GOTTFRIED 1943–1944
Die Bettdecke hatte Gottfried bis hoch zum Kinn gezogen. Sie kratzte und stank, ganz anders als das Plumeau mit Blumenmuster, das er auf Besuch bei Tante Maritz bekommen hatte. Dort war es auch viel wärmer gewesen als hier im Schülerheim, in dem sich jeder Junge mit so einer dünnen Decke begnügen musste. Die Kälte kroch durch das Leinen, und Gottfried wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere.
Seit September war er auf der Schule am Donnersberg. Der »Berg der Berge« in der Nordpfalz trug ihn durch sein dreizehntes Lebensjahr. Der Vater hatte erzählt, dass der Berg lebe. Er bestehe aus Porphyr, einem vulkanischen Gestein. Doch als Gottfried an einem der ersten Tage in der Anstalt einem Jungen beim Marsch durch den Wald davon erzählte, wurde er nur ausgelacht. »Vulkangestein. A-ha.« Er hatte den Rest der langen Wanderung nichts mehr zu dem Jungen gesagt und nachts nur gegrübelt, statt zu schlafen.
So wie jetzt. Mal lag das eine Ohr auf dem Kissen, mal das andere Ohr. Immer konnte er Horst im Bett neben sich schnaufen hören wie ein Ross. Der atmete ganz anders als sein kleiner Bruder Rudolf. Es war ja auch nicht Rudolf. Es war Horst, den er gestern bei der Schießübung mit einer Grimasse zum Lachen gebracht hatte, so sehr, dass Horst gar nicht mehr aufhören konnte zu lachen und deshalb von Sportlehrer Blecker bei der anschließenden Leichtathletik einige Extrarunden um die Bahn gejagt wurde. Der dicke Horst lief noch, als Gottfried mit den anderen Jungen längst wieder Richtung Schule marschiert war. Ein kreiselnder Punkt, der immer kleiner wurde. Und immer langsamer.
Dann dachte Gottfried an zu Hause, was das Einschlafen auch nicht gerade leichter machte. Die Mutter hatte heute geschrieben, dass sein langer Brief wohl nicht mehr ankommen würde. Nie mehr. Weil das Postamt in Ludwigshafen abgebrannt war. Dabei hatte er sich extra viel Mühe gegeben beim Schreiben. Gottfried sah die Mutter vor sich, wie sie sich am letzten Abend zu ihm hinuntergebeugt und ihm wie immer ihren Kuss auf die Stirn gedrückt hatte. Ihren Geruch vergaß er nie, er wäre jetzt so viel besser als der Geruch dieser muffigen Decke. »Ein echter Mann« werde er hier auf der neuen Schule, hatte sie versprochen. Aber nur, wenn er gut mitmache. Was er sich unter einem »echten Mann« vorzustellen hatte? Sicherlich niemanden, der ständig nur an zu Hause dachte, anstatt zu schlafen.
Jetzt zuckte Horst im Bett neben ihm wie Ajax, wenn er träumte. Ajax war der Hund vom Nachbarn Vogt. Gottfried vermisste Ajax und sein weiches Fell jetzt so sehr, dass an Schlaf überhaupt nicht mehr zu denken war. Er starrte in die Dämmerung. Der Schlafsaal war sehr groß. Durch das Fenster schien der Mond und warf die Schatten der mächtigen Bäume an die Wand, mit Ästen wie Fangarme. Die Doppelstockbetten standen dicht beieinander in Reih und Glied. Zum Glück schlief er unten. Ob er aufstehen sollte und an Horst rütteln, damit der wach würde? Lieber nicht. Wenn genau in dem Moment der Aufpasser eintrat, bekäme Gottfried sicher Ärger.
Einige Zeilen aus Muttis Brief kannte er schon fast auswendig. Er hatte sie sich heute beim Rundenlaufen ständig vorgesagt, damit das Laufen nicht so anstrengend war. Lieber hätte er die englischen Vokabeln aufsagen sollen. Die konnte er sich einfach nicht merken. Ob das überhaupt richtiges Englisch war, was der Lehrer da sprach? Es klang ganz anders als das Englische, das Gottfried einmal bei Tante Maritz’ Bruder in Castell im Radio gehört hatte. Gottfried warf sich noch einmal auf die andere Seite und dachte an Muttis Brief.
In Ludwigshafen und Mannheim sieht es böse aus. Fast alle Straßen vor allem wieder in der Südstadt sind vernichtet. Deine Schule übrigens auch. Wir haben mal wieder sehr viel Glück. In der Wöhlerstraße gab es einige Brände, die aber alle nicht so schlimm waren wie in der Stadt. In unserem Haus brannte es auf dem Dachboden in Annas Zimmer und meinem Ankleidezimmer. Wir haben die ganze Nacht mit einer Spritze, die von der Fabrik eingesetzt wurde, gelöscht. Das Wasser lief die Treppe herunter und tropfte durch alle Decken und Wände. Und jetzt ist alles noch schrecklich schmutzig und ungemütlich bei uns. Sei froh, dass Du fort bist.
Sie klopfte sicher wieder auf Holz. Das tat sie immer, wenn sie betete, dass alles gut bliebe. »Ein Dutzend Jahre alt und schon ein richtiger Jung«, hatte der Vati noch unter den Brief geschrieben. Er schrieb nie mehr als einen Satz. Dass Gottfried auf dem Weg war zum »echten« Mann, das hatte er wohl gar nicht mitbekommen.
Da hörte Gottfried das schleifende Geräusch der schweren Eingangstür. Stiefel donnerten auf den Boden. Er hielt den Atem an. Sicher die Stiefel von Blecker. Der kam neuerdings zusätzlich zum Jungmann vom Dienst zum Nachkontrollieren, ob alle schliefen. Bloß jetzt nicht rühren. Gottfried hörte ihn durch den Saal schreiten. Gleich würde er auch an seinem Bett vorbeikommen. Er mochte den Blecker nicht. Schritt für Schritt maß er die Betten ab, und sicher zupfte er dabei hier und da an den Decken herum, weil der immer an irgendetwas herumfingerte. Gottfried hatte gesehen, wie er heute an Horsts wackelnder Uniform herumgezupft hatte und schrie: »Strafdienst! Zwanzig Runden mehr!« Und Horst hatte immer weitergewackelt, weil der ja so lachen musste, der Arme. Der konnte sich nicht mal die Hand vor den Mund halten, weil er strammstehen sollte.
Als der Blecker den Schlafsaal wieder verlassen hatte, stellte sich Gottfried vor, Horst wäre Rudolf. Der Gedanke half. Gottfried lag unbeweglich wie ein Toter und schlief endlich ein.
Am nächsten Morgen wurde Gottfried noch vor der Glocke von einem leisen Wimmern wach. Der dicke Horst saß auf seiner Bettkante, hatte seine Decke zurückgeschlagen und wimmerte. Was war denn mit dem passiert? Dann ging alles ganz schnell. Decken lüften, waschen, anziehen, Betten bauen, Kontrolle und ab in den Hof zur Flaggenparade, danach endlich Einrücken in den Speisesaal zum Frühstück.
Noch vor Unterrichtsbeginn bekam Gottfried eine Postkarte von Rudolf. Zum Lesen verzog er sich in eine Ecke hinter den Klosetts. Rudolfs Schrift war ein zitterndes Riesengebirge und spannte sich quer über die Karte. Natürlich hatte er wieder über die Linie geschrieben. Letztes Mal hatte er von seiner neuen Schildkröte erzählt, die ihm Gottfried neidete. Und heute?
Castell, 15. September 43
Lieber Gottfried! Wie geht es Dir? Gestern fuhr ich mit Mutti nach Castell. Der Fesselballon war da. Morgen gehe ich in Castell zur Schule. Ich habe für Dein Rad ein neues Schloss. Hier ist es sehr schön. Viele herzliche Grüße von Deinem Rudolf
Der hatte es gut, dieser Sauhund. Der sah jetzt Tante Maritz, die lustige Freundin von Mutti, viel öfter als er selbst. Nachts träumte Gottfried vom großen Fesselballon und Rudolfs neuer Schildkröte. Die Schildkröte wollte ausreißen, aber Vati fütterte sie im Traum mit Salatblättern, die immer größer wurden, bis die Schildkröte ganz unter den Salatblättern begraben war.
Am nächsten Morgen nahm sich Gottfried vor, die Mutter im Brief nach dem Fesselballon zu fragen, den er auch schon mal gesehen hatte. Der Fesselballon sei vom Militär und kundschafte die Lage aus, hatte die Mutter gesagt. Er fand ihn herrschaftlich, obwohl der Ballon nur mit heißer Luft gefüllt war. Und das konnte eigentlich nichts Gutes sein. »Du reddst ja nur heiße Luft!«, pflegte der Vati extra pfälzischer zu sagen, als er sonst sprach, wenn Gottfried herumdruckste und um den heißen Brei herumredete. Da hielt er lieber wieder den Mund.
Nur Rudolf wies er gerne zurecht.
N.P.E.A. Weierhof 18.9.43
Lieber Rudolf!
Eben habe ich Deine schöne Karte erhalten. Herzlichen Dank. Vorhin haben wir Appell gehabt. Mutti hat mir geschrieben, dass Du jetzt vier Wochen Ferien hattest.
Da lernst Du aber gar nichts. Wir werden hier arg geschwemst. Nachher haben wir Strafdienst und dann Schleuderball-Weitwurf. Wir haben jetzt ganz neue N.P.E.A.-Uniformen bekommen. Sie haben auf beiden Seiten silberne Achselklappen, wo mit großen goldenen Buchstaben N.P.E.A. draufsteht. In acht Tagen dürfen wir von freitags bis Montagabend heimfahren. Ich freue mich schon sehr darauf. Meine Adresse heißt Nationalpolitische Erziehungsanstalt Weierhof bei Marnheim. Ich freue mich schon sehr auf Deinen nächsten Brief.
Herzliche Grüße an Dich, Tante Maritz, Karl und August
Dein Gottfried
Heute stand Weitsprung auf dem Programm. Der Turnplatz hinter dem Schotterfeld knatschte vom Regen der letzten Tage. Die Jungen von Gottfrieds Sektion rutschten oft weg. Auf der Laufbahn standen die Pfützen so hoch, dass das Wasser spritzte, als die Gruppe in einer vorbildlich geordneten Einserschlange bei den Lockerungsübungen durchlief. – Wehrertüchtigung diesmal zum Glück nicht mit Blecker, sondern mit Huber, dem Klassenlehrer, der gleich am allerersten Tag jeden Schüler, der ihn nicht mit »Zugführer« ansprach, in die Ecke gestellt hatte, bis es auch der Letzte verstanden hatte.
»Hoch!« Huber spitzte den Mund.
»Quer!« Huber spitzte abermals den Mund.
»Und jetzt mit den Ar-men krei-sen!« Huber machte dramatische Pausen hinter jeder Silbe und spornte sie an zum Dauerlauf. Gottfried war einer von den Letzten. Aber noch weiter hinten lief ein Junge, der ihn bisher beim Frühstück immer links liegen gelassen hatte. Plötzlich aber schien er sich für Gottfried zu interessieren. Erst dachte Gottfried, er wolle ihm etwas sagen, weil er ihn mehrmals leise »He, du, he!« rufen hörte. Dann spürte er eine leichte Berührung auf seiner Schulter, wagte aber nicht, sich umzudrehen. Als Huber mal kurz in die andere Richtung schaute, drehte sich Gottfried doch um – und schon war es passiert. Ausgerechnet beim Huber, der auch Deutsch gab und dem er unbedingt gefallen wollte. Es ging so schnell, da lag Gottfried schon, und die Letzten der Gruppe fielen fast auf ihn drauf. Er wusste gar nicht, ob er über seine eigenen Füße gestolpert war oder ob ihm jemand ein lang gestrecktes Bein dazwischengegrätscht hatte. Er hatte noch das satte Grinsen des Jungen bemerkt. Gottfried nannte ihn für sich kurzerhand »Jorgatz«, weil er blond war wie der Junge aus seinem Buch Der kleine Jorgatz.
»Was los?«, schrie Huber. Die vordere Abteilung war einfach weitergelaufen, als wäre nichts geschehen. Der Schlangenschwanz gestaltete sich als ungeordnetes Grüppchen. Zwischen Vorderen und Hinteren wuchs das Loch, sodass Huber den flinken Läufern hinterherrufen musste, was seine Stimme kaum hergab, seine Lunge aber schon: Der schrille Pfiff, allgemein als der »Huberpfiff« bekannt, schnellte wie ein Pfeil zur Vorhut. Endlich reagierten die Jungen und kamen zurückgelaufen.
Der Jorgatz schaute wie ein Unschuldslamm, als Huber der Reihe nach alle Jungen mit seinem Zeigefinger aufpikte, während er immer die gleiche Frage wiederholte: »Warst du’s? Hast du ihm ein Bein gestellt?« Aber niemand gestand. »Ich kenn euch, ihr Lümmel!«
Gottfried hievte sich hoch, blickte abwechselnd auf die schwitzenden Gesichter seiner Kameraden und sein Schienbein, auf dem schon eine Beule wuchs. Dann nahm Huber ihn ins Visier: »Oder bist du nur ein oller Schussel? Nichts in den Beinen? Aber alles im Kopf?«
Gottfried wurde heiß und kalt. Ausgerechnet bei Huber! Er wäre am liebsten ganz weit davongelaufen, bis über die weißen Grenzlinien des Turnplatzes hinaus und weiter, immer weiter, in den Tannenwald hinein, den er über Hubers Kopf dunkel emporwachsen sah. Er brachte kein Wort heraus. Die Wut kochte in ihm, während sein Schienbein dick anschwoll.
Als immer noch niemand etwas sagte, entschied Huber, die Strategie zu ändern. Sollten sie doch alle zur Hölle fahren. Um elf Uhr würde der Gauleiter vor ihm stehen und sehen wollen, was dran war an den Jungen seines Zugs. Da konnte er sich nicht mit Schwächlingen aufhalten, die über ihre eigenen Beine stolperten. Gottfried – ja, so hieß er, erinnerte sich Huber, und er sagte es laut: »Gottfried.«
Der Junge schaute auf. Hatte ein rotes Gesicht. Träger Kerl und einer der Kleineren. Huber war ja auch einmal jung gewesen und hatte ganz schön was einstecken müssen.
»Gottfried also.«
Gottfried schwieg, und alle schauten gespannt auf Lehrer Huber.
»Strammstehen!«, sagte er mit Nachdruck, und mit dem Befehl schien er selbst einen Stock verschluckt zu haben, der ihn aufrichtete bis in den Scheitel seines schütteren Haars hinauf. Huber war schon lange Lehrer auf der Schule am Donnersberg. Fester Bestandteil der Lehranstalt, schon als diese noch mennonitisch gewesen war. Ha! Pazifisten! Das waren die Mennoniten schon früher eigentlich nie gewesen – so sehr, wie sie schon immer das Nationale verteidigten. Und jetzt? – Man musste eben mit der Zeit gehen, dem Feind selbstbewusst entgegentreten, nicht duckmäusern. Huber war einer der Ersten im bereinigten 33er Kollegium, der einsah, dass die christliche Grundhaltung überholt war und man sich nicht länger dem Dienst an der Waffe entziehen konnte. Sein Credo war das Credo seines Vorredners bei der Kuratoriumsversammlung gewesen, und sie hatten es dann ja auch schriftlich genauso festgehalten: »Wir haben im Einsatz für Volk und Vaterland mit Leib und Leben die Bewährung der größten Liebe zu sehen, die wir unserem Volk schulden.«
Mit Leib und Leben. Huber überlegte, wie er nun mit dem Leib dieses Gottfrieds verfahren sollte. Und da fiel ihm an diesem trüben Schulvormittag ein, was Heinrich Himmler einmal über die Mennoniten gesagt hatte, als die partout auf ihrem Eid beharrten, keinen Dienst an der Waffe zu leisten: »Über diesen Strohhalm werden wir nicht stolpern.« Und so wollte Huber am heutigen Tag, an dem der Besuch des Gauleiters erwartet wurde, auch nicht über den Strohhalm Gottfried stolpern und drückte ein Auge zu.
»Lappalien!«, rief er vor den überraschten Gesichtern seiner kleinen Jungmanngarde aus und schubste den einen oder den anderen mit leicht angeekeltem Blick wie eine Meute Unberührbarer in Richtung der Hürden, die schon für die nächste Vormittagsübung bereitstanden.
Gottfried atmete erleichtert auf. Huber mochte ihn! – »Alles im Kopf!« – Hatte er das nicht eben gesagt?
Wenn Huber erst wüsste, was tatsächlich so alles in seinem Kopf vor sich ging! Gottfried wollte es ihm gern zeigen. Nicht beim Sport, aber in der Deutschstunde. Er guckte triumphierend zum kleinen Jorgatz, der seinem Blick auswich und sich unbeteiligt in Bewegung setzte, ein aufgeblasener blasser Kerl, vor dem er sich künftig in Acht nehmen wollte. Gottfried ballte seine Hände zu Fäusten und arbeitete so heftig mit dem Kiefer, dass er beim Laufen aus Versehen auf die Zunge biss. Der neue Schmerz erinnerte ihn an sein Schienbein, das sich wieder meldete. Doch mit jedem Schritt schob er den Schmerz mehr beiseite. Diesen Triumph wollte er Jorgatz nicht gönnen. Und später, als der Gauleiter sie begrüßte und sie auf Treue, Gehorsam und Opferbereitschaft einschwor, hatte Gottfried den Schmerz so weit unter Kontrolle gebracht, dass er sich erst wieder abends, als er das dicke Horn befühlte, bemerkbar machte.
Nachts musste Gottfried auf die Toilette. Als er aufstehen wollte, fuhr der Schmerz bis in den Oberschenkel, dass er gar nicht gehen konnte. Beim zweiten Versuch klappte es schon besser. Leise schlich er an Horst vorbei, doch die Bodendielen knarrten, und Horst saß ganz plötzlich kerzengerade in seinem Bett, starrte in die Dunkelheit und sagte laut und vernehmlich: »Was machst du? Was höre ich?«
Dann sank er wieder zurück in den Schlaf. Gespenstisch war das.
Der Saal beherbergte lauter Jungen, die Gottfried fremd blieben in diesen ersten Wochen, da er Rudolf so stolz von der Uniform geschrieben hatte. Sie lag fein säuberlich auf Kanten und Falten auf dem kleinen Metallhocker neben seinem Bett, bereit für morgen früh.
Aber als um sechs Uhr die Glocke ertönte, merkte Gottfried bald, dass er etwas falsch verstanden hatte. Die Uniform musste, wie jeden der vorigen Tage auch, im Spind verstaut sein. Niemand hatte seine wie er auf dem Hocker liegen. Es war zu spät, und Gottfried konnte sich nur noch schnell vor dem Hocker aufstellen und unauffällig in die Knie gehen, um das Kleidungsstück über den Rand des Hockers zu schieben. Blecker, wieder der Blecker, war fast zeitgleich mit der Glocke im Raum. Und wieder schritt er betont langsam die einzelnen Betten ab. Gottfried blinzelte durch seine schlafverschleierten Augen und versuchte sich zu orientieren. Da hielt Blecker ausgerechnet vor seinem Bett an. Sofort schoss ihm diese dumme Röte ins Gesicht. Er presste die Lippen zusammen und erwartete den Schuldspruch wegen der nicht verstauten Uniform.
Aber Blecker setzte sich wieder in Bewegung und ging noch ein Bett weiter. »Wer schläft hier?«, blökte er und ergänzte: »Wer schläft hier etwa noch?« Er versetzte dem Bettpfosten einen Tritt mit dem Fuß. Es war das Bett vom Horst, der im Tiefschlaf war und sich bald fluchend rekelte. Die Ersten kicherten, doch Blecker ermahnte sie mit unmissverständlichem Blick. Die weit aufgerissenen Augen von Horst, der die peinliche Situation allmählich erfasste, würde Gottfried nicht so schnell vergessen. Er wusste, dass ihm das Gleiche passieren könnte, hatte er doch für gewöhnlich auch einen so tiefen Schlaf, dass selbst sein kleiner Bruder oft Schwierigkeiten hatte, ihn zu wecken.
An diesem Tag schrieb er in der stillen Zeit an seinem Arbeitspult, statt Hausaufgaben zu machen, heimlich an die Eltern, obwohl er schon am Vortag und vormittags an sie Briefe verfasst hatte. Zwei Tage später kam Antwort.
Mein Lieber, heute erhielten wir Deine Karte und Deine beiden Briefe und sind nun sehr traurig, dass Du so arges Heimweh hast. Es gefällt Dir doch gut im Weierhof, und Du warst doch schon öfter ohne uns fort. Weshalb hast Du denn auf einmal noch ein Heimweh nach uns? Ich bin so froh, dass Du nicht hier zu sein brauchst. Die Angriffsnacht war viel schlimmer als alles, was wir bisher erlebten. Sogar Rudolf hat geweint, und Du hättest viel Angst und Schrecken ausgestanden. Jede Nacht haben wir Alarm und sitzen im Bunker vorm Casino, das übrigens auch gebrannt hat. Es wäre bestimmt nicht gut, wenn Du jetzt heimkämst. Es fahren auch gar keine Züge nach Ludwigshafen. Rudolf ist auch fort. Ich schrieb es Dir schon gestern. Den Brief wirst Du sicher heute haben. Ich fahre jetzt nach Oggersheim, stecke dort diesen Brief in den Kasten und versuche in der Anstalt anzurufen. Vielleicht können wir gleich miteinander sprechen. Darauf freue ich mich schon. Wir legen zehn Mark in den Brief, damit Du Geld hast. Ich freue mich sehr auf das nächste Wiedersehen. Leb wohl, mein Großer, und halte Dich tapfer und brav, gelt? Vati lässt Dich auch sehr herzlich grüßen, und ich küsse Dich recht lieb.
Deine Mutti
In einer der folgenden Nächte träumte Gottfried von der Silbergrube im Donnersberg. Beim Wecken konnte er sich nur noch an den hellen Klang der Silberlinge erinnern und dass Horst von ihnen begraben war und zu ersticken drohte. Erschöpft von dem Traum, tappte Gottfried ins Gemeinschaftsbad an sein Becken. Als er Jorgatz im Spiegel auftauchen sah, konzentrierte er sich aufs Zähneputzen und mied es, in den Spiegel zu sehen. Er trödelte so lange, dass er in der ersten Schulstunde fast zu spät kam. Er hatte Rudolf noch geantwortet, der sollte mal sehen, wie er im Gegensatz zu ihm selbst die Zeit vertat. Huber stand schon mit einem Buch in der Hand vorne am Katheder und winkte sie ungeduldig herein. Gottfried memorierte eben noch Mutters letzten Brief:
Werde mit allem flinker, und zeige Deinen Erziehern, dass Du auch Ordnung halten kannst und mit allem schnell fertig wirst. Umso mehr Freude wird es Dir selbst machen.
