist so blind und dumm, Natasha!“, setzte Cindy ihren Angriff fort. „Glaubst du, ich war die einzige Frau, mit der Rico während eurer Verlobung zusammen war?“

Natasha senkte den Kopf und ging einfach weiter.

„Du bist nur das dickliche Mädchen, das seine Mutter nett findet. Ich habe dir heute einen Gefallen getan. Es war an der Zeit, dass dir jemand die Augen öffnet. Du solltest mir dankbar sein!“

Endlich war Natasha bei Leo angekommen.

„Brauchst du noch etwas?“, fragte er.

„Ein paar Kleider und … andere Dinge“, flüsterte sie.

„Wag es ja nicht, mich zu ignorieren“, kreischte Cindy. „Unsere Eltern werden in einer Minute hier sein. Du wirst ihnen sagen, dass alles deine Schuld ist!“

Kaum hatte Natasha kommentarlos die Tür zu ihrem Schlafzimmer hinter sich geschlossen, trat Leo einen Schritt auf die rasende Cindy zu. „Hör mir jetzt gut zu, du verwöhnte Göre“, sagte er. „Ein falsches Wort von dir über das, was heute passiert ist, und du bist erledigt. Dafür werde ich sorgen.“

Verachtung blitzte in Cindys Augen auf. „So viel Macht besitzen Sie nicht!“

„Oh, doch, das tue ich“, erwiderte Leo. „Geld ist nämlich Macht. Arrogante kleine Starlets wie dich gibt es zuhauf. Eine halbe Stunde am Telefon, länger brauche ich nicht. Plattenverträge kann man widerrufen, Konzerte absagen und deine Karriere ist ruiniert.“

Cindy erbleichte.

„Ich sehe, du hast mich verstanden.“ Leo nickte. „Vor dir steht kein treuer Fan, sondern ein sehr mächtiger Mann, der deine hübsche Fassade durchschaut und weiß, was für ein hässlicher Mensch sich dahinter verbirgt.“

„Natasha wird nicht zulassen, dass Sie mir wehtun“, flüsterte Cindy.

„Doch, das werde ich“, sagte Natasha. Sie hielt eine hastig gepackte Reisetasche in der Hand.

Dann brach ein ungeheuerlicher Tumult aus, als ihre Eltern durch die Apartmenttür traten, die Leo offen gelassen hatte.

Die beiden wandten sich sofort Cindy zu. Dass Natasha auch da war, bemerkten sie kaum.

Cindy brach in Tränen aus.

„Oh, mein armes Baby“, hörte Natasha ihre Mutter sagen. „Was hat dieser Rico dir angetan?“

Plötzlich war Natasha wieder flau im Magen. Sie beobachtete, wie ihre Eltern Cindy trösteten. Sie kam sich vor, als stände sie ganz allein mitten im Nirgendwo.

Dann schob Leo sich in ihr Blickfeld. Sein Blick war ganz ruhig.

„Können wir gehen?“, flüsterte sie.

„Natürlich.“

Er nahm ihr die Reisetasche ab und legte einen Arm um ihre Schultern. „Seit Wochen ist er hinter mir her, Mummy“, hörte Natasha ihre Schwester mit weinerlicher Stimme erzählen. „Ich bin zu ihm gegangen, um ihn zu bitten damit aufzuhören, sonst würde ich Natasha alles erzählen. Und er hat daraufhin einfach …“

Der Rest blieb ungehört, weil Leo die Tür schloss. Sie sprachen kein Wort, während sie zum Lift gingen, nach unten fuhren und in den Wagen stiegen. Die unbehagliche Stille wurde immer lastender, bis Leo es offensichtlich nicht länger aushielt und auf den Knopf am Lenkrad drückte, mit dem das Telefon aktiviert wurde.

Natasha erhaschte einen Blick auf den Namen, Juno. Von dem auf Griechisch geführten Gespräch verstand sie nichts.

Also schaute sie aus dem Fenster und überließ sich dem melodischen Klang seiner tiefen Stimme. Allmählich ließen sie die Stadt hinter sich, kamen an nur noch wenigen Häusern vorbei, bis sie schließlich durch das grüne ländliche England fuhren.