Heute nahm er sich vor, ihre Ratschläge zu beherzigen. Huber las ihnen aus dem Buch Hitlerjungen erlernen das Wandern vor. Dann verteilte er leere Blätter. Erlebnisaufsatz war dran, »Eine Wanderung durch das heimische Gebirge«, zwei Stunden lang, und Gottfried konnte überhaupt nicht flink sein, weil es so viel zu schreiben gab, dass er kaum fertig wurde und erst mit dem letzten Schulgong seine fantastische Reise durchs Donnergebirge (ober- und unterirdisch) beendete. Aber etwas fehlte noch. Mit einem Sternchen kritzelte er unten an den Rand der vierten Seite, dass die Jungmannen mit Herzblut aus voller Brust beim Wandern immerzu sangen: »Die Fahne ist mehr als der Tod. Wir marschieren für Hitler durch Nacht und Not.« Die Hand tat ihm vom Schreiben weh. Ausgelaugt legte er sein Werk vorne aufs Pult. Ganz verloren hatte er sich in einem Wald, in dem es von Zauberwesen nur so wimmelte.
Die Woche verstrich mit Extrastunden militärischer Schulung im nasskalten Herbstwetter, unterbrochen von Alarm und Fehlalarm und hektischen Läufen in den Bunker der Schule. Horst folgte schlapp. Gottfried sehnte sich nach den beiden Pferden, die gerade neu angeschafft worden waren. Sie standen auf einer Weide nahe der Anstalt, mit ganz weichen Nüstern. Es sollte bald Reitunterricht geben, aber nur für die Älteren. Dabei wollte Gottfried nichts lieber werden als Reitoffizier.
Um Mitternacht, als er das Klosett aufsuchte, konnte er vom Turmneubau die Uhr schlagen hören, zwölf Mal, genauso viele Schläge, wie er schon Geburtstage gefeiert hatte. An den Geräuschen ringsum merkte er, dass er nicht allein wach war. Auch andere wälzten sich unruhig in ihren Betten. In einer Nacht suchte Gottfried die Tür in seinem Kinderzimmer zu Hause und merkte irgendwann, dass er an der Rückseite des Saals im Halbdunkel die Wand nach dem Türknauf abklopfte. In einer anderen Nacht sah er erst im Licht des Badezimmers, dass er sich überall blutig gekratzt hatte. Morgens beim Waschen übte er im Spiegel oft, so gleichmütig zu schauen wie Jorgatz.
Immer noch keine Antwort von Rudolf.
N.P.E.A. Weierhof d. 14.10.43
Lieber Rudolf!
Ich habe Dir jetzt schon so oft geschrieben, dann schreib mir doch auch mal. Hast Du meine letzten Briefe nicht bekommen? Meine Adresse heißt nicht, wie Du auf den letzten Brief schriebst, »Nationalsozialistische politische Erziehungsanstald«, sondern: Nationalpolitische Erziehungsanstalt. Den letzten Sonntag haben wir ein großes Geländespiel gemacht. Es war sehr schön. Unsere Abteilung hatte gewonnen. Heute Nachmittag bekommen wir Besuch von der Inspektion im Bereich. Deshalb haben wir alle unsere neuen Geländeuniformen an. Vor einigen Tagen hat bei uns ein SS-Untersturmführer, der beim Duce-Befreiungstrupp dabei war, erzählt. Das war sehr interessant und witzig, wie sie alle vor Staunen die Münder (Mäuler) aufgesperrt haben. Schreib mir doch bitte auch mal.
Herzliche Grüße an Tante Maritz, August und Karl.
Dein Gottfried
Er hatte den Brief gerade abgegeben, da erhielt er im Wechsel doch noch Rudolfs verspätet eingetroffenes Schreiben. Wenn er Briefe von zu Hause las, fühlte er sich viel weiter weg von Ludwigshafen, als Weierhof tatsächlich entfernt war. Es war ein so anderer Alltag hier. Kaum freie Zeit. Gottfried setzte sich in der kurzen Mittagszeit auf die breite Treppe zum Haupteingang und hoffte, dass niemand ihn störte. Eilig riss er den Umschlag auf und las.
Castell, der 10. Oktober 1943
Lieber (böser) Gottfried!
Ich danke Dir sehr herzlich für Deine schönen Briefe. Heute ist sehr schönes Wetter. Wir haben schon 20 Pfund Rosskastanien gefunden. Ich habe mir eine Kastanienschleuder gemacht. Am 15. geht wieder die Schule an. Hier hat auch schon die Traubenlese begonnen.
Viele herzliche Grüße von Deinem Rudolf
Heil Hitler, die Kreisleitung!!!
Der Wicht. Gottfried sah die Körbe voller Trauben vor sich, ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Die Felder sahen um diese Zeit bunt getupft aus, und wenn es geregnet hatte, roch die Luft süß. Wie gern wäre er jetzt auch in Castell.
Sechs Tage später riss der Herbsthimmel auch bei ihnen endlich auf. Doch der Schein trog. Als alle draußen waren zum Appell, ging es los. Gottfried notierte es abends für sich selbst in sein kleines Tagebuch, heimlich, damit niemand ihn damit aufziehen konnte, dass er Tagebuch schrieb wie ein Mädchen:
16.10.43
Über uns zogen 5 Geschwader 4-motoriger Bomber. Wir gingen alle in Deckung. An diesem Tag griffen sie Schweinfurt an.
Dann zog er die Decke über den Kopf und versuchte zu schlafen. Als er heute wieder gen Mitternacht zum Pinkeln aufstehen musste, wäre er fast gegen Horst geprallt, der auf dem Weg zurück ins Bett war und schwer atmete. Unter dem Notlicht an der Tür sah er gespenstisch aus. Fiebrig rot und mit eingefallenem Gesicht. Er schien ihn gar nicht richtig wahrzunehmen.
Am nächsten Tag gab es den Aufsatz zurück. Gottfried rückte erwartungsvoll Bücher und Stifte beiseite. Aber Huber klatschte ausgerechnet ihm die Blätter aufs Pult. »Ein Sechser. Und beim nächsten Mal will ich ein Gespräch mit deinen Eltern. Verpumpen sollt’ ma’ dich!« Hochrot war Hubers Gesicht. »Feen! Zauberlehrlinge! Schmierfinkerei, das alles!« Der Rest war nicht mehr für Gottfried allein, sondern für alle bestimmt. Dass der Führer von ihnen allen das Beste erwarte. Dass sie auserwählt worden seien und ihre Träumereien endlich ablegen sollten. »Denkt an eure Verpflichtung dem deutschen Volk gegenüber!«
Die Stille vor dem Klassenzimmer auf dem leer gefegten Flur war ohrenbetäubend. Gottfried merkte gar nicht, wie er sich kratzte. Als es zur Pause läutete und die anderen aus dem Klassenzimmer kamen, musste er immer noch in der Ecke hocken. Schlimmer war, dass Huber, der als Letztes herauskam, ihm gleich auch noch das nächste Heimwochenende strich. Gottfried hatte sich so sehr darauf gefreut.
Beim Abendessen war er so betrübt, dass er es seinem Nachbarn sagte, genau jenem, der, nachdem Jorgatz Gottfried das Bein gestellt hatte, die Klasse zusammengerufen hatte, um klarzustellen, dass Jorgatz das mit dem Beinstellen hätte gestehen müssen, weil schließlich Gefahr bestand, dass die ganze Klasse dafür büßen musste. Aber es sei ja gerade noch mal glimpflich ausgegangen. Klaus Karer hieß er. Er war auch ihr Klassensprecher und tuschelte gleich mit seinem Nachbarn. Wie erleichtert war Gottfried, als er jetzt beide sagen hörte, dass Huber ihnen höchstpersönlich aufgetragen habe, Gottfried heute Abend beim Essen mitzuteilen, dass das Heimfahrverbot aufgehoben sei. Vergnügt stießen alle drei mit ihren Tassen an.
Mutters langer Brief traf ein, nachdem Gottfried auch im Englischen nur eine Fünf bekommen hatte und ganz am Boden zerstört war.
Ludwigshafen, der 22. Oktober 43
Mein lieber Gottfried, nun haben wir uns umsonst auf Dich gefreut. Wie schade! Mir kam es zwar gleich etwas sonderbar vor, aber ich finde es hässlich von Deinen Kameraden, dass sie Dich so frotzeln. Jedenfalls hast Du wieder davon gelernt, und es kann Dir nicht passieren, dass man Dich so hochnimmt. Vielleicht hast Du ihnen anfangs zu viel von Deinem Heimweh erzählt, und sie sind ärgerlich, dass Du so viel heimfährst? Sprich nicht mehr davon, dann lassen sie Dich auch in Ruhe. Denk an das, was ich Dir gesagt habe, und gib den Jungen keinen Anlass mehr, Dich auszulachen. Versuche tüchtig in allem mitzukommen, damit sie Respekt bekommen und merken, dass Du auch was kannst, dann erkennen sie Dich auch an. Wie gerne möchte ich Dir solche Enttäuschungen ersparen, mein Lieber, aber das geht eben nicht. Jeder Mensch muss sich selbst durchsetzen. Nur dadurch wird man hart und energisch und wird mit dem Leben fertig. Hoffentlich hast Du ihnen wenigstens nicht Deine Enttäuschung gezeigt, denn darauf haben sie ja gespitzt. Schlimm ist’s ja auch gar nicht, jetzt warten wir halt eine Woche, und dann besuchen wir Dich genauso wie die anderen Eltern, gelt?
In Castell war’s sehr schön, aber kurz. Ich war ja nur einen Tag dort. Rudolf sieht blendend aus und fühlt sich bei Tante Maritz sehr wohl. Das sah man ihm richtig an. In drei Wochen hole ich ihn heim. So lange musst Du also auf das Wiedersehen mit ihm noch warten.
Unseren abendlichen Alarm haben wir gerade hinter uns. Es wurde bei uns nicht mal geschossen. Jetzt geht’s aber ins Bett. Leb wohl, mein Lieber!
Gottfried faltete den Brief wieder zusammen. Trösten konnte ihn das nicht. Aber er hielt ihn sich doch unter die Nase, um noch ein wenig Geruch von zu Hause einzuatmen. Es war die Zeit kurz vor dem Abendessen, direkt nach der Schwimmstunde und der wöchentlichen Schießübung, die gut verlaufen war. Schießen machte ihm richtig Spaß. Er wurde immer besser darin, Kimme und Korn zu richten, und hatte jetzt sogar den anderen etwas voraus.
Als er später draußen am kleinen Turnplatz vorbeikam, konnte er drei Gestalten unter dem eisernen Reck ausmachen, von denen einer aussah wie Jorgatz. Kein Lüftchen regte sich. Das Blätterwerk, das sich über die von Bäumen befreite Ebene ausgebreitet hatte, verdunkelte den Boden. Gottfried meinte, einen schreien zu hören und einen anderen lachen. Doch es hätte auch der Ruf der Käuzchen sein können, die sich abends gegenseitig aus den nahen Wäldern antworteten.
Am nächsten Morgen war das Bett neben Gottfried leer. Horst hatte die letzten Nächte mit Fieberträumen und unkontrollierbaren Weinanfällen verbracht, durch die auch Gottfried immer wieder aus dem Schlaf aufgeschreckt war. Der Scharlach hatte den inzwischen arg abgemagerten Horst fest im Griff, und auch ein weiterer Junge aus dem Schlafsaal hatte sich angesteckt. Horsts Bettdecke lag auf dem Boden. Gottfried suchte ihn im Waschraum unter den anderen Jungen. Doch Horsts Becken war unbesetzt. Die Gestalt mit der in letzter Zeit immer leicht gebeugten Haltung war nirgends zu entdecken.
Heute war ein Brief vom Großpapa aus Essen dabei.
Essen, 7. November 1943
Mein lieber Gottfried!
Dein lieber Brief kam gestern mit Muttis Brief zusammen an. Wir danken Dir dafür. Wenn Du nun auch Pfälzer bist, so musst Du Deine Kleider zum Appell nicht butzen, sondern putzen, und es heißt auch nicht nexten Sonntag, sondern nächsten Sonntag. Flötenstunde hast Du also auch. Habt ihr denn auch eine Musikkapelle? Unsere Hausnummer ist immer noch 37 und nicht 17. Bei uns kommen die Flieger jetzt wieder alle Tage, mitunter sogar zwei- und dreimal. Heute Mittag um 11.30 Uhr war Vollalarm, sind aber am Rhein schon vertrieben worden. Vorgestern kamen des Mittags auch große Verbände, haben viel Spreng- und Brandbomben geworfen, auf die Flakkaserne in Essen Kray. Das ist in der Nähe von uns, 16 Sprengbomben. Es gab mehrere Tote, auch vier Flakhelferinnen tot, und 16 Schwerverletzte. Auch mehrere Kohlenzechen haben was abbekommen. Jeden Abend beim Abendessen haben wir Alarm. Du hast es gut, Euch lassen die Flieger in Ruhe. Wie war’s denn letzten Sonntag bei Mutti? Wie geht’s dem Vati mit seinem Wagen? Nun wünsche ich Dir alles Gute und dass Du gut mitkommst im Lernen. Sei herzlichst gegrüßt und geküsst von Deinem Großvater.
Natürlich konnte der Großpapa nicht wissen, dass letzten Sonntag gar nicht Heimfahrt war.
Der Nachmittag verlief anders als erwartet. Nach dem Malzkaffee und mitten hinein in die Ertüchtigungsstunde, die die Züge eins bis vier unter Aufsicht ihres Hundertschaftsführers nebeneinander absolvierten, machte eine Sondermeldung die Runde. Man solle sich nach dem Duschen am Fahnenmast versammeln.
Unter der Dusche wurde Gottfried erstmals in dieser Woche von einer kleineren Schwäche heimgesucht. Er sah schwarze Punkte und bibberte unter dem eiskalten Wasser. Zum Glück bemerkte keiner der anderen, wie er sich schnell mit dem Handtuch abrubbelte und gerade noch auf dem Hocker Platz fand. Dort saß er eine Weile und wartete.
»Jungmannen!« Der Direktor hatte einen Stimmverstärker in der Hand. Seine Worte schwirrten wie schwarze Rabenvögel in den Himmel. »Wir haben uns hier versammelt, weil Jungmann Horst Hauf heute Nacht von uns gegangen ist.« Ein Raunen ging durch die Reihen. Die Jungen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Es war wieder nasskalt und trüb. Gottfried, der vor sich hin geträumt hatte, traf der Satz mit Sekunden Verspätung. Hatte er richtig gehört? Sein Bettnachbar – gestorben? Ihm wurde heiß, als die Bedeutung des Satzes langsam in ihn eindrang und der Direktor weitersprach: »Wie ihr wisst, hatte Horst Scharlach. Er hatte der Krankheit, die sonst alle hier bislang gut bekämpft haben, nichts entgegenzusetzen. – Lasst uns eine Minute schweigen.«
Gottfried spürte, wie sein Hals eng wurde. Er schluckte ein paarmal, dann war das unangenehme Gefühl wieder weg.
Gottfrieds zweiter Schwächeanfall Mitte der Woche war stärker als der erste unter der Dusche. Alle um ihn herum bekamen es diesmal mit, als er während des Essens langsam vom Stuhl glitt. Am Kopf entstand rasch eine große Beule. Er kam auf das Krankenzimmer, fieberte einige Tage durch und hatte starke Ohrenschmerzen. Als er wieder etwas bei Kräften war, geisterte das Bild von Horsts aufgerissenen Augen, die ihn im Fieber verfolgt hatten, immer noch durch seinen Kopf. Die Schwester erzählte, er habe eine Nacht heftig geschrien und behauptet, die Deckenlampe käme langsam herab und würde ihn erdrücken. Man habe ihn zu zweit festhalten müssen. Aber jetzt gehe es ihm ja zum Glück wieder besser. Eine Karte sei angekommen. Von Rudolf. »Dein Bruder?«, fragte sie und zog den Holzstuhl heran.
Er nickte. Die Schwester erinnerte ihn an Anna, die zu Hause im Haushalt aushalf. Ob sie ihm die Karte denn vielleicht vorlesen solle, fragte sie freundlich. Er nickte schwach und fasste sich ans Ohr. Immer noch ein stechender, regelmäßig wiederkehrender Schmerz. Aber die schmerzfreien Phasen dazwischen wurden schon deutlich länger.
»Na, bei euch zu Hause ist aber auch ganz schön was los«, sagte die Schwester und las:
Lieber Gottfried! Ich freue mich sehr auf Dich. Hoffentlich bist Du bis dahin gesund!!! Ich hoffe, dass nicht mehr so viel Alarm ist. Am Mittwochabend fiel in die Anlage hinter unserem Haus eine Minenbombe. Sie richtete großen Schaden an. Die Decken stürzten runter und die Wände krachten ein. Auch Deine Kuckucksuhr fiel von der Wand, sie ist aber noch ganz. Die Spielsachen fielen aus dem Regal, und manche flogen ins Fremdenzimmer. Viele herzliche Grüße und gute Besserung von Deinem Rudolf
Die Schwester holte die Karte näher heran. »Da steht noch was ganz klein, das kann ich kaum lesen …«
Lieber Gottfried, ich bin auch dafür, dass wir uns nicht mehr vermöbeln. Heute Abend gibt es Hirsebrei. Schade, dass Du nicht da bist.
Sie lächelte und reichte Gottfried die Karte mit dem Umschlag. Er las seinen Namen, daneben die verblassende Schrift des Poststempels: »Der Führer/Kennt nur Kampf,/Arbeit und Sorge./Wir wollen/Ihm den Teil abnehmen,/Den wir ihm abnehmen können.«
Dafür müsste Gottfried erst einmal wieder gesund werden.
Bald durfte er wieder aufstehen und draußen herumlaufen, vorbei an der Wand mit der großen Sonnenuhr und dem Spruch, den er längst auswendig kannte, weil alles, was Schrift war, sich ihm leicht einprägte:
Nichts kann uns rauben Liebe und Glauben zu unserem Land.Es zu erhalten und zu gestalten sind wir gesandt.
Von Klaus Karer und Jorgatz hielt sich Gottfried lieber fern, und als es doch einmal dazu kam, dass er in einer der kurzen Pausen zwischen beiden die breite Treppe hinaufmusste, rempelten sie ihn von rechts und links an und witzelten über seinen Kopf hinweg: »Das ist doch unser Gottfried mit der Wurst! Sag, Gottfried: Hast du nicht letztens ein Päckchen bekommen? Mit Schlauchwurst drin?«
Jorgatz sog genüsslich die Spucke in seinen Mund. Das Speichelgeräusch ekelte Gottfried. Er machte sich frei und nutzte die nächste Gelegenheit, die er allein war, um die Wurst, die die Mutter ihm tatsächlich geschickt hatte, auf einmal in sich hineinzustopfen.
Am Abend hatte er heftiges Bauchweh und weinte leise in sein Kissen. Es war jetzt schon Anfang Dezember, Wecken eine halbe Stunde später und kalt im Saal. Bald war Julfeier. Er würde bei der Schwertleite das Seitengewehr überreicht bekommen. Er hatte das Fahrtenmesser schon bei den Größeren gesehen. Alle Dolche trugen den Wahlspruch der Napola: Mehr sein als scheinen.
Doch vor allem freute er sich auf die Weihnachtsferien. So sehr wünschte er sich nach zu Hause, dass er sich sogar nach den ewigen Strafpredigten der Mutter sehnte. Wenn er zu Hause war, nahm Dora ihn sich zur Brust, und er fühlte sich von ihr mit Luchsaugen beobachtet. Wie und ob er die Zähne putzte; warum er Rudolf ärgerte; warum er seine Tasche herumliegen ließ. Noch in den Briefen gab sie ihm ständig Anordnungen.
Sei mal ein bisschen tapfer und nicht gleich so übelnehmerisch. Du bist doch jetzt ein so großer Kerl, der nicht über jeden Dreck gleich weint. Wenn Du nämlich so weitermachst, kann man nur noch von Dir sagen: Du bist ein Schlappschwanz! Und gerade das willst Du doch nicht sein, gelt?
Nein, das wollte er nicht. Er war überhaupt kein Schlappschwanz! Zu Hause packte er gut mit an, mit Schaufel und Schubkarre, bis sie wieder in den Bunker mussten. Er holte sogar für Ajax, den Hund, Essensreste im Casino. Aber Ajax war in letzter Zeit scheu geworden. Er saß geduckt unter der Eckbank des Nachbarn und jaulte, wenn er sich ihm näherte.
»Beiß die Zähne zusammen und zeig, was Du kannst!«, schrieb die Mutter im nächsten Brief.
Nach Weihnachten lief alles besser. Gottfried wurde im Sommer 44 endlich dreizehn und war im Fach »Schießen« ganz vorn. Bei den Schuh-, Schrank-, Kleider- und Pultappellen war er flink. Er hatte eine kräftige Lunge bekommen und gehörte beim Bannersportfest in der Leichtathletik zum vorderen Drittel. Er lernte, im Deutschaufsatz bei Huber langweilig über Geländespiele zu schreiben und die Frage zu beantworten, warum der Adolf-Hitler-Staat den Wert des Bauerntums hervorhob. Er spielte leidlich Blockflöte und rieb das Seitengewehr, dessen stolzer Besitzer er jetzt war, regelmäßig mit Fett ein, damit es nicht rostete. Er kommandierte und gehorchte, je nachdem, welche Position in seinem Zug ihm gerade zugeteilt worden war. Er half bei der Ernte und warf bei der Felddienstübung im Gelände Handgranaten mit Attrappen. Er marschierte lange Strecken, ohne zu murren, und wäre nur zu gerne mit den ganz Großen beim Segelkurs an der Ostsee dabei gewesen.
Einmal musste Gottfried, obwohl erst dreizehn, zu einem außerordentlichen Einsatz – ausgerechnet in Ludwigshafen bei der Fabrik direkt neben seinem Zuhause. Besonders froh war er, als er erfuhr, dass er mit dem Zug ganz allein schon vorfahren durfte. Die Mutter konnte ihn leider nicht abholen kommen. Also lief er bei Regen zu Fuß in der Weierhof-Uniform nach Hause. Das Wasser rann ihm von der Kopfbedeckung in den Kragen. Er schüttelte sich, doch es floss weiter bis zum Schlüsselbein. Er nahm die Kopfbedeckung ab und fasste sich an sein platt gedrücktes kurzes Haar, den Blick auf die Straße gerichtet. Er traute sich nicht hochzuschauen. Die Mutter hatte geschrieben, dass es kürzlich einen ganz furchtbaren Einschlag gegeben hatte.
Dann stand er vor dem, was einmal das Haus gewesen war. Er formte seine rechte Hand zu einem Kreis, hielt sie vors Auge und hatte eine Vision: Das Haus war noch heile. Im oberen Stock gab es noch die Fenster von seinem und Rudolfs Kinderzimmer.
Genau dort aber gähnte jetzt ein großes Loch. Und auch darüber das Dachgeschoss war völlig zerfranst. Die Bombe hatte einen Krater in das Haus geschlagen, einmal senkrecht durch. Von der offenen Querseite konnte man jetzt in alle Räume sehen, auch in die des Nachbarhauses. Vom Boden bis zum zerstörten Zwischengeschoss türmten sich Steine. Nur die Vorderseite und einige Zwischenwände standen noch. Der Efeu, der an der Fassade rankte, triefte und tropfte.
Es regnete wieder stärker, aber seine Fingerlupe wollte einfach nicht scharf stellen, weshalb er ein paar Schritte nach vorne ging und die Hand erneut zu einem Kreis formte. Es regnete ja wirklich direkt in ihr Zimmer!
Nun bemerkte er auch all die Nachbarn in der Straße. Der freundliche Doktor Vogt mit seinem Hund Ajax, die Frau von gegenüber mit ihren zwei kleinen Kindern, die alte Mutter von Nachbar Burger, die auf einen Stock gestützt durch den Regen lief. Und all die vielen anderen aus dem Fabrikviertel. Sie hatten Schaufeln in der Hand und zogen Leiterwagen mit Steinen hinter sich her. Gottfried musste in den Keller hinuntersteigen, wo sie vorübergehend wohnten. Dort fand er endlich die Mutter, die seinen Uniformrock sofort auf dem Tisch ausbreitete. Dora strich mechanisch über den Stoff, während sie unentwegt sprach. Wann er denn wieder Unterricht habe? Warum sie jetzt diesen Einsatz hätten und was sie dabei überhaupt genau machen sollten? Und warum das nicht Ältere übernehmen könnten, die Großen?
Dass sie nicht sah, dass er inzwischen auch schon groß war! Sie fragte ihn wie ein kleines Kind, was denn sein Ausschlag mache. Gottfried nahm eines der Streichmesser und schabte Linien in die Staubschicht des Tisches. Überall lagen Kartoffeln. Ob das Kartoffelstaub oder Schuttstaub war, ließ sich gar nicht so genau sagen. Als er mit der Messerspitze ins Holz bohrte, nahm ihm die Mutter das Messer weg und legte es neben seinen schweren Gürtel, an dem alles hing, was sie für den Einsatz in der kommenden Nacht brauchen würden. Blecker hatte nicht verraten, was genau auf sie zukäme. Gottfried war aber schon sehr gespannt.
»Schau doch nicht so böse«, sagte die Mutter. »Wir wollen es uns doch jetzt schön machen.«
Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm. »Wie war die Zugfahrt? Und hast du schon an deinem Geschenk für Rudolf gearbeitet? Bekommt er den Stempel noch? Du weißt doch, wie sehr er sich darüber freuen würde.«
Der Stempel für Rudolf! Er hatte ihn sogar dabei. Dazu sein Schnitzmesser von Großpapa mit dem perlmuttfarbenen Griff. Eigentlich war es ein Jagdmesser. Er kramte es aus einer der vielen Gürteltaschen heraus und machte sich gleich an die Arbeit. Die Lilie, die er hineinschnitzen wollte, war bislang nur ein Gedanke. Mit der Spitze bohrte er als Erstes ihren Mittelpunkt. Hier kreuzten sich alle Linien.
Dora sah ungeduldig zu. »Wie kann man nur so ungeschickt sein«, wiederholte sie ständig. Er solle mit weniger Druck arbeiten, das Messerchen führen, nicht stoßen!
Dann nahm sie ihm beides, das Messer und das Holzstück, aus der Hand. »So wird das nichts.«
Wie gut sie arbeitete! Bald war die Lilie zu erkennen. Aber Gottfried fühlte sich schlecht. Rudolf würde doch mit einem Blick sehen, dass Gottfried den Stempel gar nicht selbst geschnitzt hatte.
»Einreiben!«, sagte die Mutter, während sie weiterschnitzte. In letzter Zeit sah sie immer aus wie eine Arbeiterin, ein Tuch um die Haare, das sie unter dem Kinn zugeknotet hatte, die Wolljacke dunkel von Regen und Dreck. Sie deutete auf die Salbe für seine eingerissenen Hände. Sie hatten nun beide etwas zu tun. Dann war ihre kleine Pause zu Ende, und sie gingen nach draußen, um dort mit anzupacken.
Schade, dass Rudolf nicht hier war. Er würde Gottfried in der Uniform sehen, wie er Steine aufhob, in den Leiterwagen einlud und wegtransportierte.
Am Abend wollte die Mutter Gottfried gar nicht gehen lassen. Aber er musste doch zu seinem Einsatz!
Sie warteten die Nacht ab. Der Fabrikhof leerte sich, und die ausgewählten Jungmannen, zu denen auch Gottfried gehörte, kauerten mit ihren Seilen neben Bau 10.
Jorgatz puffte Gottfried in die Seite und fragte: »Bist zu Hause gewesen? Warst ja schon früh weg.«
Gottfried antwortete nicht, aber er meinte noch zu hören, wie Jorgatz das Wort »Muttersöhnchen« fallen ließ. Er wusste nicht, was er von ihm halten sollte. Einmal hatte er gesehen, wie er einem anderen Jungen einen Geldschein aus der Schultasche stahl. Er hatte es aber für sich behalten. Vielleicht bekam Jorgatz nichts zugesteckt, so wie er.
Alle warteten still ab, bis es dunkel genug war für ihren geplanten Einsatz. Die Sirenen schwiegen. Niemand war unterwegs. Ausgangssperre. Es war eine ungewöhnlich stille Nacht. Hier und da ein Donnergrollen. Aber der Regen hatte aufgehört. Die Leiter, die aufs Dach hinaufführte, war zum Glück schon getrocknet, sonst hätten sie den Einsatz sicher abgeblasen.
Der Reihe nach stiegen sie jetzt nach oben, kleine, graue Pimpfe, die wegen der Neuverordnung im Ausnahmezustand trotz ihres jungen Jahrgangs für besondere Dienste herangezogen wurden, wendige Jungen, die auf dem Dach Seile spannen sollten als Stiegen für Beobachterposten.
Bau 10 war nicht sehr hoch. Aber hoch genug, dass man sich oben festhalten musste. Sie bildeten Zweierteams. Gottfried mit Jorgatz zusammen. Beim Aufstieg landete Jorgatz’ Schuh fast in seinem Gesicht, weil der die Sprosse nicht traf. Er hielt sich fester und spürte die Blase in der schwieligen Hand. Auf dem Dach angekommen arbeiteten sie wortlos. Der Zugführer lobte sie sogar. Einmal sah Gottfried von der Arbeit auf. Das weitläufige Gelände sah wunderschön aus, so dunkel, so geheimnisvoll. Dann achtete er wieder auf seine Aufgabe und spannte das nächste Seil.
So hangelten sie sich immer weiter das Dach hinauf. Jorgatz immer neben ihm. Seil verlegen und Seil spannen und befestigen, jeder ein Ende, möglichst zeitgleich. Sie waren gut zu zweit. Dann setzte der Regen wieder ein. Die Seile rutschten ihnen aus der Hand. Eines fiel sogar über die Dachkante hinab, und der Zugleiter schimpfte über solches Ungeschick. Er mahnte sie zur Eile, und sie arbeiteten schneller, während es stärker regnete, alles wurde nass und glitschig.
Die Sirene kam wie aus dem Nichts, mit ihrem vertrauten, lang gezogenen Ton, der mahnend die erkletterte Tonhöhe hielt und dann wieder abfiel, von Neuem ansetzte und wieder von Neuem. Von ferne jenseits der Fabrikgebäude merkten sie zunehmend Geschäftigkeit. Gottfried dachte an die Mutter, umklammerte das Seil und guckte, was die anderen um ihn herum machten. Sie hatten alle die Köpfe gehoben Richtung Zugleiter, der schrie.
»Absteigen! Absteigen! Sofort runter vom Dach!«
Warum war der so laut? Es war noch nichts geschehen, der Alarm konnte auch Fehlalarm sein, wie so oft. Aber Gottfried gehorchte und drängte sich an Jorgatz, der sich in Bewegung setzte.
»Jetzt nur keine Hektik!«, schrie der Zugleiter. »Langsam, konzentriert euch!«
Aber das letzte Wort war schon nicht mehr zu hören, der Knall zerriss die Nacht, ein einziger Knall, danach fiepte es in Gottfrieds Ohren, die Explosion schleuderte ihn weg, wohin, er wusste es nicht, er hatte Jorgatz verloren, er klemmte fest, wie lange eigentlich schon, wo waren die anderen, genau an der Dachkante über dem Abgrund hing er und atmete schwer, aber er atmete. Er befreite sich wie in Trance, sehr, sehr langsam, und stieg vom Dach.
Jorgatz und fünf weitere Jungen waren auf der Stelle tot.
In der Anstalt wurde nach dem Vorfall eine Totenwache abgehalten. Die Namen der Verstorbenen kamen in die Schulnachrichten und wurden am Fahnenmast verlesen. Der Name Jorgatz war nicht dabei, denn Gottfried hatte ihn ja nur für sich nach seinem Buch so getauft.
Danach wurde der Unterricht wiederaufgenommen, als wäre weiter nichts geschehen. Die Abschlussprüfungen standen an, und wer sich nicht hinsetzte und paukte, fiel durch, weshalb sich Gottfried besonders anstrengte. Über den Matheaufgaben wackelte sein Kopf. Er hielt ihn zwischen den Händen wie in einer Zitronenpresse und drückte ihn an den Schläfen fest zusammen. Manchmal zog sich der schneidende Schmerz im Kopf dadurch zurück.
Immer öfter hatten sie jetzt Totenwachen am Fahnenmast. Unter den Gefallenen auf den verlesenen Listen waren inzwischen vermehrt ältere Schüler der Anstalt. Kannte Gottfried einen davon, dann pochte sein Herz, als wäre ihm sein Doppelgänger begegnet.
Bald kam für Gottfried der nächste große Schlag. Ohne jede Erklärung ließen ihn die Eltern an einem der Heimfahrwochenenden einfach nicht mehr in die Anstalt zurückfahren. Sie hatten ihn stattdessen an der Schule in Kirchheimbolanden angemeldet, die Rudolf bereits besuchte.
Gottfried sollte also seinen Zug nicht mehr sehen? Sicher hatten sie ihn von sich aus dort aussortiert, weil er eben doch nur Durchschnitt war, nicht Bester. Und die Mutter, die doch so sehr gewollt hatte, dass dort ein »echter Mann« aus ihm gemacht werde, war nun sicher auch ganz enttäuscht von ihm. Sie verheimlichte es ihm nur, damit es ihm leichter fiele, sich von der Anstalt zu verabschieden. Er kam sich vor wie ein Verräter und ein Versager.
Wie sollte er Rudolf jetzt nur beweisen, dass man Großes von ihm erwartete?
Nachts suchte er in den Kellerräumen, in denen sie immer noch wohnten, nach seiner Uniform, weil er sie tagsüber nirgendwo finden konnte. Er hatte sich darin zuletzt viel größer und stärker gefühlt. Selbst als er Klaus Karer ständig zur Hand gehen sollte, ihm die Tasche tragen, einen Brief abgeben. Irgendwo musste diese Uniform doch noch sein!
Als er gerade wieder ins Bett schlüpfen wollte, hörte er die Eltern laut reden. Vati am lautesten. »Dora, wir müssen jetzt handeln«, hörte Gottfried einmal ganz deutlich, und mehrmals fiel das Wort »Castell«. Da wohnte doch Tante Maritz. Worüber stritten sie nur? Am nächsten Morgen knetete die Mutter ihre Hände, als könnte sie eine Lösung herauskneten.
Die neue Schule war ganz anders als die Napola und wurde von freundlichen Diakonissenschwestern geführt. Gottfried feilte sicherheitshalber trotzdem weiter an seinem undurchdringlichen Blick und übte seine neue Erwachsenenhandschrift. Vorbild war die Schrift seines Vaters. Der schrieb steil, schräg und eng; das wirkte zackig und bestimmt.
Das Schräge bekam Gottfried ganz gut hin. Aber nicht das Enge. Ein Wort besetzte oft eine ganze Linie in seinem neuen kleinen Tagebuch, das die Mutter ihm als Trost für den Schulwechsel geschenkt hatte. War er zu Hause, an den Wochenenden und in den Ferien, trug er manchmal etwas ein.
27.8.44
Es war furchtbar langweilig. Wir hatten dauernd Alarm. Es gab auch Kuchen. Vati besiegte mich im Schach. Ich Rudolf in Mühle. In der Nacht hatten wir einen Angriff.
28.8.44
Es war langweilig, heiß und blöd. Es war Voralarm. Wir mussten unsere Festung abräumen. Auf dem Holzplatz übten die Panzer. Dann mussten wir Sprudel holen. Es gab aber keinen mehr. Dann musste ich lernen.
Schließlich hatten die Eltern eine Entscheidung getroffen. Gottfried schrieb es sofort auf:
29.8.1944
Ich erfuhr von Mutti, dass wir morgen nach Castell zu Tante Maritz fahren, um dort in die Schule zu gehen. Wir freuten uns sehr und mussten viel packen. Dann brachte ich Vati noch was aufs Büro.
Es war noch dunkel, als die Familie Schubert Ludwigshafen verließ. Jemand berührte Gottfrieds Schulter. Er war ein Bauchschläfer. Er drehte den Kopf zur anderen Seite und blinzelte gegen die Wand.
»Es geht los«, hörte er die Mutter sagen, die schon anfing, im Zimmer zu hantieren. Rudolf war aufgestanden und quengelte: »Darf ich meine Eisenbahn mitnehmen, bitte?«
Dora leuchtete mit der Taschenlampe durchs Zimmer und mahnte zur Eile. Das Mühlespiel durften sie mitnehmen. Aber die Eisenbahn nicht und auch nicht die Kuckucksuhr. Seit sie bei einem nächtlichen Angriff von der Wand gefallen war, machte der Kuckuck darin keinen Mucks mehr. Gottfried liebte die Uhr trotzdem. Die Mutter schüttelte streng den Kopf, als sie sah, wie er das holzkantige Ding mit den schweren, kleinen Zapfenpendeln in den Rucksack zu stopfen versuchte.
Draußen war es noch düsterer als drinnen. Die Eltern gingen vorweg, den Leiterwagen zwischen sich. Die Nacht war lau und ohne Voralarm, sodass sie gut vorankamen. Das eintönige Gerumpel der Holzräder machte Gottfried wieder schläfrig. Seine Beine liefen mechanisch. Warum nur fing sein Kopf jetzt wieder zu wackeln an? Er versuchte, an die sommerlichen Felder von Castell zu denken, weißblonde Ähren, in die er sich oft mit dem gleichaltrigen Karl hineinfallen ließ. August, Tante Maritz’ anderer Sohn, nahm ihn oft huckepack. Dort also wollten sie hin. Wegen der vielen Fliegerangriffe hier.
Den ersten Halt machten sie auf der Notbrücke über den Rhein, jenseits der Raffinerien. Unter ihnen floss das Wasser träge dahin.
»Bald sind wir am Main«, sagte der Vater.
Ein zweites Mal pausierten sie in Mannheim, weil die Mutter einen Vogel hatte zwitschern hören. Sie suchten den Baum ab, konnten ihn aber nirgends entdecken. Nur der Vater machte nicht mit. Gottfried bemerkte, dass er statt hinauf zum Baum zu ihnen sah.
Dora sah es auch. Sie fühlte einen Stich in der Brust, als Max seine kleine Taschenuhr aus dem Anzug nahm. Sie wusste ganz genau, dass er dabei wie jedes Mal nach der Naht in der Innentasche tastete. Dort war einmal ein Loch gewesen, das ein Bombensplitter noch in der ersten Ludwigshafener Wohnung gemacht hatte. Vier Jahre war das jetzt her, 1940, kurz nach Kriegsbeginn. Ein schwacher Angriff, nur wenige Bomben, ganz anders als jetzt. Die Wohnung war da zum Glück schon fast leer geräumt gewesen, weil sie schon im Haus in der Wöhlerstraße wohnen durften. Nur Max’ Anzüge hingen noch im Schrank. Ein Bombensplitter durchbohrte sie alle auf einmal. Eines dieser Löcher hatte sie geflickt. Die Naht hinterließ eine dicke Wulst. Max hatte ihr einmal anvertraut, dass sie für ihn Glück bedeute. Immer also, wenn er seine Uhr hervorholte, tastete er nach dem Glück.
Gottfried fühlte sich wie ein Abenteurer und war hellwach, als sie um kurz vor fünf Uhr in der Früh den Mannheimer Bahnhof erreichten. In Heidelberg verabschiedeten sie den Vater. Zum Trost reichte ihnen die Mutter im Zug nach Osterburken Brote mit Leberwurst. Gottfried musste würgen, als er hineinbiss! Rudolf sah es und biss erst gar nicht hinein. Dora prüfte die Brote. Die Leberwurst hatte einen Stich. Ihre Mägen knurrten also weiter. Den ekligen Geschmack würde Gottfried nie mehr vergessen.
»Jetzt bist du der Mann im Haus.« Die Abschiedsworte des Vaters klangen noch in Gottfrieds Ohr, als sie in Osterburken umstiegen, wo der Anschlusszug lange nicht kam.
Tante Maritz erwartete sie schon am Bahnhof von Feuerbach. »Gut, dass ihr jetzt hier seid.« Sie schloss die Kinder wie alte Vertraute ganz fest in die Arme, so herzlich und ehrlich, wie Gottfried es von Dora nicht kannte.
Ihr Quartier, ein Zimmer, lag in der Nähe des Schlosses von Castell. Zum Glück waren gerade Ferien und August und Karl unternehmungslustig. Wenn sie von ihren Streifzügen durch die Weizenfelder zurückkamen, umarmte neuerdings auch die Mutter sie so fest, dass sie kaum mehr Luft bekamen. »Wir müssen zusammenhalten«, sagte sie mehr als einmal am Tag. Sie schickte sie oft zum Kohleholen und zum Bäcker, bei dem meist alles ausverkauft war. Wenn sie dort aber lange genug warteten, steckte er ihnen doch noch ein altes Brot zu, und sie stritten sich darum, wer es der Mutter überreichen durfte.
Eines Abends schlossen Karl und Gottfried unter der großen Erle jenseits des herrschaftlichen Verwaltergebäudes Blutsbrüderschaft.
»Freundschaft«, sagte Karl.
»Für immer«, sagte Gottfried.
Abends dachte er, dass er das erste Mal einen richtigen Freund hatte, nicht nur einen Kameraden wie in Weierhof. Karl war lustig. Nie war es auf diesem langen Schulweg mit Rad und Bahn bis nach Kitzingen langweilig. Er unterhielt sie mit dem Spiel »Ich sehe was, was du nicht siehst« und hatte immer die ungewöhnlichsten Objekte, die niemand erriet. Einmal war es die rot geschriebene Adresse auf einem Brief in der Hand einer Frau im Zug. Ein anderes Mal das Abzeichen auf einem Uniformrock. Gottfried durfte in Karls Klasse und saß sogar neben ihm.
Der Winter kam und machte alles weiß. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Die Mütter strickten ihnen Wollmützen und waren gottfroh, wenn sie abends alle aus Kitzingen zurück waren.
Silvester 44/45 versammelten sie sich vor dem Rundfunkapparat bei Tante Maritz und der Familie ihres Bruders. Erst die Luftlagemeldungen. Dann der Gongschlag mit der aktuellen Zeit und das Neueste über die Aktivitäten des Feindes. »Rasch kamen überall die deutschen Gegenschläge«, sagte der Sprecher und zählte die Verluste beim Feind auf. »Die deutschen Truppen waren überall bereit.«
Die Erwachsenen glaubten nicht mehr an das verheißene Glück der Stunde, vor allem der Onkel sprach nur von der Niederlage. Gottfried war verwirrt und dachte wieder an die Napola und das, was Huber ihnen immer gesagt hatte. Würde Huber den Onkel so reden hören, würde er ihm ganz schön was in die Trompete husten! So wie einmal, als Jorgatz die Kraft der deutschen Truppen bezweifelt hatte. Alle wurden sie dafür bestraft und stundenlang durch den Wald gescheucht bei Eiseskälte, durch Frost und Matsch, mit Liegestützen, auf und ab, geheult hatten sie, aber Hubers Stimme trieb sie an: »Überwinden müsst ihr euch! Überwinden!« So viel Kraft hätte sich Gottfried im Leben nicht zugetraut. Danach war die Klasse ein Herz und eine Seele. Keiner verpfiff mehr einen anderen. Für Huber würde Gottfried auch jetzt noch durchs Feuer gehen. Er vermisste die vielen Rituale. Hier in Castell war das Leben nicht so geordnet. Er dachte wieder an Jorgatz, der tot war. Jorgatz war ein Held.
»Sie haben Heidelberg bislang verschont«, kommentierte der Onkel, der sogar Fremdsender hörte. »Eine Universitätsstadt. Hoffen wir also, dass sie auch Würzburg verschonen.«
Seit Jahresanfang 1945 aber gab es nun immer häufiger Alarm, manchmal zweimal am Tag, meist abends nach zwanzig Uhr. Kitzingen wäre ein attraktives Ziel. Es hatte die Luftkriegsschule und Rüstungsbetriebe. Bei Luftwarnung wurden die Schüler aus der Umgebung nach Hause geschickt. Auswärtige wie die Casteller gingen mit dem Lehrer in die Schutzräume, wo sie manchmal weiter Unterricht machten. Einmal war es so voll und unruhig, dass der Lehrer Gottfried die Aufgabe erteilte, für Ruhe zu sorgen. Das war eine große Ehre. Gottfried wusste noch ein Lied aus der alten Schule, das sie gemeinsam sangen, bis alles vorbei war.
Am 23. Februar 1945 schien in Kitzingen die Sonne. Ein Vorbote des Frühlings. Der Unterricht hatte längst begonnen – ohne Gottfried. Er war wie immer früh aufgestanden und hatte mit Karl losradeln wollen. Aber sein Fahrrad hatte einen Platten. Die Ventilkappe war abgedreht und lag am Boden. Karls Rad war weg. Er musste ihm mit Absicht die Luft aus dem Reifen gelassen haben. Das passte zu ihm. Gottfried würde sich rächen, das war jedenfalls schon klar. Nun sollte Karl aber erst mal sehen, wie schnell Gottfried das Problem löste. Den Zug in Feuerbach würde er wohl auf jeden Fall verpassen.