Immer wieder ging ihr die Absurdität ihrer Situation durch den Kopf. Vor ihrem geistigen Auge verwandelten sich die Gesichter derjenigen, die sie eben noch geliebt hatte, in Fremde.

„Meinst du, ihnen ist mittlerweile aufgefallen, dass du nicht mehr da bist?“

Offenbar hatte Leo sein Telefonat beendet. Natasha zuckte die Schultern. Hatten ihre Eltern überhaupt bemerkt, dass sie dort gewesen war? Sie presste die Lippen zusammen und sagte nichts.

Eine Minute später fuhren sie durch ein weit geöffnetes Eisentor, das zu einem privaten Flugplatz führte.

Das ist es also, dachte Natasha, während sie neben Leo auf den schneeweißen Firmenjet zuging, auf dessen Heck das blaue Logo der Christakis-Gesellschaft prangte. Ich fliege in den Sonnenuntergang, um die Geliebte dieses Mannes zu werden.

Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

„Was?“ Leo entging fast nie etwas – nicht einmal die Andeutung eines kleinen Lächelns.

„Nichts“, murmelte sie.

„Vergiss Rico und deine Familie“, sagte er barsch. „Ohne sie bist du besser dran. Ich bin der Einzige, um den du dir jetzt Gedanken machen musst.“

„Natürlich“, erwiderte Natasha spöttisch. „Ich befinde mich auf dem Weg nach Athen, um der sexuelle Fußabstreifer eines sehr reichen Mannes zu werden. Verglichen mit meinem bisherigen Leben ist das eine enorme Verbesserung. Bislang wurde ich ja nur von meiner egoistischen Schwester ausgenutzt und von meinem Verlobten für seine diebischen Pläne missbraucht.“

Leo antwortete nichts. Doch sie konnte seine Verärgerung deutlich spüren, als er eine Hand auf ihren Rücken legte und sie die Gangway des Flugzeugs hinaufführte.

Hinter ihr schloss sich die Kabinentür mit einem leisen Zischen. Leo sprach mit jemandem, aber sie wandte sich nicht um, um herauszufinden, mit wem.

Nichts von dem hier ist richtig, meldete sich die Stimme der Vernunft in ihrem Kopf. Sie sollte nicht in diesem Flugzeug sein und mit Leo Christakis nach Athen fliegen. Sie sollte in England bleiben und ihren guten Namen reinwaschen!

„Gibt mir deine Jacke“, sagte er.

Ein prickelnder Schauer überlief sie, als er seine Hände auf ihre Schultern legte.

„Ich würde sie lieber anbehalten.“

„Nein, würdest du nicht.“ Er schob die Finger unter den Kragen und fuhr ihren zarten Hals entlang, bis er den obersten Knopf erreichte. „Ohne ist es bequemer.“ Er öffnete den Knopf.

„Dann ziehe ich sie eben aus.“ Natasha griff nach seinen Handgelenken, um ihn von den restlichen Knöpfen abzubringen. Aber er ließ es nicht zu.

„Ist mir ein Vergnügen“, murmelte er sanft und widmete sich dem nächsten Knopf.

Ein süßes Ziehen stahl sich in ihre Brüste. „Ich wünschte, du würdest gehen und jemand anderen quälen“, flüsterte sie, als er ihre empfindsamen Knospen streifte.

Er lachte nur, leise und verführerisch. „Wann hast du die Zeit gefunden, deine Haare wieder hochzustecken?“

„Als wir in meinem Apartment waren“, murmelte sie und erstarrte, weil Leo den letzten Knopf geöffnet hatte.

„Du bist viel zu nervös“, schalt er.

„Und du zu sehr von dir überzeugt!“

„Das bin ich“, stimmte er zu und nahm ihr die Handtasche aus den steifen Fingern.

Warum der Verlust ihrer Handtasche sie sich noch verletzlicher fühlen ließ, wusste Natasha nicht. Doch als er ihr die Jacke über die Schultern streifte, stand sie kurz vor einem Panikanfall. Und das Schlimmste daran war, dass sie nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen konnte, wovor sie so panische Angst hatte. Vor Leo und seiner unbarmherzigen Entschlossenheit, sie an den Rand des Wahnsinns zu treiben, oder vor sich selbst, weil ihre Sinne so empfänglich auf seine Liebkosungen reagierten?