So kam es, dass Gottfried an diesem Freitag erst viel später aufbrach. Unterwegs traf er August, Karls großen Bruder. August war schon siebzehn und schwarzhaarig, so wie sein verstorbener Vater Frantek, nach dem Gottfried ihn schon oft hatte fragen wollen. Aber etwas hielt ihn immer wieder davon ab. August hatte schon eine tiefe Stimme und hielt sich auf dem Weg zur Bahn an Gottfrieds Schulter fest, um sich von ihm ziehen zu lassen, bis es Gottfried endlich gelang, ihn abzuschütteln. Sie waren so in ihre Gespräche vertieft, dass sie die Aufklärer nicht sahen, die schon eine ganze Weile lang über ihren Köpfen das Gebiet auskundschafteten.
Die silbernen Vögel der Luftwaffe erwischten sie zur frühen Mittagszeit bei Etwashausen nahe des Flugplatzes. Das eintönige Brummen hoch über ihnen kannten sie. Aber diesmal war es anders, bedrohlicher, ein nicht enden wollender Ton, und der blaue Himmel mit schwarzen Geschwadern übersät. Sie sahen drüben den weißen Streifen, jenseits der Brücke, direkt über dem Zentrum der Stadt. Sie sahen den Pulk, der dorthin schoss, und wie es unter den Metallbäuchen glitzerte, als die ersten Sprengbomben herausfielen. »Viermotorige!« August schrie, so schnell hatte ihn Gottfried noch nie vom Fahrrad springen sehen, er fuhr fast auf, sprang ab, ließ das Rad los, es fiel lautlos, geschluckt vom Lärm ringsum, und er warf sich neben August auf den sandigen Boden. Das eintönige Motorenbrummen. Es wollte nicht aufhören. Die Maschinen flogen vom Schwanberg her über sie hinweg. Und auch aus Süden kamen immer mehr, immer wieder, in Wellen mit Kurs auf Kitzingen, es nahm kein Ende. Dieses Summen und Brummen über ihren Köpfen und die Einschläge, sie krochen unter Gottfrieds Hände, die fest auf die Ohren drückten, und trotzdem drangen sie in seinen Kopf.
Etwas zog an seinen Armen, die alles gaben, die Gottfrieds Kopf zusammendrückten, August war da und zog und rief irgendwas. Es war vorbei, es war wirklich vorbei. Kein Brummen mehr zu hören.
»Komm!« August stand schon, hielt sein Rad. Gottfried kam hoch, fand sein Rad, richtete es auf und sah nach Kitzingen hinüber, die Beine wie Pudding, alles an ihm zitterte, aber es wurde besser, weil August einen Plan hatte, weil er sagte, was sie jetzt tun sollten. Brandwolken verdunkelten den Himmel. Sie wollten in die Altstadt unter den Wolken und in die Ritterstraße zur Schule.
Erst über die große Brücke. Hatte sie einen Treffer? Wie viel Zeit war vergangen? Wie lange hatten sie da auf dem Boden gelegen? Gottfried wusste es nicht, folgte August, versuchte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, ein bewegter Schatten, und wie sein Rad schlingerte, August fuhr schnell. Am Anfang ging es voran, aber bald nicht mehr, sie mussten absteigen, kurze Strecken laufen, dann konnten sie wieder ein Stück fahren. Irgendwann ließen sie die Räder einfach liegen und gingen zu Fuß. Menschen rannten ihnen entgegen, manche schlichen, zogen Leiterwagen mit Verletzten raus aus der Stadt und dem Rauch, die ganze Luft war davon voll, nahm ihnen den Atem, drang in sie ein. Sie gingen trotzdem weiter, zwei Gestalten, kalkweiß vom Staub, sie mussten doch zu Karl, dem Bruder und Freund, mussten zur Schule, zu den anderen, ihren Klassen, die doch sicher rechtzeitig im Schutzraum waren. Der Schutt oft haushoch, dass kein Durchkommen war, und Hilfeschreie von überall, dumpf aus dem Boden oder von ganz nah, sie müssten doch stehen bleiben, helfen, aber sie liefen einfach weiter, trauten sich nicht auf die heißen Schuttberge, liefen um sie herum. Riesige Bäume, die Gassen versperrten, umgeknickt, als wären sie dünn wie Streichhölzer. Flammen schlugen aus den Häusern. Menschen lagen auf dem Boden. Sie schienen zu schlafen, sah man nicht in ihre Gesichter. »Lisa! Lisa!«, rief eine Frau und fiel genau vor Gottfried hin, kam aber schnell wieder hoch, der Boden war zu heiß. »Lisa, Lisa!« Sie raufte sich die Haare, und Gottfried blieb stehen, starrte sie nur an, aber August zog ihn weiter und mit sich fort, die Schuhsohlen waren doch so heiß, alles anders und dazwischen das Nichts, wo vorher doch noch etwas gewesen war, ein Haus, ein Gebäude, die Schule, der Bahnhof, jetzt waren da ineinander verkeilte Güterwagen, Bombenkrater, in denen sie immer wieder Schutz suchten, loderndes Feuer und nachrutschendes Geröll, kaum ein Durchkommen war da durch die unkenntlich gemachte Stadt, zu Karl, wo war er, und wo überhaupt ihre Schule?
»Komm«, hörte er August, »mach schneller!« Es klang, als wüsste der ganz genau, wohin.
Kitzingen war Gottfried noch nie so groß vorgekommen, ein Höllenlabyrinth, und die Winde, jetzt kamen die Winde, überall Feuer, und auf einmal war da wieder eine Frau, eine mit ganz rußigem Gesicht, die nach ihm griff, ihn packte, ihn umdrehte. Ihr enttäuschter Blick ging ihm nicht aus dem Sinn, aber er musste weiter, August hinterher, mit dem Mund voller Staub, der Tag wie eine schwarze, ewige Nacht. Gottfried war erschöpft und atmete schwer. Ständig musste er husten. Er dachte daran, wie Karl ihm heute Morgen die Luft aus dem Rad gelassen hatte, sicher war es doch Karl gewesen, wer sonst? Gottfried sah ihn, wie er die Idee hatte, kurz entschlossen. Wie er sich hinkniete, das Ventil abschraubte und kicherte, als er an Gottfrieds verblüfftes Gesicht dachte. – Weiter, weiter, August hinterher. Nur blieb ihm doch fast die Luft weg. – Karl, wie er zum Freundschaftsbeweis das blutende Handgelenk auf seines gedrückt hatte. Gottfried bekam wieder Luft. Karl musste doch in der Schule sein, in ihrer Klasse, neben seinem eigenen leeren Platz. Die Klasse war doch untergekommen, alles war gut. Alles gut, gelt? Wie die Mutti immer sagte. Sie suchten und suchten. Aber Karl und die Klasse, sie fanden sie nicht.
ISA 2014
»Du warst zu Tode erschüttert und verstört, als du mit August um fünf Uhr endlich heimkamst.«
Mit August. Aber ohne Karl. Doras Worte hallten noch in meinem Kopf. Sie hatte sie Gottfried in ein Buch mit leeren Seiten geschrieben, das sie ihm zur Konfirmation geschenkt hatte und das er seither als Tagebuch benutzte. Ich hatte Gustav von diesem Tag im Leben meines Vaters erzählt. Über Nacht war draußen der erste Schnee gefallen. Hauchzart bedeckte er den Seegarten und die Ufersteine. Mittags kam die Sonne durch. Wir hatten zwei Stühle auf den Balkon gestellt und uns in Decken eingemummelt, jeder in der Hand eine Tasse heißes Wasser, und warteten darauf, dass die Sonne uns bald wärmen würde.
»Es muss furchtbar gewesen sein für Maritz, Karl zu verlieren«, sagte Gustav, der inzwischen alle Details kannte. Vor seinem Mund bildeten sich kleine Wölkchen. Er wirkte abgeschlagen und matt. Die Kälte trieb ihm Röte ins Gesicht.
»Und Dora«, sagte er, »wie sie den ganzen Tag wartet. Wie erleichtert sie gewesen sein muss! Und wie untröstlich wegen Maritz! Und dann auch noch wochenlang kein Lebenszeichen von Max.«
Ich hatte ihm erzählt, dass die drei schon mit Sack und Pack aufbruchbereit waren, als Max doch noch in letzter Minute in Castell auftauchte und sie nach Ludwigshafen zurückbegleitete. Fast hätten sie sich also verpasst.
»Was für Ängste sie ausgestanden haben musste«, sagte Gustav. »Wer weiß, wie sie das nach außen gezeigt hat.«
Dora und Gefühle zeigen? Sie war »das Gesetz«. Und wenn sie wie Max der Meinung gewesen war, dass ihr Erstgeborener in Castell »der Mann im Haus« sein sollte, dann setzte sie das gewiss auch durch. Was sie allerdings sicher mehr als für die Söhne wünschenswert zeigte, das war im abrupten Wechsel mit ihrer Härte ihr großes Bedürfnis nach Liebe. In meiner Interpretation schien sie die Söhne – ohne Absicht – zu instrumentalisieren. Auch später hatten die längst erwachsenen Söhne sie ständig anzurufen, sich dauernd nach ihr zu erkundigen. Weil Dora kein Maß kannte für Nähe und Distanz, blieb das Verhältnis dauerhaft schwierig. Wieder waren also – in diesen Zeiten aus Notwendigkeit? – durch die Erziehung zur Härte Beziehungen verwirkt, die menschlicher, herzlicher hätten sein können.
Und die Kinder?
»›Du bist jetzt der Mann im Haus‹«, sagte ich. »Das war Max’ Auftrag. Und das mit dreizehn!«
Ich dachte an Lennard, wie er mit dreizehn war, verspielt und großmäulig, eine lustige Mischung aus verschiedensten Ausprägungen der Adoleszenz, von denen sich manche zum Glück schnell wieder verloren. Unvorstellbar, wenn er in diesem Alter seinen besten Freund verloren hätte.
»Erwachsen sein musste Gottfried ja schon auf der Napola«, sagte Gustav.
Und auch Dora wollte ihn ganz schnell als »echten Mann« sehen, dachte ich, sprach es aber nicht laut aus. Stattdessen kamen mir plötzlich doch Worte meines Vaters in den Sinn, die ich lange vergessen hatte. Die Napola sei völlig unpolitisch gewesen, hatte er behauptet. Und angesprochen auf den körperlichen und geistigen Drill, fiel oft der unsägliche Satz, den ich schon von vielen seines Alters gehört hatte: »Geschadet hat’s mir nicht.« Unsere Generation wurde seiner Meinung nach verzärtelt. Die Erzieher hatten also ganze Arbeit geleistet. Und ich saß da und dachte über Traumata und Gehirnwäsche nach. Wäre das nicht eigentlich seine Aufgabe gewesen?
Ich brauchte mehr Decke, die ich um mich schlang.
»Das hat ihn überfordert. Vollkommen überfordert.« Gustav sprach so langsam und bedeutungsschwanger, als trüge er selbst einen schweren Rucksack. »Wer war Gottfried damals in Castell das Vorbild? Karls großer Bruder August vielleicht«, überlegte er. »Den Vater jedenfalls hat er wohl nicht so oft als ›Mann im Haus‹ erlebt.«
Wir beschlossen, dass Max Schubert vornehmlich wohl Versorger gewesen war. Sicher war er mit den Kindern auch wandern gewesen oder hatte sie auf Ausflüge mitgenommen. Aber in den schwierigsten Zeiten war er schlichtweg meist nicht da.
»Kein Wunder, dass euer Vater später auch nur der Versorger war«, sagte Gustav.
War er das? Gustav zog für meine Begriffe ziemlich übereilt seine Schlüsse aus allem. Immerhin aber machte er sich Gedanken. Und immerhin hatte ich zu erzählen begonnen. Wer erzählt, hat Verantwortung. Doch es galt auch das Umgekehrte: Wer nicht erzählt, hat Verantwortung.
Ich versuchte mich weiter in den jungen Gottfried hineinzuversetzen, merkte aber, wie ich mich dagegen wehrte, emotional zu tief einzusteigen. Ganz so, wie mein Vater sich ein Leben lang dagegen gewehrt hatte, diese schmerzlichen Erlebnisse überhaupt nur aufzurufen. Manchmal wusste ich nicht, was mir lieber war: die Blindheit meiner naiven Jahre oder die neuartigen Empfindungen von Wärme und Verständnis, die mit dem Erzählen kamen. Ganz allmählich trat ich aus dem sich lichtenden Sumpf, um ihn zu betrachten. Immer wieder öffneten sich Fenster, so wie jetzt, als ich meinen Vater in vielen Situationen sah. Vor Urlauben machte er das Auto stets penibel zurecht und packte es auf eine Weise, wie es umständlicher kaum ging. Sein zwanghaftes Verhalten zeigte sich hier am deutlichsten. Er ging stundenlang um den Wagen herum und bückte sich, um von allen Seiten darunterzuschauen. Dazu machte er ein so angestrengtes Gesicht, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. Ins Auto hineinzukommen war für uns eine der schwierigsten Prozeduren überhaupt gewesen. In der Fantasie meines Vaters ragten aus unseren kleinen Körpern wohl an die hundert Stäbe mit Spitzen, mit denen wir schon im Vorbeigehen den schönen Lack zerstörten. Wenn wir schließlich alle drei auf der Rückbank saßen, auf der kratzigen Wolldecke, die er zum Schutz der Sitzpolster aufgelegt hatte, ermahnte er uns pausenlos. Nicht mit den Knien in seine Rückenlehne stoßen. Nicht dauernd streiten. Und schon gar nicht die Stirn auf den Lehnen der Vordersitze ablegen. Fettfleckengefahr!
Kaum fuhren wir los, wurde dann geraucht, Kette und bei geschlossenen Fenstern. Immer Lord Extra, die weißen Schachteln mit der roten Schrift, die wir sammelten und zu Häuserkomplexen zusammenklebten. Es gab ja genug davon.
Kinder hatten bei meinem Vater keinen großen Stellenwert. Ihnen wurde positive Aufmerksamkeit nur dann geschenkt, wenn sie Leistung erbrachten. Waren sie einfach nur da, mit ihren Nöten, Ängsten, Bedürfnissen, dann störten sie, wurden gemaßregelt oder mit schnellen Lösungen abgespeist.
Auch als wir älter waren, änderte sich daran nur sehr wenig. Es war zwar kaum Konkretes, an das ich mich erinnern konnte, aber eine allgemein leider oft sehr angespannte Atmosphäre, in der wir wachsam darauf achteten, was wir sagten, damit harmlose Unterhaltungen nicht eskalierten. Manchmal band mein Vater seine Erziehungsmaßnahmen kreativ ein, was mich freilich ganz besonders auf die Palme brachte. Nach einem meiner Wochenendbesuche in der Zeit, als ich zum Studium bereits ausgezogen war, schrieb er mir eine Mail mit folgendem Inhalt:
Subject: Reise
Sehr geehrte Frau Schubert,
wir hoffen, Sie hatten eine angenehme Rückreise. Wir danken Ihnen für Ihren werten Besuch und wünschen, es hat Ihnen bei uns gefallen. Bitte beehren Sie uns bald wieder.
Ihr
Hotel-Restaurant Schubert
mit Autoverleih und Garten-Fitnesscenter
Essen und Gastfreundschaft waren für Familienmitglieder nicht selbstverständlich. Nun hatte ich es schwarz auf weiß.
»Ein Trauma«, unterbrach Gustav meinen Gedankenstrom, »wirkt nicht immer zerstörerisch.«
Ich zog meine Decke noch enger um mich und versuchte mich zu orientieren. Es war eisig geworden auf dem Balkon. Der See lag in kalter Pracht und tiefblau vor uns. Gustav neben mir wirkte momentweise wie ein Fremder. Dann fiel mir ein, wie nah wir uns in den letzten Wochen gekommen waren.
»Es ist eingekapselt. Aber man kann es umkreisen.«
Wovon sprach Gustav?
»In einer Ellipse.« Gustav ließ nicht locker. »Manchmal ist man ihm so nah, dass man es kaum erträgt. Manchmal so weit weg, dass es sich betrachten lässt.«
Ich musste nachfragen. Er antwortete mir wie einer gedankenverlorenen Schülerin, der er das Gleiche schon mehrmals erklärt hatte.
»Liebe Isa. Wo bist du?« Er rückte mit seinem Stuhl näher zu mir heran. »Du hast mir gerade von einem schrecklichen Kriegserlebnis erzählt, das dein Vater hatte, als er in der Pubertät war, also mitten in diesem verletzlichen Alter, wo man nicht weiß, wer man ist.«
Er sah mich eindringlich an, als wollte er keine Regung in meinem Gesicht verpassen. »Wenn in dieses Alter, wo alles innen Großbaustelle ist, so etwas unvorstellbar Schreckliches hineinschneidet – der beste Freund tot, die Bilder der zerstörten Stadt, die Ohnmacht, die Angst, die Hilflosigkeit –, dann hilft sich das überreizte, überforderte Gehirn damit, dass es das Erlebnis einfach verpackt.«
Gustav schnürte mit seinen dünnen Fingern ein imaginiertes Paket und zog fest zu. »So. Ganz fest. Niemand soll es je öffnen. Nennt man ›Trauma‹.«
So ein Besserwisser. »Die ganze Kriegsgeneration ist traumatisiert«, entgegnete ich kühl.
Gustav wühlte sich aus seiner Decke, zwickte mir freundschaftlich in die Wange und verschwand in seiner Wohnung.
Ich dachte an unsere winzige Küche zu Hause, wo die laute Dunstabzugshaube in meiner Erinnerung immerzu ratterte und wir bevorzugt auf dem Boden saßen, sodass meine Mutter, wollte sie an die Schublade mit den Töpfen und Pfannen, jedes Mal über uns drübersteigen musste.
Ich dachte an meinen Vater, der abends nach der Arbeit in diese dampfende Küche kam und sie kopfschüttelnd wieder verließ.
Ich fragte mich noch einmal, wo für ihn der Eingang in diese Familie gewesen war – die Familie, die er liebte und brauchte, die aber offensichtlich so ganz andere Werte hatte als er selbst; die »genusssüchtig« war statt pflichtbewusst; chaotisch statt geformt; vor allem wir Kinder, die wir auf dem Küchenboden lümmelten, statt mitzuhelfen.
Obwohl jung und nur so kurz auf einer Napola, entsprach mein Vater fast exakt dem Bild, das ich bei meinen Recherchen über Biografien ehemaliger Napola-Schüler in einer der Publikationen so beschrieben fand: »Dem ehemaligen Napolaner kann man nichts vormachen, er weiß, wie die Dinge laufen. Ihm liegt nichts daran, mit seiner Selbstkontrolle Toleranz vorzutäuschen, aber er erwärmt sich auch nicht an gleicher Gesinnung. Er ist seinen Weg gegangen, als hätten ihn seine Anstrengungen nichts gekostet. Glück hat er weder gehabt noch gebraucht. Er hat um seine Selbsterhaltung gekämpft, ohne Zweifel an sich selbst und ohne Vertrauen in seine Umwelt.«
Auch meinem zur Reflexion wenig neigenden Vater »machte man nichts vor«. Er wusste offenbar alles, und das sogar besser als Fachleute. Verbissen hielt er an seinen Meinungen fest, so sehr, dass es manchmal satirische Züge annahm. Hatten wir Fragen, die er nicht beantworten konnte, rief er gern aus: »Ich habe genug gelernt in meinem Leben!« Bis heute machte mich diese Erstickung von Neugier ratlos. Wovor hatte er Angst?
Sicherlich war es zu vereinfacht, seine Rigidität allein auf die Napola-Episode zu schieben. Vieles mehr spielte eine Rolle. Aber je mehr ich las, desto deutlicher sah ich zumindest Zusammenhänge. Irgendwo stand, die Napola-Erziehung wirke oft erst nachträglich, im Moment des realen Verlusts, wenn sie freiwillig angenommen werde. Das war ein interessanter Gedanke. Es hieße, dass der dort eingetrichterte Auftrag, »besser« zu sein, meinen Vater zeitlebens jagte, begleitet von der Angst zu versagen. »Schamangst« war das unglaublich doppeltonnige Wort, das Psychologen dafür erfanden. Sie lähmte meinen Vater noch in frühen Berufsjahren. Musste er eine Rede halten, zitterte sein Mund so sehr, dass er kaum sprechen konnte.
Gustav nahm wieder neben mir Platz, er fröstelte.
»Wollen wir reingehen?«
»Noch nicht.« Die Vorstellung, mich vom Stuhl zu erheben, glich der, mich von meinem Vater zu entfernen.
»Er hat fast nie davon gesprochen. Wie die Napola auf ihn gewirkt hatte. Was er über die eingehämmerte Ideologie dachte«, murmelte ich.
»Nichts«, vermutete Gustav, »er wird nichts darüber gedacht haben.« Er zeigte auf seine Ohren. »Da rein, da raus. Er war viel zu jung dafür.«
Zum ersten Mal kam mir die Idee, dass ich nur deshalb diese ganze Familiengeschichte erzählte, um sie meinem Vater zurückzuerzählen.
»Beim Waschen verlieren die Fäden ihre Orientierung«, hatte ich die große Übersetzerin Swetlana Geier sagen hören, während sie eine Strickdecke betrachtete und hier und dort in Form zog. Und auch beim Übersetzen, sagte sie, macht man erst Gewebe kaputt. Dann füllt man es aus.
Die Ruhe, die von ihr ausging, beeindruckte mich.
Auch ich war zu einer Art Übersetzerin geworden. Ich übersetzte meine Familiengeschichte und machte dabei Gewebe kaputt. Ich zerstörte die Vorstellungen, die ich anfänglich über alle hatte; über Dora, die ich mir gerne mondän und kreativ vorstellte; über meinen Vater, den ich so sah, wie es mir in den Kram passte.
Danach begann ich, auszufüllen: Dora mit den zuvor verborgenen Stellen ihres Charakters. Und auch mein Vater erhielt allmählich Profil.
Wer vor meinem inneren Auge immer noch kaum Kontur hatte, das war Doras Mann Max Schubert. Doch riesengroß tauchte er vor mir auf, als Gustav mir eines Tages einen dicken Umschlag brachte.
»Für dich. Wenn du etwas mehr über deinen Großvater wissen willst.«
»Meinen Großvater?«
»Max Schubert. Du hast mir auf der Wanderung im Hegau seinen Namen verraten. Schau mal rein.«
Völlig perplex öffnete ich den Umschlag und zog ein dickes Konvolut bedruckter Blätter heraus. Es handelte sich um »Akten des Öffentlichen Klägers bei der Spruchkammer in Neustadt/Haardt gegen Schubert, Max, Kaufmann, Gruppe IV, Mitläufer.«, abgestempelt am 6. Mai 1948, gezeichnet vom Landeskommissar für die politische Säuberung in Rheinland-Pfalz.