Unterdessen fuhr er mit beiden Händen über ihre Taille. Obwohl sie noch ihr Top trug, hatte sie das Gefühl, er berühre ihre nackte Haut. Natasha schloss die Augen und sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Doch da zog er sie auch schon an seinen warmen männlichen Körper.

„Leo, bitte …“ Die Worte schwebten zwischen Protest und atemlosem Flehen.

Aber es machte sowieso keinen Unterschied. Schon spürte sie seine Lippen an der zarten Haut ihres Nackens. Natasha überkam das Gefühl, einen Schritt über eine hohe Klippe zu tun … sie fiel und fiel. Ein leiser Seufzer entrang sich ihrer Kehle. Sie senkte den Kopf, entblößte ihren Hals, eine wortlose Einladung zu weiteren Liebkosungen.

Und als er einen Pfad ihren Hals entlang küsste, rollte sie den Kopf langsam zur Seite, um ihm den Zugang zu erleichtern. Sie genoss die Empfindungen, die er in ihr auslösen konnte.

„Mmm, du fühlst dich so gut an. Deine Haut erinnert mich an warme weiche Seide. Du besitzt einen wunderschönen Körper, Natasha“, fügte er mit samtiger Stimme hinzu. Er ließ seine Hände nach oben wandern, umfasste ihre Brüste und massierte zärtlich die bereits aufgerichteten Knospen. „Dreh dich um und küss mich, agape mou.“

Und sie gehorchte. Leo ergriff ihre Hände und hob sie hinter ihren Nacken. Die leichte Anspannung, in die ihr Körper durch diese Haltung versetzt wurde, schärfte ihre Sinne und ließ sie jede Berührung als unglaublich erotisch wahrnehmen.

Natasha flüsterte etwas – sie wusste nicht, was. Dann ergab sie sich ihrem Verlangen und suchte seinen Mund.

Voller Leidenschaft erwiderte Leo ihren Kuss, heiß und wild. Natasha kannte sich selbst kaum wieder. Nie hätte sie gedacht, dass sie so sich so willenlos einem Mann hingeben könnte.

„Wir sind bereit zum Start, Mr Christakis“, vermeldete eine Stimme aus einem versteckten Lautsprecher.

Unvermittelt hob Leo den Kopf und beendete das sinnliche Erlebnis. Erst einige Sekunden später schlug Natasha die Augen auf. Irgendwie sah sie alles verschwommen. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder klar sehen konnte.

„Du steckst voller angenehmer Überraschungen“, hörte sie Leo spöttisch sagen. „Kaum sind die Knöpfe fort, überlässt du dich ganz deinen Sehnsüchten.“

Und das Schlimmste daran war, dass seine Einschätzung so absolut richtig war. Jedes Mal, wenn er sie berührte, schien es, als verlöre sie nicht nur den Boden der Realität unter den Füßen, sondern als verabschiedete sich auch ihr gesunder Menschenverstand auf unbestimmte Zeit.

Dank dieser Erkenntnis gelang es Natasha endlich, sich seiner Umarmung zu entziehen. Sie machte einen Schritt zurück und schlang die Arme um sich.

„Such dir einen Platz, leg den Sicherheitsgurt an und entspann dich“, meinte er in dem sarkastischen Tonfall, den sie so sehr hasste.

Sie sah ihm nach und vermeinte an der Art, wie er den Mittelgang entlangging, eine gewisse Verärgerung ablesen zu können. Nach Leo Christakis’ Verständnis hatten sie einen Vertrag geschlossen. Spielte sie jetzt immer noch die Schüchterne, ging ihm das natürlich auf die Nerven. Irgendwie konnte sie ihn sogar verstehen.

Zwar wusste sie über sein Privatleben nur wenig, aber es war klar, dass er Frauen mit Erfahrung und Raffinesse bevorzugte. Sie sollten für seine Verführungskünste empfänglich sein. Auf keinen Fall mochte er es, wenn sie permanent zwischen leidenschaftlich und verkrampft hin- und herpendelten.

Das Flugzeug glitt über die Startbahn. Von ihrem Platz aus beobachtete Natasha, wie Leo sein Jackett auszog. Darunter kamen breite muskulöse Schultern zum Vorschein. Er legte den Sicherheitsgurt an und griff nach einem Stapel Papiere, die für ihn bereitlagen.

Als Natasha ihren eigenen Gurt schließen wollte, fiel ihr Blick auf ihre Jacke, die achtlos auf dem Boden lag. Rasch hob sie sie auf und schlüpfte hinein. Und natürlich schloss sie die Knöpfe bis zum Hals.

Sie war sich nicht sicher, was genau sie damit beweisen wollte. Aber vielleicht hatte es etwas mit der brodelnden Wut in ihrem Inneren zu tun, die sein Anblick in ihr auslöste. Wie konnte er sich jetzt nur in seine Arbeit vertiefen? Wie konnte er so tun, als habe er sie vergessen? Wie konnte er sich genauso verhalten, wie ihre Familie es noch vor Kurzem getan hatte?

Zehn Minuten später befanden sie sich in der Luft. Ein freundlicher Steward trat zu Natasha und fragte sie, ob sie etwas trinken oder essen wollte. Sie bat um eine Tasse Tee, die der Steward ihr mit einem Lächeln versprach.

Leo wandte sich zu ihr um. Missbilligend fiel sein Blick auf ihre wieder hochgeschlossene Jacke.

„Ab einem bestimmten Moment wird sie ausgezogen bleiben müssen“, sagte er.

Natasha hob nur trotzig das Kinn und schaute ihn an.

Die Herausforderung ließ seine Augen aufblitzen und raubte Natasha schier den Atem. Plötzlich piepte seine Satellitenverbindung, und der magische Moment war vorüber.

Die nächsten drei Stunden verbrachte Leo mit Arbeit. Natasha hingegen nippte an ihrem Tee und blätterte in der Zeitschrift, die der Steward ihr netterweise ebenfalls gebracht hatte. Immer wieder wandte Leo sich zu ihr um und schaute sie an, bis auch sie den Blick hob. Dann funkelten in seinen Augen süße Versprechen auf die Zukunft.

Einmal stand er sogar auf, kam zu ihr hinüber und küsste sie wild und leidenschaftlich. Als er sich wieder zurückzog, stand der oberste Knopf an ihrer Jacke offen.

Natürlich wusste Natasha, dass er sie provozieren wollte. Doch gegen die Reaktionen ihres Körpers war sie machtlos. Als er sich das nächste Mal umwandte, war der Knopf wieder geschlossen. Und diesmal weigerte sie sich standhaft, den Kopf zu heben.

Bei der Landung in Athen war es bereits Nacht geworden. Es herrschten feuchtwarme Temperaturen wie in einer Sauna.

Irgendwie schien Leo verändert. Natasha kam es vor, als ginge sie neben einem großen dunklen Fremden. Seine Miene wirkte viel härter, die Art, wie er mit anderen sprach, distanziert und steif. Wann immer er sich an sie wenden musste, wurde sein Tonfall sehr ruhig und sehr kühl.

Natasha schob seinen Stimmungswandel auf die Tatsache, dass auf ihrem Weg durch das Flughafengebäude beständig Menschen stehen blieben und sie ansahen. Erst als sie den Konvoi aus drei schwarzen Limousinen sah, der sie vom Flughafen abholen sollte, wurde ihr bewusst, wie groß die Macht und die Wichtigkeit sein mussten, die Leo Christakis in seiner Landeshauptstadt besaß.

„Was für ein Aufwand“, murmelte sie, als sie auf der mit schwarzem weichem Leder gepolsterten Rückbank des mittleren Wagens neben ihm Platz genommen hatte. Auf dem Beifahrersitz des Wagens, nun verborgen hinter einer getönten Glasscheibe, saß ein Mann, den Leo ihr als „Rasmus, mein Sicherheitschef“ vorgestellt hatte.

„Geld und Einfluss schaffen sich ihre eigenen Feinde“, erwiderte er, als sei all das ein akzeptierter Teil seines Lebens.

„Du meinst, du musst immer mit dieser Bewachung leben?“

„Hier in Athen und in anderen Großstädten.“

Kein Wunder, dass er so zynisch auf alle reagierte, mit denen er in Kontakt kam. Er reiste mit einem Privatjet, wurde von drei Limousinen gefahren und besaß ein Vermögen, das die meisten Menschen sich nicht einmal in ihren wildesten Träumen ausmalen konnten.