Ich staunte. »Woher hast du die?«
»Angefordert beim Landesarchiv Speyer«, sagte er. »War ganz einfach. Ich habe nur seinen Namen genannt und mich als Enkel ausgegeben.«
Das musste ich erst einmal verarbeiten.
»Es ist deine Akte, Isa«, sagte Gustav und schob die Unterlagen wieder in den Umschlag zurück. »Ich habe sie mir nicht angesehen.«
An diesem Tag suchte ich die Firmenfotografien heraus, auf denen Max Schubert, der 1959 starb, zu sehen war. Die Ähnlichkeit zu meinem Vater war unverkennbar. Beide waren relativ klein und trugen Brillen mit dicken Gläsern. Sie hatten die gleichen schmalen Lippen, denen man nie ansah, ob sie ironisch oder streng gezogen waren, und beide den gleichen dichten Oberlippenbart. Vermutlich ließen sich beide den Schnurrbart ebenso wie die Nasenhaare von ihren jeweiligen Ehefrauen mit der Nagelschere kürzen.
Max Schubert wirkte unscheinbar. Es gab Schwarz-Weiß-Fotografien von Betriebsausflügen, auf denen er Zigarre raucht. Es gab Innenaufnahmen von Firmenessen oder Schnappschüsse einer Einweihung auf einer Werft in den Fünfzigerjahren, auf welchen er zwischen anderen Mitarbeitern auf Holzplanken steht. Er trägt einen fast bodenlangen Mantel nach der Mode der Zeit, hält den Hut in der einen Hand, ein Sektglas in der anderen. Und schließlich gab es die großen Abzüge aus dem Veranstaltungshaus, dem sogenannten Feierabendhaus, das mit seinem großen Festsaal das Herz der Werksgemeinschaft war. Alle Männer haben ein weißes Einstecktüchlein im Jackett. Max ist auch hier sicher der Kleinste, das Haar schon grau, er lächelt und ist den anderen zugewandt, auf der Nase eine Brille, die mich wegen ihres durchsichtigen Randes an Brillen aus Chemiebaukästen erinnerte.
Das große Foto mit dem Hakenkreuz über der vielköpfigen Versammlung eröffnete prominent eine von Dora eigenhändig mit rot gemustertem Stoff bezogene Fotomappe, die Max Schuberts Arbeitsleben dokumentiert. Das Versammlungshaus ist für ein Firmenessen an langen, gedeckten Tafeln hergerichtet. Die Mitarbeiter nebst Gattinnen sitzen bereits. Sie drehen sich dem Fotografen zu, der etwas erhöht steht, vermutlich auf der Vortragsbühne. Sein Kameraobjektiv erfasst den großen Raum, die vier Deckenkronleuchter und die gleichfalls gut besetzte, ringsum verlaufende Galerie. In deren Mitte an der Balkonaußenseite ist das Hakenkreuzbanner angebracht. Gut sichtbar zwischen Köpfen oben und Köpfen unten.
Um mir ein Bild von »der Firma« zu machen, fuhr ich an einem der nächsten Tage nach Ludwigshafen in den Kern der Kurpfalz. Nach amerikanischem Vorbild hatte man etwas lieblos Hochstraßen über den Rhein gebaut. Das aufgebockte Straßengewirr ähnelte einem Riesenkraken. Vierzehn Luftangriffe hatte die Stadt im Krieg erlebt. Achtzig Prozent wurden zerstört. Der Wiederaufbau geschah vergleichsweise schnell. Anspruchslos, einfach und keineswegs schön. Heute versuchte die Stadt ihr Image aufzupolieren und nannte sich stolz »Ort der Vielfalt«.
Die BASF thronte gut sichtbar am Rhein. Sie »war« gewissermaßen Ludwigshafen und zeigte sich im Besucherzentrum von ihrer besten Seite. Man war stolz auf die frühen Sozialprogramme. Die Pflege der Kultur stand schon damals ganz oben im Programm. Es gab werkseigene Badehäuser zur Körperpflege der Arbeiter. Das Besucherzentrum war in einem solchen untergebracht. Ich schlenderte durch die Ausstellung und bestaunte die Exponate, während zeitgleich mit mir eine Schulklasse durchgeführt wurde, von welcher sich immer dieselben zwei, drei absentierten und pfeilschnell die Hand hoben, um die Fragen zu beantworten. Bruchstücke der Führung bekam ich mit, der Museumspädagoge erzählte fesselnd, und ich malte mir aus, wie Cleopatras Vasallen – in der grauen Vorzeit der BASF – Purpurschnecken oder Malachitsteine für ihre farbenprächtigen Gewänder gesammelt hatten. Dann kam »die Formel«, und alles Sammeln war hinfällig.
Stockwerk für Stockwerk schraubten wir uns nach oben, und der Museumspädagoge, ein temperamentvoller Mittdreißigjähriger, pries nach dem Entdeckergeist der Pionierjahre die kurzen Wege zwischen Rohstoff und Produkt sowie die Nachhaltigkeit der Zollstöcke der Marke Longlife. Sie bestanden aus dem Kunststoff Polyamid, einem biobasierten Rohstoff. Alles werde heute benutzt und wiederbenutzt. Schon Ludwigshafener Kindergartenkindern, behauptete er, sei der Spruch geläufig: »Alles auf der Welt hat der liebe Gott erfunden. Den Rest hat die BASF erfunden.«
Den Rest? – Ich kannte aus meiner Kindheit nur die silbernen und roten BASF-Kassetten und Klarsichtfolien, auf die der Schriftzug in den bekannten Hohlbuchstaben aufgeprägt war.
Ratlos stand ich vor der Vitrine mit den »geschlossenen Systemen«. Offenbar war die Firma neben der Herstellung von Dämmmaterialien auch für den Werkstoff von Windeln zuständig – »superabsorbent«!
Ich wusste, dass die Firma unter dem Namen der I.G. Farbenindustrie im Zweiten Weltkrieg bei Gaslieferungen des tödlichen Zyklon B eine grausame Rolle gespielt hatte; dass sie unter dem Namen BASF bereits im Ersten Weltkrieg an Giftgaseinsätzen beteiligt gewesen war. Doch diese Themen nahmen in der Ausstellung nur wenig Platz ein. Man plante allerdings gerade die Jubiläumsausstellung und war im Umbau. Präsentierte man deshalb nur eine Schrumpfversion der Firmengeschichte?
Zurück in der Wohnung nahm ich wieder die Akte zur Hand, die meinen Großvater als »Mitläufer« einstufte. Er hatte nicht zu den dreiundzwanzig in Nürnberg angeklagten I.G.-Farben-Mitarbeitern gehört und wurde zügig nach dem Krieg wieder eingesetzt, was nichts über seine politische Gesinnung aussagte. Dass es aber doch ein Spruchkammerverfahren gegen ihn gegeben hatte, war mir neu.
Über das Archiv der BASF holte ich Informationen über ihn ein. Er leitete in der fraglichen Zeit die Abteilung Verkehrswesen am Standort Ludwigshafen und war damit beauftragt gewesen, »den Verkehr der Werke Ludwigshafen und Ludwigshafen-Oppau zusammenzufassen, neu zu ordnen, die Arbeit reibungsloser und vor allem auch kostengünstiger zu gestalten«. – Und darüber hinaus? Er war leitender Angestellter eines Konzerns, der in Kooperation mit der SS das Konzentrationslager Buna-Monowitz bauen ließ, neun Kilometer östlich von Auschwitz, geplant als größtes chemisches Bauvorhaben Europas.
Von einer konkreten Verstrickung meines Großvaters in dieses Projekt wusste ich nichts. Ich hatte jetzt aber eine Akte, die seine Schuld maß, und geriet durch diese Akte auf einmal selbst in die Position, mir darüber ein Bild zu machen – anhand fünf eng beschriebener Schreibmaschinenseiten mit Antworten zu verschiedenen kritischen Punkten, verfasst aus der Ich-Perspektive. Fast also eine Verteidigungsrede, unterschrieben an einem Novembertag im Jahr 1947; im Anhang viele Max Schubert entlastende Briefe von Mitarbeitern, die oft »unaufgefordert« seinen Charakter lobten und sein Eintreten für sie schilderten. Diese Briefe klangen persönlich. Einer schrieb, er empfinde es gar als »Unterlassungssünde«, würde er sich in diesem speziellen Fall nicht zu Wort melden. Er selbst musste 1938 das Land als Jude verlassen. Mit Max Schubert habe ihn das Geschäftliche verbunden. Jahrelang sei er aber bei ihm auch privat ein und aus gegangen. Nicht vergessen habe er Max Schuberts Antwort auf seine Frage, ob dieser den Kontakt nicht lieber wegen des Risikos einstellen wolle: »Bleiben Sie mir doch mit solchen Geschichten vom Halse. Ich weiß, mit wem ich es zu tun habe, und stehe dafür gerade, wenn man mich deswegen anzufeinden versuchen sollte.« Dieser Satz, falls so gefallen, wäre der einzige Satz, der mir vielleicht verriet, wie die grundsätzliche Haltung meines Großvaters gegenüber dem NS-Regime war.
Mir war klar, dass Urteile in Entnazifizierungsverfahren wenig Aussagekraft hatten, dass Akten dieser Art »Persilscheine« waren und den Betreffenden von jeder Schuld reinwaschen sollten. Ich wusste, dass sie mit Vertuschungstaktiken arbeiteten und alles in allem höchst fragwürdig waren. Trotzdem hatten die beigefügten Briefe und auch Max Schuberts eigener Argumentationsaufbau eine Sogwirkung auf mich, und meine erste Reaktion war Erleichterung. Ich erschrak über mich selbst, weil ich mich dabei beobachten konnte, wie ich den entlastenden Worten Glauben schenken wollte. Auch ich war korrumpier- und verführbar. Auch mir lag offenbar daran, die Familie zu schützen.
Andererseits kam ich mir beim Lesen vor, als würde ich einer Gehirnwäsche unterzogen, die mich davon abhielt, klar zu denken. Ich las »Oberschamführer« statt »Oberscharführer« und war erstaunt, wie erstklassig das innere Aufmerken funktionierte. Wieder war da dieses Gefühl, im Nebel über Sumpf zu laufen. Ich wollte festen Grund. Aber nichts war weniger griffig als diese Akte.
Sollte ich dieser Stimme überhaupt Raum geben?
Von der BASF-Historikerin des Archivs ließ ich mir erklären, wie es vermutlich zu dem Verfahren gekommen war. Wie alle Deutschen über achtzehn Jahre wurde Max Schubert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach dem »Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus« vom 5. März 1946 einer Beurteilung unterzogen und in eine der fünf Belastungskategorien eingestuft. Es gab bekanntlich die Gruppe eins der Hauptschuldigen. Ihnen folgten die Belasteten (Aktivisten), die Minderbelasteten (Bewährungsgruppe), die Mitläufer und als letzte und fünfte Einstufungsgruppe die sogenannten »Entlasteten«. Das waren Personen der vorstehenden Gruppen, die vor einer Spruchkammer nachweisen konnten, dass sie nicht schuldig waren. Aus der Akte schloss die Historikerin, dass Max Schubert vermutlich zunächst von der ZSK, der Zentralen Säuberungskommission, in die Gruppe zwei oder drei eingestuft worden war, also die Belasteten oder Minderbelasteten. Die Kommission entschied, ihn zum 31. Dezember 1947 zu pensionieren. Gründe dafür waren seine Mitgliedschaft in der NSDAP seit dem 1. Juli 1937 sowie seit Mitte 1934 seine Mitgliedschaft im Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK). Darüber hinaus war er Oberscharführer, Mitglied der Deutschen Arbeitsfront (DAF) sowie Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV). Schwer wog wohl außerdem, dass er seinen Sohn an einer Napola angemeldet hatte. Jedenfalls bezog er dazu der Firma gegenüber bereits Anfang September 1945 in einem Brief Stellung. Sein Fall wurde am 7. April 1948 verhandelt. Als sogenanntes »Sühnegeld« musste er vierhundert Reichsmark, umgerechnet vierzig Deutsche Mark an die Staatskasse zahlen und außerdem die Verfahrenskosten von 9,80 Deutsche Mark tragen.
Ich sah ihn das Finanzamt Ludwigshafen betreten, das zu der Zeit wegen der Kriegsschäden immer noch in einem Provisorium untergebracht war. Ich sah ihn am Kassenhäuschen die »Kostenrechnung in der Säuberungssache« vorlegen, sein Portemonnaie ziehen und zahlen. Weiter aber kam ich mit meiner Vorstellungskraft nicht. Es gelang mir nicht, mich in den Mann hineinzuversetzen, dem laut Stempel vom 3. August 1948 bescheinigt worden war, er habe als Mitläufer »keinen besonderen Einfluss auf andere ausgeübt« und niemanden »in politischer Hinsicht aktiviert«.
Keinen besonderen Einfluss? Auf niemanden? Wie dachte er, fühlte er, legte er sich seine Aufgaben zurecht? Was wusste er, und warum schickte er seinen Sohn auf eine Napola?
Auch die Historikerin fand aufgrund der vorliegenden Quellenlage die mir wichtigsten Fragen »nicht eindeutig beantwortbar«.
Ob er wirklich nur aus beruflichen Gründen Mitglied der Partei sowie Mitglied verschiedener anderer Organisationen war, wie er selbst in der Akte angab? – »Als Abteilungsleiter, der viel mit staatlichen Stellen zu tun hatte, hat die Parteimitgliedschaft eine berufliche Notwendigkeit bedeutet (wie auch immer er persönlich dazu gestanden haben mag).«
Wie viel Kenntnis er gehabt habe vom I.G.-Farben-Lager Auschwitz-Monowitz?
»Sein Tätigkeitsfeld war vermutlich schon weitgehend auf Ludwigshafen beschränkt, aber die Werke Ludwigshafen und Ludwigshafen-Oppau gehörten zu einem großen Konzern, und dadurch wird es auch Austausch zwischen den einzelnen Werken und Abteilungen innerhalb des Konzerns gegeben haben. Im Zuge dessen halte ich es schon für möglich, dass er Kenntnis davon gehabt hatte, dass in Auschwitz-Monowitz ein Werk für synthetischen Kautschuk (Buna) errichtet wurde und man dafür Zwangsarbeiter/KZ-Häftlinge einsetzte. Wie detailliert dieses Wissen allerdings war und was er persönlich darüber dachte, wissen wir nicht. Darüber können nur Ego-Dokumente wie Briefe und Tagebücher Auskunft geben.«
»Ego-Dokumente«? Ich besaß nur Urlaubspostkarten von ihm und ein paar freundliche Zeilen an die Söhne, die er den langen Briefen von Dora anfügte. Keine Zeile davon, dass die Firma, für die er arbeitete, schon seit Dezember 1939 den Standort bei Auschwitz prüfte; dass die Zusage der SS, Tausende Zwangsarbeiter von Auschwitz bereitzustellen, neben weiteren »günstigen« (!) Bedingungen (gute Wasserversorgung und die billige Rohstoffversorgung aus den enteigneten Kohlevorräten Oberschlesiens) die Planungen beschleunigten; dass ab 1941 dort der Bau der Chemiefabrik begann und 1942 das Konzentrationslager Buna-Monowitz entstand; dass durch die sogenannte I.G. Auschwitz bis zu vierzigtausend Menschen – die Zahlen variieren – ermordet wurden oder durch unmenschliche Arbeitsbedingungen, durch Hunger, Krankheit, willkürliche Erschießungen zu Tode kamen.
Kaum mehr erbrachte der ernüchternde Anruf im Archiv von Bayer, das gleichfalls nur unbedeutende Akten schickte: das trockene Protokoll eines Treffens der Verkehrskommission, bei dem auch Max Schubert anwesend gewesen war, sowie Auszüge aus »Signalbüchern« und »Fahrordnungen«. Viel belastendes Material sei vernichtet worden, sagte der Archivar. Lange Zeit habe die BASF nicht einmal ein Archiv geführt und »kein Bewusstsein für Geschichte« gezeigt. Es habe für Unternehmen lange keine Abgabepflicht gegeben. Max Schubert, mutmaßte er, hatte bei Kriegsbeginn einen »relativ normalen Job im Rahmen der Logistik« mit der Aufgabe, Rohstoffe von A nach B zu befördern, möglichst kostengünstig. Während des Krieges wurde das aufgrund der Mangelwirtschaft eher zur Improvisationsarbeit. Als Funktionsträger wird er »Wissen« gehabt haben. Wie viel, das sei nicht zu sagen. Zwangsarbeiter habe jeder jeden Tag auf dem Werksgelände sehen können. »Aber einen von Ihrem Großvater unterschriebenen Verkaufsschein für Zyklon B werden Sie nicht finden.«
Auch zur Napola-Frage fand ich nichts Konkretes. Hier antwortete Max Schubert am ausführlichsten. Im Laufe des Jahres 1943 habe sich sein Sohn der »aus den zunehmenden Luftangriffen ergebenden Nervenbeanspruchung« immer weniger »gewachsen« gezeigt, seine Frau sich aber noch nicht entschließen können, mit den Kindern die Stadt zu verlassen. Deshalb habe man sich darum bemüht, den Jungen »in einer ruhigen Gegend« unterzubringen. Beigefügt waren die Erklärung der Sekretärin, die bestätigte, wiederholt Internate angeschrieben zu haben, aber durchweg Absagen erhielt, weil diese Internate bereits durch evakuierte Kinder übervoll waren. Als die Nationalpolitische Erziehungsanstalt Weierhof am Donnersberg sich bereit erklärt habe, noch eine Anzahl Jungen aus luftgefährdeten Plätzen Unterkunft zu gewähren, hätten sie von dieser Gelegenheit ab September 1943 Gebrauch gemacht. Wohl habe er sich wegen des Namens der Schule beim Anstaltsleiter nach einem etwaigen Zusammenhang mit der NSDAP und deren Einrichtungen erkundigt. Es sei ihm daraufhin versichert worden, dass ein solcher Zusammenhang nicht bestehe. Max Schubert weiter: »Während es sich bei den von dem früheren ›Reichsorganisationsleiter‹ Dr. Ley geschaffenen Adolf-Hitler-Schulen sowie Ordensburgen um Parteischulen handele, unterstünden die NEFA lediglich dem für das allgemeine Schulwesen zuständigen Reichserziehungsminister. Sie stellten eine besondere Form von Heimschulen dar und unterschieden sich von diesen nur durch eine schärfere Auslese in Bezug auf die schulische Leistung mit starker Betonung der sportlichen Erziehung. Ich war hiernach nicht der Auffassung, dass es sich bei dem Weierhof um eine Parteischule handelte.«
Er erklärte in seinem Verfahren auch, warum er seinen Sohn von dieser Schule wieder heruntergenommen hatte: »Die Art des Schulbetriebs mit dem an die Kadettenanstalten erinnernden Drill unter starker Hervorhebung der Körperschulung veranlassten mich aber, bald nach einer anderen Unterbringungsmöglichkeit Ausschau zu halten.« Im Frühjahr 1944, schrieb er, wechselte mein Vater ins Protestantische Schwesternhaus Kirchheimbolanden, wo schon Gottfrieds jüngerer Bruder war.
»Die kurze Verweildauer des Jungen auf der Schule spricht dafür, dass der Schulbesuch eine ›Notlösung‹ war, damit er nicht mehr im immer stärker bombardierten Ludwigshafen zur Schule gehen musste, aber so ganz glasklar ist die Sache nicht«, schrieb die Historikerin des BASF-Archivs.
Ich schrieb zwei Historiker an, die sich explizit mit dem Weierhof befasst hatten. Ihre Antworten kamen prompt und waren deutlich. Zwar sei es tatsächlich so gewesen, dass die Napolas trotz fester Einzugsgebiete Schüler aus bombengefährdeten Gebieten aufnahmen. Aber es galt auch: »Wer 1943 sein Kind in eine Napola schickte, der musste wissen, auf was er sich da einlässt. Weierhof war vor 1933 von den Mennoniten beeinflusst, die sehr deutschnational waren. Die Gleichschaltung verlief hier also eher problemlos.«
Der andere Fachmann formulierte es noch deutlicher: »Das Gespräch zwischen dem SS-Offizier Karl Bertsch, von Frühjahr 1942 bis Frühjahr 1944 Leiter der Napola Weierhof, und Ihrem Großvater kann also nicht in der Weise stattgefunden haben, wie er es im Entnazifizierungsverfahren behauptete. Zudem war der Weierhof bereits seit 1936 eine NS-Eliteschule des Gaues Saarpfalz und damit ein Unikum in der gesamten Schullandschaft des Deutschen Reiches, in die die pfälzische Parteiprominenz, nicht nur Gauleiter Bürckel, ihre Söhne schickte. Das dürfte einem BASF-Direktor im nahen Ludwigshafen bekannt gewesen sein.«
Sie bestätigten mir, was ich darüber hinaus schon recherchiert hatte. Die Napolas waren Eliteschulen des NS-Staates. Anders als die Adolf-Hitler-Schulen und die Ordensburgen, waren sie keine Kaderanstalten für den Parteinachwuchs. Die sogenannten »Napola-Jungmannen« sollten später in den verschiedensten Bereichen des NS-Staates Führungspositionen übernehmen. Daher galt für sie prinzipiell freie Berufswahl. Doch sie unterstanden eben nicht nur dem Reichserziehungsministerium, sondern auch der eigens dafür geschaffenen Napola-Inspektion der SS in Berlin unter Leitung des SS-Obergruppenführers August Heißmeyer, der sich regelmäßig auch auf dem Donnersberg blicken ließ. Mit Kriegsbeginn und je länger der Krieg dauerte, diktierte die SS also immer mehr den Unterricht an der Napola.
Aus dem Erinnerungsprotokoll eines ehemaligen Napola-Schülers, der mit Geburtsjahrgang 1930 ein Jahr älter war als mein Vater, erfuhr ich weitere Details zur Anstalt auf dem Donnersberg. Um aufgenommen zu werden, mussten die Schüler ein Auswahlverfahren absolvieren. Es dauerte jeweils eine ganze Woche. Fachliche und sportliche Eignung sowie soziales Verhalten wurden geprüft. Auch Mutproben wie das Springen vom Drei-Meter-Brett ins Schwimmbecken gehörten dazu. Bei manchen dieser »Ausleselehrgänge« waren Referenten des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS anwesend, um die »rassische« Eignung der Kandidaten zu überprüfen. Per Brief wurden die Eltern anschließend über die Aufnahme oder Ablehnung informiert.