„In London ist mir nichts davon aufgefallen“, sagte sie, denn in London hatte er selbst hinter dem Steuer seines Wagens gesessen.

„Die Bewachung war immer da“, sagte er. „Du hast dir nur nicht die Mühe gemacht, richtig hinzuschauen.“

Vielleicht nicht, aber … „So offensichtlich wie hier kann es nicht gewesen sein“, beharrte Natasha. „Von Cindys Auftritten bin ich an Sicherheitsmaßnahmen gewohnt. Aber das war nicht einmal annähernd so viel wie hier. Und bei Rico gab es gar keine.“ Sie runzelte die Stirn. „Was mir im Nachhinein sehr seltsam vorkommt, wenn ich daran denke, wer Rico ist und …“

„Vergleiche mich niemals mit ihm“, fiel er ihr eisig ins Wort.

„Aber ich wollte nicht …“

„Ich bin Leo Christakis, und das ist mein Leben, zu dem du nun mit all seinen Beschränkungen und Privilegien Zutritt erhältst. Rico ist nichts.“ Er machte eine wegwerfende Geste. „Nur ein Schmarotzer, der an meinen Rockschößen hängt …“

Natasha erbleichte. „Sag das nicht“, flüsterte sie.

„Warum nicht? Es ist die Wahrheit“, entgegnete er, ohne zu wissen, dass er eben dieselben Worte gebraucht hatte, mit der ihre Schwester sie beschrieben hatte.

„Sein Name lautet Rico Giannetti, obwohl er sich gerne für einen Christakis hält. Aber in seinen Adern fließt kein Christakis-Blut, und er hat keinen Zugang zum Christakis-Vermögen“, fuhr Leo verächtlich fort. „In jedem Christakis-Gebäude besaß er ein Büro, weil es gut für sein Image war. Aber er hat nie für mich gearbeitet … zumindest nicht im eigentlichen Sinn des Wortes. Ich habe ihm ein großzügiges Gehalt gezahlt, während er mich hinter meinem Rücken auszurauben versuchte. Er lügt und verrät alle, die etwas mit ihm zu tun haben. Dich, seine betrogene Verlobte, eingeschlossen.“

„Exverlobte“, warf Natasha, verwirrt von diesem Ausbruch, ein.

„Was auch immer“, erwiderte er. „Von heute an bin ich der einzige Mann, der für dich von Interesse ist.“

Erst verlangte er, dass sie ihre Familie hinter sich zurückließ, jetzt sollte sie auch noch Rico vergessen. „Jawohl, Sir“, brauste sie auf und wünschte, sie könnte ihn ebenfalls aus ihrem Leben streichen.

„Ich dachte, ein paar Wahrheiten könnten helfen, unsere Beziehung auf eine ehrliche Grundlage zu stellen“, sagte er.

„Ehrlich?“ Natasha konnte es kaum fassen. „Wie kannst du von Ehrlichkeit reden, wenn du mir im gleichen Atemzug mitteilst, dass du erwartest, sogar meine Gedanken zu kontrollieren?“

Ein ungeduldiger Ausdruck trat in seine Augen. „Ich erwarte nicht …“

„Doch, genau das tust du!“

Leo stieß einen wütenden Seufzer aus. „Ich erlaube nicht, dass du in meiner Gegenwart alle fünf Minuten von Rico sprichst!“

„Ich habe gar nicht von ihm gesprochen! Du hast mich doch über ihn belehrt!“, fuhr sie ihn ebenso aufgebracht an.

„Das war nicht meine Absicht“, entgegnete er steif.

„Du bist auch nicht besser als Rico. Ihr unterscheidet euch nur in der Art und Weise, wie ihr Menschen behandelt … vor allem Frauen!“ Natasha richtete ihren Blick auf die gläserne Trennscheibe, um Leo nicht ansehen zu müssen. „Da sich gewisse Äußerlichkeiten nun mal nicht ändern lassen, ist deine abscheuliche Arroganz der eine Fehler, den ich dir zugestehe, aber deine …“

„Abscheulich … schon wieder?“, fragte er spöttisch.