Als Heimschule organisiert, war Heimweh unter den »Jungmannen« stark verbreitet. Alle sechs Wochen war ein »Heimfahrtag« erlaubt. Gefragt, ob er und seine »Kameraden« so etwas wie Elitebewusstsein gehabt hatten, antwortete er: »Insofern als wir überzeugt waren, dass von uns die Gesellschaft – gemeint war damit die nationalsozialistische Gesellschaft – besondere, über den Durchschnitt weit hinausgehende Leistungen erwarten würde. Elitebewusstsein also im Sinne von Verpflichtung zu besonderer Leistung, aber nicht im Sinne besonderer Anrechte in der Gesellschaft.«
Es gab gezielte Vorführungen von Kampfmotivationsfilmen oder Vorträge, wie sie der ältere Schüler in seinen Erinnerungen erwähnte und die vielleicht auch mein Vater erlebt hatte: »Nicht vergessen habe ich, wie uns, den Schülern des Vierten Zuges, an einem Abend Ende 1943 auszugsweise die Posener Rede Heinrich Himmlers vorgelesen wurde, in der Himmler vor einer Gruppe hoher SS-Offiziere offen von Vernichtung und Ausrottung der Juden gesprochen und hinzugefügt hatte, ›das durchgehalten zu haben, hat uns stark gemacht‹. Die volle Bedeutung dieser Worte haben wir Jugendliche wohl kaum erfasst. Aber wir ahnten, dass da Schlimmes geschehen sei, und nannten Himmler fortan ›Bluthund‹.«
Max Schuberts Erklärung, dass er den verstörten Gottfried in ruhigeres Gebiet bringen wollte, wirkte schlüssig auf mich. Dass es aber eine nationalsozialistische Eliteschule war, von deren ideologischer Ausrichtung er hat wissen müssen, warf Fragen auf. Nahm er Gottfried wirklich nur wegen der Nervenbeanspruchung nach der relativ kurzen Zeit eines Dreivierteljahres von dort wieder herunter? Oder weil er 1944 die Niederlage absehen konnte und begriff, dass Tatsachen wie der Besuch einer Napola später dessen Biografie brandmarken würden? War es eine Mischung aus beidem? Was wusste Dora, und wie dachte sie darüber?
Je mehr ich recherchierte, desto unüberschaubarer wurde alles. Der Konzern war einfach zu groß und die Aussagen bei den Nürnberger Prozessen lügenhaft und lückenhaft. Die meisten der Hauptverantwortlichen kamen ungeschoren davon und besetzten später wichtige Ämter. Und auch heute wurde die Wahrheit immer noch vertuscht und verzerrt.
Mein Großvater war als Mitarbeiter dieses Konzerns Teil eines verbrecherischen Systems gewesen und somit Täter. Das war unserem Familiengedächtnis in aller Deutlichkeit hinzuzufügen.
Aber noch viel dringlicher war es, die Erinnerung wachzuhalten an das, was geschehen war.
An einem der nächsten Tage wachte ich früh auf. Der schmale Streifen neben mir, wo Gustav auf meiner Matratze gelegen hatte, war leer. Ich zog mich an, ging die Treppe hinunter und nach draußen. Es war noch dunkel, die Straßen schlafruhig und leer. Bis zum oberen Dorfwald waren es zwanzig Gehminuten. Als ich das Feld verlassen hatte, umschlossen mich auf der Anhöhe die Bäume. Die eben zu Ende gehende Nacht verwandelte sich in Schleier, die die Sicht erschwerten. Der Frühmorgenwald duftete moosig und moderig, als hingen Tau und Schneckenschleim an den unsichtbaren Luftpartikeln. Der Geruch von Nebel war leicht zu verwechseln mit dem Waldgeruch, aber doch ein deutlich anderer Duft, den man nur wahrnahm, weil man eingeschränkt sah. Die kühle Luft tat gut. Die Hände in den Manteltaschen ging ich zügig die vertraute Runde, die ich mir in den letzten Wochen zu eigen gemacht hatte. Der Nebel wich mit jedem Schritt. Ich hatte Dora und auch Max aus den Familienanekdoten und Hohlräumen herausgelöst, so weit es mir möglich war. Immer noch ein Rätsel aber war mir mein eigener Vater. Ein Mann, der in Urlauben keine Kirche ausließ; dessen Lieblingssendung im Radio die gleichzeitige Übertragung vieler Glocken verschiedener Kirchen war; der in seiner Brieftasche neben dem Foto seiner Frau nicht nur alte Aufnahmen seiner Kinder mit sich trug, sondern immer auch eine seiner Mutter.
Was suchte er in den vielen Kirchen? Was genau war es, das ihn so sehr an seine Mutter band?
Ich passierte einige große Holzstapel, die von den letzten Waldarbeiten liegen geblieben waren. Die neonroten Markierungen auf den frischen Holzflächen leuchteten in der Morgendämmerung. Der Mond war gerade noch zu erkennen, und als ich auf eine Lichtung trat, sah ich eine Weile lang gebannt zu, wie er hinter langsam vorbeiziehenden kohlschwarzen Wolken aufschien und schließlich ganz im diffusen Licht verschwand. Der Weg führte mich jetzt wieder nahe dem Feld zurück, das ich anfangs verlassen hatte. Die Schafherde, die dort stand, war mir vorhin verborgen geblieben. Einzelne helle Flecken bewegten sich so langsam, dass ich zum ersten Mal begriff, warum sie immer wieder Wölfen zum Opfer fielen.
Als hinter der nächsten Wegbiegung ein Mann hervortrat, stutzte ich, weil ich hier so früh mit niemandem rechnete. Doch dann erkannte ich Gustav an dem schlendernden Gang, mit dem er sich forsch auf mich zubewegte. Sein Gesicht war in der Kapuze verborgen, die er sich weit über den Kopf gezogen hatte. Zum Zeichen hob er die Hand und winkte mir zu.
»Hier bist du!«, sagte ich.
»Ich wollte dich nicht wecken«, sagte er.
Wir standen einander gegenüber, zwei eingemummelte Gestalten, und musterten uns erfreut.
»Bin sonst früher unterwegs«, sagte er. »Ich warte auf Tiere.« Er hakte sich bei mir ein und zog mich den Weg weiter in die Richtung, in der ich unterwegs war und aus der er gekommen war. Überall raschelte und knackte es, und ich fragte mich, welche Größe das Tier, auf das Gustav wartete, wohl hatte. Im Waldinneren, dort, wo es einen kleinen Teich gab, stieg wieder leichter Nebel auf. Es würde ein feuchtkalter Novembertag bleiben, den man mit viel Tee würde aufgießen müssen.
Bald hatten wir die Weide mit den Schafen erreicht. Sie standen oder lagen herum. Manche grasten. Viele Lämmer waren darunter. Sie galoppierten ein paar Meter zu den Eutern ihrer Mütter und saugten genüsslich. Eine Gruppe zermalmte das letzte Kleegras des Jahres.
Gustav blieb stehen und blickte auf das Weideland. Jetzt bemerkte auch ich, dass dort eine Stelle anders aussah als die übrige Fläche. Die Schafe umkreisten sie ratlos. Mal näherte sich eines der Schafe der Stelle und graste drum herum. Dann ging es wieder zu den anderen. Die meisten aber kümmerten sich nicht um den offenbar tabuisierten Fleck, auf dem einer ihrer Artgenossen auf der Seite lag. Erst schien es so, als bewegte es sich noch oder schliefe. Doch je länger wir hinschauten, desto erkennbarer war, dass dieses Schaf keineswegs nur schlief. Ein paar Wollflocken lagen um das tote Schaf herum. Eine große, rote Wunde klaffte in unsere Richtung.
Der Wolf war offenbar nicht das Tier gewesen, auf das Gustav an diesem Morgen gewartet hatte – obwohl er diese Spezies sehr mochte. Warm geworden vom schnellen Laufen und Reden hatten wir unsere Mäntel geöffnet. Immer weniger spürten wir von der Kälte, bis wir endlich wieder vor unseren Haustüren standen. Oben in meiner Wohnung kochte ich uns Tee.
»Canis lupus«, dozierte Gustav in meine Küche hinein. »War hier ewig nicht mehr anzutreffen.« Und nach einer kurzen Pause: »Wir müssen das gerissene Schaf melden.«
Gustavs Faszination für die scheuen Fluchttiere, die derzeit bei uns Fuß fassten und Schäfern ein Dorn im Auge waren, entlud sich in anregenden Vorträgen, in die er gleich noch die große Politik hineinpackte. Ich machte uns Frühstück aus gekochten Haferflocken, Obst und Zimt und dachte an den Wolf, den Dora als kleines Mädchen hinter der Zugfensterscheibe gesehen hatte; der Wolf, den sie oft gezeichnet hatte und der ihr zeigte, wie man elegant ging.
»Ich kann mir jetzt schon die Diskussion im Gemeinderat vorstellen«, sagte Gustav. »Die einen, die den Wolf am liebsten gleich wieder vertreiben wollen. Und die anderen, die nach Lösungen suchen, weil sie für Artenvielfalt sind.«
Wir sprachen darüber, wie solche Vorfälle instrumentalisiert wurden und dass vermutlich bald rechte Strömungen das Wolfsthema nutzen würden, um ihre unsägliche Abschottungspropaganda damit zu würzen. Beklemmend deutlich wurde mir während unseres Gesprächs, dass auch wir in einer Zeit lebten, in der es politisch, wie in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, schnell kippen konnte.
Am nächsten Tag hatte ich Geburtstag, Gustav aber nichts davon erzählt. Ich schlief extra allein bei mir und wurde von Lennard geweckt. Die Verbindung war zu schlecht, sein Gesicht im Skype-Bildschirm immer wieder eingefroren, aber meistens lachend, er wirkte zufrieden, das Auslandssemester machte ihm Spaß. Clara simste Glückwünsche, sie könne erst abends sprechen. Meine Mutter rief an, eine meiner Schwestern und die Freundin, die mir die Wohnung vermietet hatte und froh war, dass ich sie noch weiter nutzen wollte. Dann ging ich auf den Markt, um mir Trauben zu kaufen, dazu ein Stück Käse. Beides wollte ich abends feierlich allein verspeisen. Der Käsemann strahlte, als er mich sah, obwohl ich selten etwas bei ihm kaufte. »Sie kenn ich!«, sagte er, während er mir ein großes Stück französischen Hartkäse absäbelte. »Sie gucken immer so traurig!« Ich lächelte und nickte, während ich auf einen anderen Käse zeigte und so tat, als verstünde ich ihn nicht richtig. Stumm zahlte ich und lächelte weiter, und er strahlte mich weiter an und wünschte mir einen schönen Tag, als wüsste er, dass ich heute Geburtstag hatte.
Als ich auf der Brücke ankam, die über den kleinen Bach neben meiner Straße führte, erstarrte ich. Von hier aus konnte ich bereits den Eingangsbereich des Hauses sehen. Zwei Männer standen da und unterhielten sich. Der eine war Gustav. Der andere, ich war mir fast sicher, war Paul. Ich versteckte mich reflexartig hinter einer Hecke und lief von dort weiter zum Schilf am Ufer. Ganz erschrocken setzte ich mich auf die kalten, nassen Steine. Gustav und Paul, das gehörte nicht zusammen. Der eine hatte mit dem anderen doch gar nichts zu tun! Ich verharrte und futterte alle Trauben, bis mir zu kalt war und ich zum Haus zurückschlich.
Niemand mehr vor der Tür. Ich klingelte bei Gustav, der mir durchrief, er könne gerade nicht, aber der Paketbote habe versucht, ein Päckchen bei mir abzugeben, netter Mann übrigens, ein neuer offenbar. Er habe das Päckchen hinter die Mülltonne gelegt. Konnte ich mich so getäuscht haben? Erleichtert ging ich nachschauen und fand ein Paket von Paul. Er hatte es ja gar nicht sein können, fiel mir auf der Treppe nach oben ein. Clara hatte gesagt, dass er gerade auf Konzerttour war, die Provinz, die jährlich bespielt wurde. Erst wollte ich das Päckchen ignorieren. Dann sah ich ein, dass das vollkommen albern war, und packte es aus.
Paul hatte sich besonders viel Mühe gegeben. Weißes Seidenpapier strahlte mir entgegen. Ich strich darüber und fühlte etwas Hartes. Als ich es aufschlug, fand ich ein kleines Stück Holz, umwickelt von einer Konzertkarte. – Nein: Es waren zwei Konzertkarten, eine ganz alte von dem Abend, als wir uns kennenlernten, Paul hatte sie offenbar bis heute aufgehoben, und eine weitere für ein Konzert kurz nach Weihnachten in der Zeit zwischen den Jahren: Sophie Hunger, eine Sängerin, die ich sehr mochte. Unter allem lag ein zusammengefalteter Brief. Als ich das rindenlose Holzstück in die Hand nahm, ausgewaschen von Wasser, sehr viel Wasser, so hell war es, erkannte ich es. Wir hatten es aus einem unserer Urlaube in Holland mitgebracht. Wir hatten uns damit zum Spaß oft beworfen und einem dieser angespülten Holzstücke zur Würdigung unserer Beziehung einen kleinen Altar direkt über unserem Bett gebaut, auf dem es dann jahrelang lag, bis ich es zwischen Umzügen verloren glaubte. Aber hier war es. Paul hatte es gut aufbewahrt.
Ermattet ließ ich alles sinken. Zusammenziehen. Heiraten. Kinder bekommen. Alles war sehr schnell gegangen. Dann kamen die Jahre, in denen wir nicht genug aufeinander aufgepasst hatten und uns zuletzt nur noch wie bei einem Wettkampf gegenseitig aufzählten, was wer für die Gemeinschaft »Familie« alles geleistet hatte.
In Sekundenschnelle spulte mein Gedächtnis jetzt Bilder von Paul an die Oberfläche. Wie er zuletzt das Joggen entdeckt hatte und nach jeder längeren Tour schweißtriefend und stolz vor mir stand; wie er mit Clara und Lennard, als sie klein waren, Stirn an Stirn tobte; wie er mir morgens beim Weggehen über das Haar strich. Heute war Donnerstag. Donnerstags gingen wir früher oft in die Stadtbibliothek Zeitungen lesen. Paul saß mir gegenüber, es war schön, nicht reden zu müssen und nur manchmal kurz hochzuschauen, um sich einander zu versichern. Ich hatte ihn überredet, weil damals gerade Siri Hustvedts Roman Die unsichtbare Frau in Fortsetzungen erschien und ich keine verpassen wollte. Bevor wir eintraten, las Paul die Zettel am Schwarzen Brett, nicht nur, weil er Nebenjobs suchte, sondern auch deshalb, weil ihm gefiel, wie die Menschen auf ihr Angebot oder ihr Bedürfnis aufmerksam machten. Manche fordernd, andere bescheiden, in schreienden Farben oder mit stumpfem Bleistift. »Alle Temperamente vertreten!«, freute er sich jedes Mal und stellte Statistiken auf, von denen er mir später erzählte.
Seitdem sah ich sie auch, diese vielen Zettel an Schwarzen Brettern, über die ich selbst Nele fand, mit der ich später eine Textagentur betrieb und noch heute gut befreundet war. In der Stadtbibliothek mussten wir uns die Zeitungen damals noch vom Bibliothekar aushändigen lassen. Mich kannte er, aber als Paul das erste Mal in abgewetzten Klamotten auftauchte – nie leistete er sich Neues –, da merkte ich, wie er ihn länger betrachtete, als nötig gewesen wäre. Dann fand er wohl etwas in Pauls Gesicht, das ihn versöhnte. Die nächsten Donnerstage begrüßte er immer Paul als Erstes. Wie herabsetzend das mir gegenüber war, fiel mir erst jetzt auf, als ich über ein Stück Holz weinte und mich zugleich dafür schämte, dass ich Paul und Gustav miteinander verglich wie Vieh auf einem Markt.
Pauls Brief war – neben einer Entschuldigung – ein Bekenntnis. Anders konnte ich es nicht nennen. Er war kurz und knapp und das Ergebnis einer Entscheidung, die Paul in den letzten Wochen getroffen haben musste. Eigentlich fehlten nur die Überschriften. Aber ich konnte sie mir dazudenken: »Suche« meine verloren gegangene Frau. »Biete« einen Neuanfang. Mit jedem Satz, den er mir zu Füßen legte, blieb er zugleich auf Augenhöhe mit mir. Allein dass ihm dieses Kunststück gelang, ließ mich gleich noch mehr weinen. Wir hatten unsere Beziehung vor die Wand gefahren. Und zwar nicht nur er, sondern wir beide. Nach Wochen der Distanz die Vision eines Neuanfangs zu entwickeln war nicht etwa das letzte Winken eines Weggehenden – sondern der mir zugewandte Paul, wie er früher einmal gewesen war. Paul, der mich im kältesten Winter der Achtzigerjahre in die Werkstatt eines mit ihm befreundeten Instrumentenbauers schob, weil er mir die geschnitzten Stege, Pinsel und Geigenkörper zeigen wollte; der mir Musik auflegte und mich extra damit allein ließ, weil er mein Urteil nicht beeinflussen wollte, und anschließend ganz dringend von mir wissen wollte, wie ich sie fand; der mir Verbesserungsvorschläge meiner Texte stets sanft vortrug, seit er einmal selbst erlebt hatte, wie mein Vater mich in Grund und Boden kritisierte.
Paul war einmal gewesen wie Gustav heute. Verwirrt fragte ich mich, wie wir so weit gekommen waren.
Nach diesem Tag studierte ich wieder und wieder die Bücher der anderen meiner Generation, als läge dort der Schlüssel zu all meinen Fragen. Ich las nach, wie sie schrieben, wie sie recherchierten, wie sie die Motive ihrer Großeltern zu ergründen versuchten und in die Zeit einbetteten; wie sie Opferbiografien oder Täterbiografien oder etwas dazwischen ermittelten; wie sie sich um die Familienschuld herumwanden oder umstandslos zu ihr bekannten und Fakten gegen Fiktion abwogen; wie sie die Stimme erhoben als sogenannte Kriegsenkel mit ganz eigenen Symptomen. Vermeidung, Angst vor Veränderung, das Gefühl, die Eltern emotional nicht erreichen zu können, Unlebendigkeit in der Herkunftsfamilie, der schwankende Boden, die eigene ständige Unentschiedenheit und schließlich die Angst, von der Geschichte, die sie erforschten, selbst verschlungen zu werden. Als sei gerade eine Bewegung losgetreten worden, gab es endlich dieses Wort. Die Beziehung zu der Elterngeneration der Kriegskinder wurde gesehen und beschrieben, je nach Familie anders.
Doch was war ihre Motivation, was trieb sie an? Schuld, Scham oder Erkenntnistrieb? Und wie erzählten sie? Was betonten sie? Vor allem: Was sparten sie aus?
Ich versuchte, sie in Gruppen zu fassen. Es gab die Besessenen, die Fakten türmten. Sie taten so, als diene jedes Detail der Wahrheitsfindung, und sicher war auch ich in Gefahr, mich in Details zu verlieren, unter denen der Schmerz der Opfer zu verschwinden drohte.
Es gab die Fantasten, die ihre Fiktionen trotz der offensichtlichen Fantasterei als Wahrheiten präsentierten, ohne dabei kenntlich zu machen, dass Erzählen und Erinnern immer schon Fälschung beinhaltete.
Es gab die Missionarischen, die Quellen zitierten, um anderen Recherchewerkzeuge an die Hand zu geben.
Es gab die hochmütigen Deuter, die so taten, als wäre alles, was geschehen war, »schicksalshaft« – und sich damit jeglicher Verantwortung entzogen.
Und zuletzt die, die einfach nur beschrieben und den Lesenden die Wurzel aus allem ziehen ließen. Ich war wohl von allem etwas – schon allein deshalb, weil meine Beweggründe, die mich veranlasst hatten, gerade jetzt so genau in die Vergangenheit zu sehen, verschwommener waren; weil sich das Erzählen durch meine angespannte Lebenssituation »ergab«; weil meine Mutter es mir auftrug; weil ich erst während des Erzählens bemerkte, wie wenig ich wusste. Dieser Zustand dauerte an. Immer noch wusste ich zu wenig. Immer noch misstraute ich meiner Stimme, als gehörte sie einer Fremden. Sie war wie transparenter Lack, der die Familienerzählungen überzog, sie zum Glänzen brachte und an den Stellen mit Kratzern darin matt wirken ließ.
Vielleicht stimmte es ja, was solchen Erzählern und Erzählerinnen wie mir oft genug vorgeworfen wurde: dass der Glaube, den Nebel lichten zu können, in Wirklichkeit eine Anmaßung war und dass wir uns die aufregenderen Leben unserer Großeltern und Eltern nur deshalb »liehen«, weil unser eigenes Dasein außer Beziehungsproblemen zu wenig hergab und wir Angst vor der Zukunft hatten. Vielleicht ging es aber eben auch erst dann mit unseren eigenen feststeckenden Beziehungen weiter, wenn wir die Beziehung zu unseren Eltern betrachteten und auch emotional erfassten, warum sie waren, wie sie waren.
Es passte also ganz gut, dass Gustav bei unserem nächsten Treffen scheinbar zusammenhangslos in meine Grübeleien hinein sagte: »Du hast mich ja mal gefragt, woran ich die ganze Zeit schreibe.«
Stimmt. Das hatte ich fast schon wieder vergessen.
»Ich sitze an einer Arbeit über gelingende Leben.«
»Gelingende Leben?« Das klang ja erst mal sehr allgemein.
»Es geht um die Frage: Wenn Menschen das Gleiche erleben – warum zerbricht der eine daran, warum der andere nicht?«
»Klingt spannend. Und warum hast du daraus so ein Geheimnis gemacht?«
»Kein Geheimnis. Ich wollte nur noch nicht so früh darüber sprechen. Es ist alles noch ganz unausgegoren und am Anfang.«
»Versuch’s trotzdem«, sagte ich.
»Es ist so: Ich vergleiche zwanzig Fälle. Zwanzig Lebensläufe, in denen der Krieg eine Rolle spielte.«
Gustav erzählte, was es zum Stichwort »gelingendes Leben« längst alles gab. Antike Philosophen hatten den verwandten Begriff der »Eudämonie« in die Welt gesetzt und damit »gelungene Lebensführung« gemeint: »Eu« hieß »gut«; »Dämonie« kam von »daimonion«, was so viel hieß wie »gute Gottheit« und die »warnende, innere Stimme« meinte, wenn ich Gustav richtig verstand. Inzwischen gab es zu diesem Thema alles, was zwischen Wohlfühlschulen, Ethik und Philosophie gedieh.