Nun konnte Natasha nicht mehr an sich halten. „Ja, und du bist erbärmlich eifersüchtig auf Rico!“

Abrupt legte sich Stille über sie. Es war, als sei der letzte Ton eines wilden Crescendos verklungen. Dafür schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie konnte nicht fassen, was sie gerade gesagt hatte. Vorsichtig riskierte sie einen Blick auf Leo. Er schaute sie an wie ein Hai, der kurz vor einem Angriff stand.

Er reagierte mit unglaublicher Geschwindigkeit. Für einen Mann von seiner Größe waren seine Bewegungen von extremer Geschmeidigkeit. Ehe sie es sich versah, hatte er die Arme nach ihr ausgestreckt und Natasha auf seinen Schoß gezogen.

Ihre Blicke trafen sich. Heiße Wut blitzte in seinen Augen auf. Sie hingegen sah ihn nur ängstlich an, obschon sie ein Prickeln der Vorfreude überlief.

Natasha befeuchtete ihre ausgetrockneten Lippen. „Ich wollte wirklich nicht …“

Dann folgte der Kuss. Ein heißer und leidenschaftlicher Sturm, der ihren Versuch, ihre Worte zurückzunehmen, hinwegfegte. Jetzt bekämpften sie einander mit Mündern und Lippen, die Hände wollten nicht stillhalten, zu übermächtig war das Verlangen, den anderen zu berühren. Natasha schmiegte sich an ihn, streichelte zärtlich seinen Nacken.

Und Leo liebte es. Sie fühlte, wie ihn ein Schauer überlief. Doch auch das änderte nichts an seinem festen Griff um ihre Taille. Sie wurde gegen seinen Schoß gepresst, sodass sie die Reaktionen, die ihre stürmischen Liebkosungen in ihm auslösten, unmittelbar an ihrem weiblichen Zentrum spürte.

Plötzlich löste er eine Hand, schob sie unter ihren Rock und berührte die weiche Haut oberhalb ihrer halterlosen Strümpfe. Sollte er seine Hand noch ein kleines Stückchen höher wandern lassen, würde er entdecken, dass sie nur einen winzigen Tanga trug.

Natasha verstärkte ihre Bemühungen, sich ihm zu entwinden. Sie verlor den Kampf.

„Was haben wir denn da?“, murmelte er, während er mit den Fingern den glatten Satinstoff ertastete, der ihren Po nur notdürftig bedeckte. „Ich entdecke gerade die reizvollen Seiten von Miss Prüde.“

„Sag nichts“, fuhr sie ihn mit erstickter Stimme an. Die Augen hatte sie fest zusammengekniffen. Nie wieder, schwor sie sich, würde sie diesen Slip tragen.

Leo zog seine Hand zurück, woraufhin sie die Augen doch öffnete. Sie musste wissen, was er als Nächstes vorhatte. Sie schaute in sein spöttisch lächelndes Gesicht. Die Wut war fort, die männliche Selbstsicherheit zurückgekehrt.

„Noch mehr verborgene Schätze, die ich entdecken könnte?“ Fragend hob er eine Augenbraue.

„Nein“, erwiderte Natasha zerknirscht.

Leo lachte leise auf. Dann lächelte er nicht mehr. „Okay, ich bin also, was dich angeht, eifersüchtig auf Rico.“ Das Geständnis erschreckte sie zutiefst. „Lass mich dir den Rat geben und erwähne ihn nicht, wenn wir im Bett sind. Denn dann übernehme ich keine Verantwortung für mein Tun.“

Bevor sie antworten konnte, neigte er auch schon wieder den Kopf und küsste sie. Wie lange dieser Kuss andauerte, vermochte Natasha nicht zu sagen. Sie verlor sich in den warmen verheißungsvollen Versprechen, die in diesen Liebkosungen lagen.

Der Wagen wurde langsamer. Beide bemerkten den Unterschied in der Geschwindigkeit, aber es war Leo, der den Kuss abrupt beendete und Natasha mit einem Seufzen von seinem Schoß schob. Lässig zurückgelehnt, beobachtete er dann, wie sie mit fiebriger Hast versuchte, ihr Äußeres wieder herzurichten.

„Miss Prüde“, sagte er lachend.