Alle aber verfolgten offenbar ein gemeinsames Ziel: Sie wollten herausfinden, was dazu führte, dass ein Mensch gewaltfrei mit anderen lebte und dabei auch noch mit sich selbst im Einklang war. So in etwa.
»Und wie genau definierst du selbst in deiner Studie ein ›gelingendes Leben‹?«, fragte ich.
»Das eben ist das Schwierigste«, gab Gustav zu. »Jeder scheint es ja für sich anders zu definieren. Aber es gibt doch ein paar Grundkonstanten, die alle nennen. Und eine der wichtigsten ist immer noch Bindung.«
»Also Beziehungen?«
»Genau. Jede Form von Beziehung ist gut. Besser in Beziehung sein als isoliert vor sich hin vegetieren.«
Dem war wohl umstandslos zuzustimmen. Gustavs Forschungsprojekt, für das ihm sogar Drittmittelgelder aus Universitätsetats gewährt wurden, war mit ähnlichen Studien vernetzt und hatte schon ein vorläufiges, nicht sehr überraschendes Ergebnis hervorgebracht:
Wer in schlimmen Zeiten wenigstens einen Menschen hatte, dem er sich verbunden fühlte, war später viel besser in der Lage, Konflikte verantwortungsvoll zu lösen. So ungefähr lautete die Quintessenz von Gustavs Vortrag.
»Und das müssen nicht unbedingt die Eltern sein«, ergänzte er wie absichtslos.
Ich dachte daran, wie mir Gustav am See einmal vor einer gefühlten halben Ewigkeit, die in Wirklichkeit nur wenige Monate zählte, selbst leuchtende Blätter gezeigt hatte. Wie er mich geprüft hatte wie eine Schülerin und dann erklärte, dass sie deshalb leuchten könnten, weil sie in ihrem Inneren Moleküle bildeten, die sich mit anderen Molekülen verbanden.
Also: Leuchten durch Bindung.
Aber hatte er nicht auch gesagt, dass sie beim Hervorbringen dieses wunderbaren Leuchtens zugleich ihr eigenes Sterben einleiteten?
»Gab es eigentlich für deinen Vater jemand anderen als die Eltern oder den Bruder?«, fragte Gustav, und ich verlor meinen Gedanken übers Leuchten beim Sterben leider wieder aus dem Blick. Schon länger hatte ich auch Paul und mein Entscheidungsproblem aus dem Blick verloren. Sollte ich zu ihm zurückgehen? Gustav von ihm erzählen? Paul von Gustav erzählen? Hierbleiben?
Es fiel mir tatsächlich etwas über meinen Vater ein, von dem meine Mutter mir manchmal erzählt hatte.
»Er hatte Doktor Vogt«, sagte ich zu Gustav.
»Wen?«
»Doktor Vogt. – Einen Nachbarn, der sich um ihn kümmerte.«
»Dann erzähl«, sagte Gustav und machte es sich bequem.
Nach Kriegsende waren die Schulen noch lange geschlossen. Gottfried wurde in der Lehrlingswerkstatt der väterlichen Firma bei den Schlossern und Schreinern untergebracht. Kurz vor Weihnachten 1945 nahm ihn die alte Schule im französisch besetzten Ludwigshafen wieder auf – doch nur bis Januar 1946. Mit einem neuen Schreiben der Militärregierung wurde ein älterer Runderlass, nach welchem die Schulleiter über die Aufnahme von ehemaligen Napola-Schülern entscheiden durften, hinfällig. Ab jetzt waren Schüler und Schülerinnen auszuschließen, die höhere Ränge in der Hitlerjugend innegehabt hatten, die Funktionen ausgeübt hatten wie Jungstammführer oder Jungmädel-Ringführer, die eine der ehemaligen Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, Adolf-Hitler-Schulen oder andere Parteischulen besucht hatten. Anträge auf erneute Zulassung waren von den Erziehungsberechtigten der Schulleitung vorzulegen und mit Stellungnahme der Lehrerkonferenz an die Militärregierung Baden zur Entscheidung weiterzugeben.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl für ihn war, von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Schule gehen zu dürfen, als er gerade dabei war, dem neuen Frieden zu trauen. Er hatte im Jungvolk mitzumarschieren und sich zu begeistern fürs vorgeschriebene »Große«. Nach 1945 zählte nichts mehr davon. Er hatte zu dem Heer derjenigen gehört, die man heute im Rückblick die »Umerzogenen« nannte. Wem fühlte er sich verpflichtet?
Die Schulen durchforsteten die Lehrpläne. In Mathematik waren »alle Aufgaben aus dem Bereiche des Heeres, der Kriegsmarine und der Luftwaffe zu streichen«. In Musik trat an die Stelle der Kriegs- und Parteilieder das alte Volkslied. Das Fach Geschichte blieb lange unbesetzt und, falls doch auf dem Stundenplan, nur Bruchwerk. Alles darin hatte sich auf die Betrachtung des Altertums zu beschränken. »Dabei sollen die Probleme, die noch keine wissenschaftliche Lösung gefunden haben, insbesondere die Rassenfrage, keinerlei Berücksichtigung finden«, zitierte eine Publikation der Schule meines Vaters aus alten Anordnungen aus dem Jahre 1945.
Als er nach Monaten Zwangsschulpause im Zuge der allgemeinen Jugendamnestie seine früheren Klassenkameraden wiedersah, jeder mit unterschiedlicher Vergangenheit, durfte er endlich auch wieder lernen – konnte es aber nicht. Einerseits also das befreiende Gefühl, erstmals »bewusst ohne Zwang in die Schule zu gehen«, wie er notierte, andererseits die großen Konzentrationsschwierigkeiten: »Träume und fantasiere den ganzen Tag.« Er drohte sich darin zu verlieren. Der Junge auf den alten Schwarz-Weiß-Fotografien sieht ernst aus, die Lippen schmal, der Blick nervös oder provokativ muffig. Er galt als labil, überdreht, anmaßend. Als die Eltern bemerkten, wie es um ihn stand, organisierten sie für ihn Privatstunden bei dem philosophisch bewanderten Lehrer und Nachbarn Vogt. Sein Unterricht war eine als Philosophieunterricht getarnte Psychotherapie.
GOTTFRIED 1947
Doktor Vogt war ein stiller Mann mit Hornbrille und magerem Gesicht, der die Eigenart hatte, den Kopf zu senken, wenn er mit jemandem sprach. Doch sobald er die Türschwelle übertreten, die Dame des Hauses begrüßt hatte und mit Gottfried im Erkerzimmer am Tisch saß, verwandelte er sich in einen Lehrer mit pädagogischem Feingefühl, der seinen neuen Zögling bald im Griff hatte.
Es war Sommer 1947, Lehrmittel waren rar, Schulbücher oft nur lose geheftet. Vogt begann deshalb die erste Stunde mit einem Gedankenexperiment, während sein Hund Ajax, den er Gottfried zuliebe mitgebracht hatte, in einer Ecke des Zimmers Platz nahm. Noch mal zurechtruckeln. Die Pfoten von sich strecken. Schon war der Hund im Land mit den vielen Katzen.
»Nehmen wir einmal an, wir schliefen«, begann Vogt. Seine Stimme hatte auf Gottfried eine geradezu betörende, seine permanent anwesende Nervosität dimmende Wirkung. Bleiern und schwer war sie. Und doch von kristallener Klarheit.
»Und weiter?« Lange hielt der Sechzehnjährige Stille nicht aus. Es sollte gesprochen werden, wovon auch immer, es war wie Musik.
»Wo sind wir, wenn wir schlafen?« Vogt räusperte sich.
Das Bett konnte er wohl kaum meinen. Gottfried wollte ja antworten, wollte mitdenken und mitreden und wie versprochen die Pforten der Philosophie aufstoßen. Aber er wusste beim besten Willen nicht, worauf sein neuer Lehrer hinauswollte.
»Im Schlaf sehen wir Dinge, die am Morgen, wenn wir wach werden, verschwunden sind.« Zur Demonstration hielt Vogt einen Radierer hoch, der ihnen nebst Zeichenpapier und Stiften bereitgelegt worden war.
»Sichtbar«, sagte Vogt und zeigte sein Objekt zwischen Zeigefinger und Daumen. – »Unsichtbar«, sagte er und ließ den Radiergummi in seiner Faust verschwinden.
Gottfried folgte mit dem Blick, schien aber nicht überzeugt. Er war doch kein Kind mehr. Der Zauberer mit der magischen Stimme musste sich schon etwas mehr einfallen lassen.
Da hörte ihn Gottfried auf einmal lachen. Einfach so lachen. So laut, dass selbst der Hund von seinem Lager aufschaute. Lachte er ihn etwa aus? Hatte er etwas falsch gemacht?
Aber nein. Der neue Lehrer hatte sich nur an Gottfrieds Interesse erfreut. Er klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und beruhigte sich selbst, und mit einer Handbewegung beschwichtigte er auch seinen Hund. Der Schlaf und das Exempel mit dem Radiergummi wurden zum Sprungbrett in einen theoretisch hoch anspruchsvollen Vortrag über das Unterbewusste. Doktor Vogts Mund umspielten bisweilen ironische Fältchen, wenn er vom Kosmos sprach, vom freien Fall und wie alles mit allem zusammenhing. Dass er aber das, was er sagte, für wichtig hielt, das sah man seinen Händen an, die ständig in Bewegung waren, Forscherhände eines ruhelosen Denkers, immer noch von erstaunlicher Gelenkigkeit, obwohl er sicherlich bald so alt war wie Gottfrieds Vater.
»Und so kannst du darauf vertrauen, dass alles seinen Gang nimmt. Du musst gar nicht viel machen. Alles kommt von selbst«, schloss Vogt diese erste Philosophiestunde, die in Absprache mit den besorgten Eltern anberaumt worden war. Gottfried Schubert sollte der Schwermut entrissen werden. Und dem Übermut. Beides spürte Vogt, selbst kinderlos, als gefährlichen Zündstoff im Raum, alle die Male, die er jetzt und künftig mit Gottfried zusammenkam. Er fühlte sich dabei oft an sich selbst erinnert.
»Schreib ein Gedicht, junger Herr. Das nächste Mal möchte ich es gerne hören.«
Solcherart waren seine Ermunterungen, die er klug zu untermauern wusste.
»Planeten im Kreislauf des Kosmos benötigen Spannung«, erklärte er. »Ganz so, wie wir es am Modell besprochen haben.«
Er kritzelte noch ein paar weitere Himmelskörper aufs Papier.
Gottfried holte einmal tief Luft, bevor er wiederholte, was er eben gelernt hatte: »Und alles funktioniert über Ausdehnung. Sonst gibt es keine Spannung.«
»Wohl gesprochen, junger Mann.« Mit diesen Worten pflegte Vogt seine Besuche zu beenden. Er pfiff seinen Hund Ajax wach und verabschiedete sich mit einer kleinen Hausaufgabe, an welcher Gottfried noch in den Abendstunden saß. Bis zur nächsten Stunde hatte er das mit Bleistift Vorgeschriebene mit der Schreibmaschine in eine ordentliche Form gebracht.
Die ersten Wochen unter Doktor Vogts Einfluss schienen tatsächlich zunächst Gemütsbesserung herbeizuführen. Gottfried wirkte aufgeräumter und gelassener. Wenn sein kleiner Bruder ihn ärgerte, sah er darüber hinweg und ließ ihn stehen. Der neue Gedankenstoff brannte unablässig hinter seiner Stirn und fand Eingang in seine Tagesnotizen:
Geburtstag –; erstes Gedicht. – Bisher seit kurzer Zeit Philosophie mit Doktor Vogt. Habe mich erkannt. Kann nur Schriftsteller werden. Vertraue fest auf das Es in mir, bin nur Empfänger und für das Es begnadet. Entdeckung der Stationen der Seele. – Erste Schrift zur Gesellschaft. Zimmerumtrieb. – Musik, Musik. – Geht etwas.
Seinen Mitschülern allerdings wurde Gottfried immer mehr zu einem Rätsel. Der Junge mit dem arroganten Blick, der niemals lächelte – das war nicht mehr ihr »Chef«, der Klassensprecher der früheren 1a, die als einzige Klasse auf der ganzen Schule gleich stolze drei davon besaß: Gottfried, seinen Stellvertreter und einen Stellvertreter vom Stellvertreter des Klassensprechers. Oft hatte Gottfried früher als Klassensprecher vom Studienprofessor eine saftige Ohrfeige einstecken müssen, weil er die zu spät gekommenen Schüler nicht ins Klassenbuch eingetragen hatte.
Doch wie hatte er sich seitdem verändert. Jetzt sah man den mageren Mitschüler in den Schulpausen mit glasigem Blick abseits sitzen, den Louis Marchand auf den Knien, das Lehrbuch der französischen Sprache, die mit den Besatzern das Englische als erste Fremdsprache abgelöst hatte. Gottfried kämpfte mit dem Fach, das mangels Fachkundigerer der damit völlig überforderte evangelische Religionslehrer zu geben hatte. Der sprach jedes französische Wort erst mal deutsch aus und dann so, wie er sich vorstellte, dass das Französische wohl klang. Der Kopf schwirrte Gottfried, sodass er das Lehrbuch oft entmutigt wieder zuklappte, während seine Freunde Papierkugeln in der Größe von Tischtennisbällen über eine gedachte Schnur schnippten – »Volleyball« en miniature.
Wieder zurück im Klassenraum klappte Gottfried seinen Sitz herunter. Inmitten der losgelassenen Bande setzte er sich und studierte wie so oft die Wand. Sie war mit Splitterspuren der Bomben übersät. Als erzählte ihm diese Klassenzimmerwand eine spannende Geschichte, betrachtete er aufmerksam deren Muster und Löcher. Keiner ahnte, dass Gottfried in Wahrheit intensiv in sich selbst hineinhorchte, ob da irgendetwas in ihm spross.
Physik und Chemie blieben ihm verschlossen. Dafür brillierte er mit einem Referat über Moby Dick. Die Klassenkameraden waren überrascht, als der notorische Schweiger selbstbewusst mit vor Melville-Anbetung zitternder Stimme ansetzte und dabei, falls er überhaupt von seinen Zetteln aufsah, vor allem Eva anschaute, die ganz vorne saß:
»Ich wähle den Rahmen eines Requiems, denn es ist eine Variation von Chören, die Hehres gerecht vertonen, ins Unendliche variieren, ihren Höhepunkt haben können, aber Fragment bleiben.«
Ja, Gottfried hätte noch viel, viel mehr sagen können zu Kapitän Ahab, dem Befehlshaber der Walfänger, den man bisweilen im Heckfenster sah, »über den erloschenen Wogen, gehetzt vom dumpfen Wolfsgeheul«, wie Gottfried sehr anschaulich und gestikulierend beschrieb. Es wurde immer stiller im Klassenraum. Keiner rührte sich mehr, als er schließlich Moby Dick selbst auftreten ließ, jenen »uralten, schneeweißen Wal, der als Einzelgänger durch furchtbar durchtriebene Gewalt und seine Unbesiegbarkeit bekannt war«.
Gottfried sprach zwar nicht frei, sondern las ab, etwas leiernd, was die Wirkung seines Vortrags schmälerte, aber er steigerte sich. Deutlich merkte man ihm die Leidenschaft an, die er für Thema und Charaktere aufbrachte.
»Ich sprach vom Taumel«, sagte er wenig bescheiden und erzählte, wie Kapitän Ahab durch das Anbringen einer Dublone an den Großmast als Belohnung für denjenigen, der den weißen Wal zuerst sah, die Mannschaft in wilden Rausch versetzte. Gleich einer gut gebauten Sinfonie gab es in Gottfrieds Moby-Dick-Referat Erkennungsmelodien und ein Hauptthema. Und schließlich ein spannendes Finale.
»Dann ist er da. Zerzaust, von Harpunen durchfurcht, fällt gurgelnd der Dampfstrahl über seinen weißen Buckel. – In ohnmächtiger Wut starrt ein alter Mann unter knackenden Planken des Walbootes in blitzendes Elfenbein eines furchtbaren Rachens. – Mit furchtbarer Ruhe umkreist der Wal den treibenden Alten. – Das vom Meerwasser zerfressene Gesicht ist nur noch Auge, der Körper unheimliche Leidenschaft. – Ein gewaltiger Wurf, von der vorschießenden Leine erdrosselt, wird Ahab ins Meer gezogen. – Mit furchtbarer Ruhe erdrückt der Wal, das ewig Böse, die »Pequod«. – Auf der Lifeboje treibt Ismael kreisend über dem in grünlicher Dämmerung schwankenden Schiff, von den Haien verachtet, auf unendlicher Fläche.«
Gottfried hatte während des gesamten Referats vor dem Katheder gestanden. Die Blätter in der linken Hand unterstrich er mit der rechten das Gesagte, ganz so, wie er es mit Doktor Vogt geübt hatte. Immer wieder war seine Hand ungeduldig durchs Haar gestrichen wegen einer störrischen Haarsträhne. Er hatte gut durchgehalten. Aber jetzt musste er sich kurz an Evas Tisch abstützen, als die Klasse verhalten zu klatschen begann und er seinen letzten Satz sagte: »Auf schwingt sich das Requiem übers ewige Blau, unendlich variierend, das Fragment bleibt ewig!«
Lachte denn niemand ihn aus? Keineswegs – aus Respekt vor der Lehrerin, der jungen Frau Bechter, die neuerdings auch Geschichte unterrichtete und unverhohlen für Gottfrieds Literaturbegeisterung schwärmte, wenngleich sie auch die Gefahr darin sah. Solche Gedankenhöhenflüge konnten auch Schaden anrichten! Ihrer Aufforderung, Gottfrieds Irrungen »ein Fass« zu geben, waren die familiäre Einlassung und der impulsgebende Unterricht schließlich zu verdanken. Dass Gottfried unter Vogts Einfluss nicht genesen, sondern in tiefere Gefahrenzonen gestoßen würde, konnten allerdings weder sie noch Gottfrieds Eltern ahnen.
Nach dem Referat sprach ihn nur einer an: Frieder, von dem er es sich am meisten gewünscht hatte, weil er trotz seiner Ungespreiztheit der geheime Mittelpunkt der Klasse schien. Doch Frieder schien kaum etwas von all dem verstanden zu haben, was Gottfried gesagt hatte. Nur das Schiff, die »Pequod«, dieser uralte, ungefügige Walfänger, verwittert und urwüchsig, den hatte er sich beim Zuhören drastisch ausgemalt.
»Einer alten Bierkufe ähnlich! Das gefiel mir gut! Dass du Ahabs Schiff mit einer Bierkufe verglichen hast!«
Hatte Frieder denn überhaupt nicht begriffen, was da auf dem Spiel stand? Den Genius Melvilles auch nur im Entferntesten gefühlt? Hatte er denn verstanden, dass Melville uns allen zurief: Jeder hat seine eigene Wahrheit! Die eine einzige Wahrheit, die gibt es nicht! Genau deshalb ließ er doch die Mannschaft so eifrig das Landschaftsbild interpretieren, das die Dublone zierte. Was für ein Einfall! So einfach – und doch so genial!
Aber Gottfried tat so, als wäre er geschmeichelt, und begleitete Frieder bis zum Schultor, wo ihre Wege sich bald trennen würden. Gottfried schulterte seine Ledertasche und zog sich die Jacke zu, um ihn zu überholen – einen schmächtigen Dunkelgelockten mit blauen Augen, einem lässigen Gang und langen Armen, die gemütlich mitschlackerten. Seit er einmal Gelbsucht gehabt hatte, war sein Spitzname in der Klasse »der Schut«.
Um diese Zeit herum, bald nach seinem sechzehnten Geburtstag, begann Gottfrieds Kinn zu jucken. Über die kommenden Wochen wuchs hier und dort ein Haar. Beschwingt notierte er eines Abends vorm Schlafengehen:
Zurück zu Realem: ein Fortschritt zur Männlichkeit: Heute habe ich meine erste Rasur vollzogen. Brauche es schon wieder.
Wenn sich Gottfried Schubert in diesen zwei Jahren verwirrender innerer wie äußerer Metamorphose morgens wie einen Fremden im Spiegel betrachtete – auch seine leider sehr unreine Haut –, sprach er leise das Credo, das ihm Doktor Vogt eingegeben hatte: Sapere aude! Erst leise, dann etwas lauter, und wenn keiner vor dem Bad wartete, so laut, als hätte er ein Publikum. »Wage, selbst zu denken!« Nach all den Jahren mit Exerzieren und Marschieren, auf den Lippen stets »ein Lied, drei, vier«, war dieser lateinische Imperativ eine unglaubliche Befreiung.
Man hätte Gottfried für einen religiösen Spinner halten können. Schut aber, mit dem er im neuen Jahr, als er siebzehn wurde, öfter am Nachmittag nach der Schule Spaziergänge durch den nahen Park unternahm, entging nicht der selbstzerstörerische Zug seines neuen Freundes. Nur machte er nie Aufhebens darum. Er ließ sich von Gottfrieds Bekenntnis zum Nihilismus erzählen und schwieg. Einmal aber klaute er ein Manuskript aus dessen Schultasche, während Gottfried es tatsächlich gewagt hatte, mit Eva, die ihnen ganz allein entgegengekommen war, ein Gespräch zu beginnen. Schut versteckte sich hinter einem Busch und zupfte einzelne Gräser aus dem Boden, während er an diesem milden Sommertag las:
Heißer Tag
Beugen muss sich alles vor dem Höheren, auch unser Planet. Beugen vor dem Größeren, beugen vor der Spenderin des Lebens, der ungeahnten Energie, die Idylle schafft, doch müde Leiber quält. Nichts unterbricht die klar gleißende Bahn der Strahlen durch die Urfarbe alles Sichtbaren, dargestellt durch unendliches Nichts …
Schut in seiner ledernen Kniehose, die eine Hand im Träger eingehakt, war aufgestanden und hatte angefangen, das Aufgeschriebene laut vorzutragen. Seine Rezitation war holperig. Dennoch waren einige Spaziergänger stehen geblieben und hörten belustigt zu.
Gottfried blieb der Mund offen stehen, als er die Katastrophe sah. Die eigene peinliche Stammelei, die er gerade eben vor Fräulein Eva drüben unter den Kastanien von sich gegeben hatte, saß ihm noch manifest in den Knochen. Dass sie eingeladen war, mit ihm den Schulball zu besuchen, hoffte er, kommuniziert zu haben. Sicher war er sich da aber nicht.
Jetzt sah er sein Innerstes nach außen gestülpt. Jedes wohlüberdachte Wort ausgerupft. Der Kamm schwoll ihm gewaltig. Und doch konnte er nicht richtig böse sein auf Schut, der mitten im Wort abbrach, als er Gottfried sah. Schuldbewusst hielt er ihm die Blätter hin.