Natasha glättete mit den Fingern die zerzausten Haare und schwieg. Ein verwirrter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Sie konnte einfach nicht begreifen, warum sie jedes Mal so heftig auf seine Küsse reagierte.

„Das nennt man sexuelle Anziehungskraft, pethi mou“, erklärte Leo, als habe er ihre Gedanken gelesen.

Fasziniert sah Leo, wie verlegene Röte sich auf Natashas Wangen ausbreitete. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er schwören können, Natasha Moyles verfüge über keinerlei erotische Erfahrung. Binnen Augenblicken schwankte sie von kalt zu heiß, von leidenschaftlich zu schüchtern. Da war nichts Kokettes an ihrem Verhalten. Sie flirtete nicht mit ihm. Sie schien überhaupt keine Ahnung zu haben, was sie in ihm auslöste. Und doch reagierte sie so überaus empfänglich auf alles, was er mit ihr tat.

Es versetzte ihm bereits einen Stich, einfach neben ihr zu sitzen und sie anzusehen. Das war jedoch kein unangenehmer Zustand. Tatsächlich war es Jahre her, dass eine Frau ihn auf einer so elementaren Ebene berührt hatte, dass er schon fast überzeugt war, die Fähigkeit zu tieferen Empfindungen verloren zu haben.

Daran trug Gianna die Schuld. Durch sie war er zu einem Zyniker geworden. Allerdings wollte er nicht ausgerechnet jetzt an seine Exfrau denken.

„Wir sind angekommen“, murmelte er und legte eine verführerische Samtigkeit, ein weiteres sinnliches Versprechen, in seine Stimme. Fasziniert beobachtete er dann, wie Natasha sich versteifte, während sie durch die getönten Scheiben der Limousine nach draußen schaute und einen Blick auf die eisernen Torflügel erhaschte, die den Eingang zu seinem Grundstück schützten.

Die drei Wagen glitten hindurch, dann bogen die beiden Begleitfahrzeuge nach links ab. Die Limousine, in der sie saßen, steuerte auf eine weiße dreistöckige Villa zu.

Kaum dass der Wagen hielt, war Rasmus auch schon ausgestiegen und öffnete Leos Tür. Langsam stieg Leo aus. Seine Beine wollten ihn kaum tragen. Verlangen kann ein sehr fordernder Schmerz sein, ging es ihm durch den Kopf, während er zusah, wie sein Fahrer die andere Tür öffnete und die Frau seiner geheimsten Sehnsüchte die Beine aus dem Fond schwang.

Natasha blickte hinauf zu der terrassenartig gestalteten Fassade der Villa, die eine reizvolle Verlängerung zu den Stufen der weißen Marmortreppe bildete. Die Fenster in allen drei Stockwerken waren einladend beleuchtet. Der Duft von Jasmin hing schwer in der Luft.

„Ich wohne ganz oben“, erklärte er. „Meine Gäste werden im Mittelteil untergebracht. Den Angestellten steht die untere Etage zur Verfügung. Gefällt dir mein Haus?“

„Es sieht aus wie ein Luxusliner.“

Leo lächelte. „Das war die Idee dahinter.“

Rasmus trat einen Schritt auf seinen Arbeitgeber zu. Die beiden Männer teilten einen Blick, dann stiegen Rasmus und der Fahrer wieder in die Limousine und fuhren davon.

Natasha bemerkte, wie Leo seinen Blick über ihr Kostüm wandern ließ und unwillig bei der Handtasche innehielt, die sie wieder vor ihre Brust gepresst hielt. Er brauchte schon gar nicht mehr zu sagen, was er dachte. Sein Lächeln zeigte ihr überdeutlich, was in seinem Kopf vorging. Nämlich wie sehr er sich darauf freute, ihr endlich die Kleider auszuziehen und zu enthüllen, was sie jetzt noch vor ihm verbarg.

Und am schlimmsten war die Tatsache, dass ein lustvoller Schauer angespannter Erwartung sie überlief und ihr Innerstes zum Pulsieren brachte.

Als er schweigend die Hand nach ihr ausstreckte, trat Natasha scheinbar willenlos und wie von unsichtbaren Fäden gezogen zu ihm und legte ihre Hand in seine.