»Gut«, lobte Schut verhalten. »Das klingt wie … – fällt mir gerade nicht ein – den wir in Deutsch hatten …«
»Hölderlin«, stieß Gottfried hervor und stopfte sein Werk zurück in die Schultasche. Obwohl es doch nur nach ihm, nach Gottfried klang. Den ganzen langen Weg brachte er kein Wort mehr heraus. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Schut spürte deutlich die Schmähung und sackte bei jedem Schritt etwas mehr in sich zusammen. Ein nächstes Treffen ließen sie diesmal offen. Am Abend dieses Maitages im Jahr 1948 notierte Gottfried das Folgende in sein Tagebuch:
War gestern im Schwetzinger Park gewesen, und zwar mit Schut. War wie berauscht, wurde aber durch Schut in einem gewissen Abstand gehalten, der mich natürlich immer trocken und nüchtern zurückzog. Er ist ein einfacher und wohltuend schlichter Kerl, der so überragend naiv ist, dass er überhaupt in nichts Schwierigkeiten hat, denn er wiegt sich in einer so großen Sicherheit, dass Abartiges gar nicht an ihn herantreten kann. Und trotzdem denkt er vollkommen selbstständig. Überraschend bricht oft das ewige Kind in ihm heraus, mitten in seinen tiefsten Augenblicken, und diesen Bemerkungen glaube ich folgende Tatsachen entnehmen zu können:
Er ist besessen von sittsamer Natürlichkeit, denn allein diese bewahrt ihm ein kindhaftes, aber doch reifes Denken. – Schut ist einer von diesen, die in unserer Klasse für Augenblicke interessant sind, und ich fühle mich immer nur momentan zu ihm hingezogen, weil er, wie restlos alle anderen, mir überhaupt nichts bieten kann. Sie denken alle nur in der ihnen gegebenen Form, das heißt, denken kann ich nie bei ihnen sagen, denn eine eigene Note oder nur die Idee einer Persönlichkeit ist bei keinem zu finden. Es ist mir nie gelungen, irgendeinen aus dieser Masse, aus diesem Komplex herauszuziehen. Er wird dann nur noch weniger, als er schon ist.
Andererseits haben alle eine hervorragende Arbeitsweise, und es lernt zumindest jeder aus eigenem Antrieb. – Aber ich fühle mich entsetzlich unglücklich unter ihnen, denn ich lebe eigentlich ganz woanders, und ich habe noch nicht gemerkt, dass mir einer in Visionen oder Gesprächen folgen konnte. Ich bin einsam. Habe mit niemand Kontakt.
Wäre es anders, hätte ich Umgang, könnte ich arbeiten, könnte ich mir meine Gedanken und Ideen zur bewussten Form bringen. So ist jedes Gespräch mit einem klugen Menschen nur ein Feiertag unter einer langen Reihe von Werktagen, in denen ich mich verkrieche, alle Menschen hasse und grüble.
Hätte Doktor Vogt neben Gottfrieds Prosa und Reimen auch nur einen dieser Tagebuchsätze zu Gesicht bekommen – wer weiß, ob er die Weitsicht gehabt hätte, den Jungen weiter auf diesem Pfad gewähren zu lassen. Sein Hund Ajax schließlich gab Gottfrieds Weg eine neue Richtung. Der schmale Rüde mit dem gräulichen Fell, häufig gestreichelt und von Gottfried geliebt, erkrankte schwer. Das setzte dem Jungen so sehr zu, dass er einige Tage selbst das Bett hüten musste. Jeden Tag fragte er die Mutter nach Ajax. Die Antwort war immer die gleiche: »Der gute, alte Ajax. Er hat ein schönes Leben gehabt. Nun ist es Zeit.«
Das Sterben des Hundes zog sich jedoch hin. Als Gottfried wieder auf die Beine kam, ging er gleich hinüber zu Vogt. Dicke Schwaden Zigarrenrauchs vernebelten den Raum. Der Hund lag zusammengerollt auf einer Decke und hob kaum merkbar den Kopf.
»Er trinkt schon nicht mehr«, sagte Vogt, doch Gottfried hörte ihn kaum. Hätte er ein Seil gehabt, sich an den Hundekörper zu binden, gezögert hätte er keine Sekunde, so unbedingt wollte er Ajax halten. Der Kreislauf von Leben und Tod, den Vogt ihm predigte, war ihm heute schnurzegal. Graue Theorie von Denkern und Dichtern, die nie selbst jemanden hatten gehen lassen müssen. Pah. Sie sollten ihm alle den Buckel herunterrutschen. Er legte seine Hand an die Magengegend des dürren Hundes, ganz vorsichtig. Die Mulde war genau handballengroß und nackt wie ein Stück Rattenhaut. Er pustete Ajax leicht ins Ohr. Der Hund zeigte keinerlei Reaktion. Seine Bauchdecke hob und senkte sich leicht. Dann war der Moment da, vor dem Gottfried so große Angst hatte.
Vogt legte eine Decke über Ajax und bat den Jungen, nach Hause zu gehen. Noch an der eigenen Haustür riss Gottfried sich zusammen. Dann schluchzte es bitterlich aus ihm heraus, unter dem Kirschbaum im kleinen Garten, den niemand so nah an der großen Fabrik vermutet hätte.
Am nächsten Morgen fand Gottfried kaum aus den Decken. Die Glieder waren ihm schwer. Er wusste nicht mehr, was er geträumt hatte. Der Traum lag zwischen den Falten des Betttuchs verborgen, das er müde abklopfte, bis er endlich das anstehende Tagwerk erfasste: Schule. Und am Abend Philosophie mit Vogt. Die Zimmerecke, in der während der Philosophiestunden sonst Ajax friedlich geschlafen hatte, blieb leer. Still übergab er Vogt dieses Gedicht:
Du fragst den Wind?
Du hörst das Sausen seiner Bäume?
Nun lausch den Raben, was sind
Sie dunkel, gleich dem Suchen deiner Träume! –
So sei der Nebel das Wanken deiner Sehnsucht!
So sei dem Halme nah, dem Wiegen
Die Pein, das Lächeln deiner Flucht!
Die der Vollendung harrt, dem Siegen.
Doch Vogt zeigte nicht die gewünschte Reaktion und verfiel in undeutbares Schweigen, sodass Gottfried ihm das zweite Gedicht »Wurm am Meere« nach einer Komposition von Paul Hindemith stolz und gekränkt zugleich vorenthielt. Nächtelang wälzte sich Gottfried schlaflos im Bett. Nur seinem Tagebuch vertraute er sich an.
Ich habe das Gefühl, als stünde ich am Ende eines ungeheuer komplizierten Lebens und müsste nun von vorne anfangen. Ich bin sehr überheblich geworden und kann dem nichts Rechtes widerlegen, habe aber doch immer nur das dunkle Gefühl der Distanz von jedem Menschen, nein, es ist nicht nur dunkel, es ist immer da, an erster Stelle, mein Fluch.
War er allein, sprang er oft von seinem Stuhl auf, lief unruhig umher und umklammerte seinen Brustkorb mit beiden Armen. Im nächsten Moment wechselte die Stimmung und machte einem neuartigen Sarkasmus Platz, gepaart mit bissiger Ironie. Plötzlich war der Pennäler Gottfried der unwichtigste, übersehene Teil einer unüberschaubar großen Menge Menschen. Er lachte irre vor sich hin, wenn er daran dachte, dass diese Menge Menschen tags wie nachts wie ein Ameisenheer über die Erde kroch.
In solchen Stimmungen setzte er sich manchmal an die Schreibmaschine. Er wagte, Gott selbst als Urheber allen existenziellen Unglücks zur Verantwortung zu ziehen. Gott hatte in seinen Augen mächtig versagt. Gottfried war sogar zu einem launigen, kleinen Prosatext aufgelegt, den er selbstbewusst »Schöpfung« nannte und der so begann:
Gott gab sich einst die Laune, den Zauber des Seins zu schaffen. Noch verlegen spielten seine Sinne, denn dazumal war Gott ein Taumel wirren Geistes und konnte nach uns nicht fragen. Noch war er ein spielendes Märchen, denn seine Launen warf er gleich Federbällen.
So ergab sich einst ein Malheur, ein Übel entglitt seiner Hand, trügerisch, schlau, ein Komplex. Klein und weich entglitt er seiner Hand, lautlos glitschte er aus sträflichem Druck und zog massig entfaltet in wogenden Delirien seine schaukelnde Bahn zum wartenden Rätsel, der Erde.
Rätselhafte Wesen waren ihm in diesen Jahren seines eigenen Erwachsenwerdens in der Pfalz allen voran dann aber doch speziell die Damen. Sie schienen unnahbar wie seine Klassenkameradin Eva, die er tatsächlich – sein Gestammel im Park hatte gefruchtet – als Tanzpartnerin hatte gewinnen können. Der erste große Schulball nach dem Krieg war ein Leuchtstreif im Lernalltag. Noch nie hatte Gottfried seine Lehrer und speziell die Deutschlehrerin Frau Bechter tanzen sehen. Wie schlecht dagegen tanzten sie selbst, die künftigen Abiturienten, die zwar schon einige Tanzstunden genossen hatten, aber immer noch recht unbeholfen und ungelenk wirkten, die Körper überstramm und steif. Gottfried fühlte immerhin den Takt der Musik. Und so war er trotz seiner introvertierten Art ein willkommener und überdies gut aussehender Tanzpartner.
Die Konversation allerdings verlief schleppend. Er konnte Eva ja schlecht beim Wiegeschritt ins Ohr flüstern, was ihn wirklich bewegte, nämlich derzeit Schopenhauer. Er hatte ihn selbstständig, ganz ohne Vogts Zutun entdeckt. Die Lektüre nahm ihn sehr in Anspruch. Er ahnte mehr, als dass er begriff, was der große Philosoph aus dem Schattenreich ihm zuraunte:
»Der Tod ist der eigentlich inspirierende Genius oder der Musaget der Philosophie.«
War der Tod nicht überhaupt das anregendste, einzige Faktum? »Ängstlicher Gegensatz«?
Auch Gottfried wollte der Idee seines Lebens leibhaftig begegnen. Buchstäblich mit dem Körper. Doch der reine Genuss, dem sich alle tanzenden Paare hier lachend hingaben, war ihm andererseits auch zutiefst suspekt. Und so verlief die Begegnung mit der ersten Frau Eva sehr ähnlich wie die Begegnung seines Freundes Frieder mit dessen ausgesuchter Herzensdame – ein Paar, über das Gottfried später in seinem Tagebuch, vermutlich als Figurenstudie für geplante Romane, diesen Satz zu Protokoll gab:
Habe das ungezogene Gefühl, es wissen sich beide nicht zu helfen. Fürchte, sie übertragen sich nicht einmal Flöhe.
Die harmlosen Klänge der Schultanzkapelle bewegten 1948 die Körper der Tänzer und Tänzerinnen hoffnungsfroh in eine neue Zeit und nahmen es sogar mit Gottfrieds Pathos auf, das im Laufe der Jahre allmählich nachlassen sollte.
ISA 2014
»Was meinen Vater weiterleben ließ«, fasste ich für Gustav zusammen, nachdem ich ihm von den Prosa- und Lyrikversuchen Gottfrieds erzählt hatte, »war genau das Gleiche, das mir selbst schon oft genug half: die Liebe zur Sprache.«
»Hat er dann aber später nie mehr ausgelebt«, bemerkte Gustav trocken. Wir waren auf dem Weg zum Papierladen. Gustav mit seiner Begeisterung für alte Schreibgeräte hatte mich gebeten, ihn zu begleiten. Er müsse die Feder seines Füllhalters tauschen.
»Jedenfalls nie mehr in dieser Form«, sagte ich.
»Also war seine Liebe zur Sprache eine verjährte Liebe?«
»Kann man so sagen. Wobei Sprache und Analysieren ja nach wie vor in seinem Leben eine wichtige Rolle spielten.«
»Nämlich?« Gustav spielte mit meiner Hand und seinen Rucksackschnallen. Ich schüttelte seine Hand ab, weil ich nachdenken musste. Die Juristensprache benutzte mein Vater, um zu manipulieren oder Tatbestände möglichst exakt zu beschreiben: Arglist, zum Beispiel. Auch im Privaten sprach er uns gegenüber oft genug in juristischen Begriffen und in einer insgesamt liebesarmen, abwertenden Sprache. Sie war sein Werkzeug, um uns nach seinen Werten zu erziehen. Wobei ich mir gar nicht sicher war, ob er überhaupt konkrete Werte hatte oder eher nur experimentierte, wie ich es als Mutter leider oft genug selbst früher getan hatte.
Gustav fragte: »Kannst du deinen Vater nachmachen?«
»Nachmachen?« Ich war verdutzt.
»Schaupielern, wie er war! Versuch’s doch einfach mal!«
Das war genauso schwierig wie der Versuch, ihn zu beschreiben. Aber nach und nach – Gustav ließ mir Zeit – fand ich mich ein. Ich spürte, wie ein großer Groll in mich einzog. Ich bremste Gustav mit ausgestrecktem Arm aus und baute mich mitten auf der Straße vor ihm auf. In der einen Hand hielt ich die Zigarette und aschte in einen Luftaschenbecher. Ich rauchte langsam, aber ohne allzu lange Pausen, ich war ja Kettenraucherin. Alle Zeit der Welt stand mir zur Verfügung, die schlimmsten Flüche auszustoßen – etwa über einen »unfähigen« Arzt. »Der kann mir doch gestohlen bleiben!«, raunzte ich Gustav im Thomas-Bernhard-Ton meines Vaters ins Gesicht. »Alles Gequassel! Soll doch in Hintertupfingen praktizieren! Wo niemand wohnt! Sich selbst therapieren! Und die Hände weglassen von Dingen, von denen er keinen Deut versteht!« Ich echauffierte mich. »Rammt mir da seinen Spatel in den Rachen!«
Es machte richtig Spaß, so zu wettern. Und es war vermutlich noch die abgemilderte Version meines Vaters. Während ich er war, hier auf dem Weg Richtung Dorfmitte in der sonnigen Vorwinterkälte, wurde mir auf einmal klar, dass ich früher sicher völlig humorlos gewesen war, dass ich einfach nur nicht verstanden hatte, wie viel Spaß es meinem Vater gemacht haben musste, sich die Zeit mit Fluchen zu vertreiben. Als ich genug geflucht hatte, lachte ich mit Gustav und vertrieb mit dem letzten Stipp Asche meinen misanthropischen Vater – wohlig-erschöpft, als hätte ich die ganze Welt gegen mich gehabt, aber zugleich ein großes Publikum, das mich nach meinem Auftritt ganz besonders laut beklatschte.
Gustav war beeindruckt. »Hm«, machte er mehrmals. »Hm, hm, ich verstehe langsam.«
»Er hat wirklich maßlos übertrieben!«, fiel ich ihm ins Wort, jetzt fast begeistert. Ich schilderte Gustav, wie mein Vater die Lachse beschrieben hatte, wenn er beruflich aus Schweden kam: Sie waren »sooooooo groß«! Meine Armspanne reichte wie die meines Vaters gar nicht aus, um die Monsterlachse zu beschreiben, die er angeblich dort gesichtet haben wollte.
»Kannte ich noch gar nicht, diese Seite von ihm«, sagte Gustav. »Und wenn du ihn aus der Distanz heraus betrachtest, jetzt, mit allem, was du Neues über ihn weißt – findest du, er hatte ein ›gelingendes Leben‹?«
»Kommt darauf an, welchen Maßstab man anlegt«, antwortete ich. »Legen wir deinen Maßstab ›Beziehung‹ an, geriet er ja nie aus der Spur. Er hatte Arbeit und eine Familie. – Und …«
»Was ›und‹?« Gustav schaute mich erwartungsvoll an.
»Er konnte tatsächlich lieben. Wie er meine Mutter oft angesehen hat. Total verliebt.«
»Trotz der Streitereien?«
Ich nickte.
Ich staunte.
Wir waren schon weit über die kleine Brücke nahe unserer Häuser hinaus, vorbei an der Stelle, wo ich letzthin wie ein verschreckter Hase ins Schilf geflohen war, weil ich dachte, Paul käme mich besuchen. Er war es nicht gewesen, aber seit dem Eintreffen seines Pakets befand er sich zwischen mir und Gustav, ein unsichtbarer Spaziergänger, den wir in unsere Mitte genommen hatten, ohne ihn anzusprechen. Wir ignorierten ihn, wir taten so, als passte zwischen uns nicht ein Blatt Papier. Ich hielt Gustavs Hand und fühlte mich kraftloser als eben, da ich meinen Vater gespielt hatte. Vollmundig hatte ich Gustav gegenüber meine Liebe zur Sprache behauptet. Aber hatte ich sie denn jenseits des Beruflichen jemals ausgelebt?
Mit Paul hatte ich nach unseren letzten aussichtslos-chaotischen Telefongesprächen vor Wochen nicht mehr gesprochen. Nur über Dora, Gottfried und Max und all die anderen erzählte ich ganze Romane und lebte meine Liebe zur Sprache aus, die zur Pflege meiner eigenen Beziehungen viel nutzvoller eingesetzt wäre. Wieder dachte ich an den bitteren Moment meiner Abreise. Ein Band war gerissen, und wir wurden zwei lose Enden. Paul auf dem Küchenstuhl. Wie er nicht aufgesehen hatte, als ich meinen Koffer nahm und hinausging. Der große, schlanke Paul, so ratlos und traurig in sich zusammengesackt. Auf der Autobahn, nach dem Besuch bei meiner Mutter, hatte ich immer wieder dieses Bild im Kopf. Wenn ihm jetzt etwas passierte und es das Letzte gewesen wäre, was ich von ihm gesehen hätte?! Ohne irgendeine Abschiedsformel, ein offenes Ende? – Abschiedsrituale waren mir immer sehr wichtig gewesen, egal, wie zerstritten man gerade war. Ein maximaler Aberglaube, mag sein.
Sofort erfand ich dagegen meinen Abwehrzauber, der genauso kindisch war wie der Aberglaube selbst: In meiner Vorstellung ließ ich Paul wieder und wieder vom Küchenstuhl aufstehen. Wieder und wieder hielten wir uns im Arm. Wenigstens das!
Dann entließ ich ihn zu Svea – wohin sonst. Nur dass ihm wenigstens nichts passierte!
Warum aber war ich damals nicht sofort umgedreht und nach Hause zurückgefahren? Warum hatte ich nicht um Paul gekämpft?
Es gab nur eine Erklärung dafür: Ich hatte diese Svea für eine Naturerscheinung gehalten. Machtvoll und die bessere Wahl. Jetzt wurde ich unendlich traurig darüber, dass ich mich gleichzeitig selbst so schlechtgemacht hatte.
Gustavs Händedruck holte mich zurück. Wir waren am Ziel angekommen. Das Schreibwarengeschäft lag in der Ortsmitte gegenüber dem Bahnhof und besaß eine kleine Cafénische. Ich erkannte die immer gleichen Kunden, die auch hier saßen, wenn ich meine Zeitung kaufte. Die nette Verkäuferin wollte Gustav zum Wechsel des Stifts überreden.
»Sie schreiben zu schnell!«, sagte sie und zeigte ihm die kaputte Feder, die nicht mehr in der Lage war, auf Anhieb mitzuarbeiten. Jedem Wort, das Gustav per Hand schrieb, fehlte der Ansatz. Die Tinte floss erst ab der Hälfte des zweiten Buchstabens.
»Mit einer Feder muss man langsam schreiben.« Sie legte seine kaputte Feder vorsichtig auf eines der japanischen Seidenpapiere neben der Kasse. »Die Feder will geführt werden.«
Gustav blickte sie verständnislos an. Den Tintenroller, den sie stattdessen empfahl, wollte er nicht.
»Wenn ich schreiben würde, wie ich denke, würde ich noch viel schneller schreiben«, sagte er trotzig, als wir noch einen Aufwärmtee tranken. – Nur Briefe schreibe er noch mit dem Füller, seine Großprojekte immer nur mit der Schreibmaschine, weil er da besser formuliere. Anschließend tippe er alles in den Computer.
»Führung!«, äffte er die Verkäuferin nach. »Wer will schon geführt werden?«
»Nun ja«, sagte ich, »eine Feder offenbar schon.«
Wieder dachte ich an meinen Vater. Alles führte zu ihm. Er besaß einen wunderschönen Montblanc-Füller in glänzendem Trauerschwarz. Manchmal unterschrieb er damit meine Entschuldigungen für die Schule, falls meine Ausrede besonders haarsträubend klang und meine Mutter der Meinung war, jetzt bedürfe es der Autorität eines Vaters. Seine Unterschrift war die Verdichtung seiner Handschrift: Ausfahrende Oberlängen wie Taktstriche zwischen den flach gezogenen Buchstaben.
Ich klappte die Zeitung auf, die ich mir gerade gekauft hatte; auf Seite drei ganz groß ein Interview mit dem Geophysiker Alexander Gerst, der gerade von seinem Aufenthalt auf der Internationalen Raumstation zurückgekehrt war. Ein halbes Jahr lang hatte er die Erde verlassen. Auf dem Foto hätte man ihn für einen Popstar halten können. Im Interview wirkte er äußerst sympathisch. Er sagte Sätze wie »Die Erde riecht großartig« und dass er mit Feuer experimentiert habe. »Eine Kerzenflamme ist da oben kugelförmig«, erklärte er auf Nachfrage.
»Jetzt untersuchen sie sein Blut«, sagte ich zu Gustav, um ihn von seiner Feder abzulenken. »Sie wollen wissen, wie ihm das Leben im All bekommen ist.«
»Gute Idee. Soll ich dich auch mal untersuchen? Damit du weißt, wie dir deine Familiengeschichte bekommen ist?«
Solche Sprüche hatte ich ihm gar nicht zugetraut. Ich ignorierte das Angebot und sehnte mich plötzlich nach einer längeren Kur, wie Gerst sie jetzt zur Belohnung bekam. In der Kurhalle säßen vermutlich auch Dora, Max und Gottfried mit ihren Erlebnissen und Geschichten. Ich würde sie wohl ansprechen. Einige Fragen gab es ja noch. Ich hatte meinen Vater nie gefragt, ob er seine Eltern zu ihrem Verhalten während der Kriegszeit befragt hatte und warum die Beziehung zwischen ihm und Dora so angespannt gewesen war.
Keine Fragen. Keine Antworten.
Am Nachmittag wollte Gustav zu einem Fußballspiel. Um den Hals trug er einen »Begegnungsschal« mit den Logos beider spielender Mannschaften. Komm doch mit, sagte er. Aber ich hatte kein Interesse an Fußball. Falls ich mal ein Spiel sah, behielt ich keine Spielzüge, keine Tore, keine Ergebnisse – höchstens bemerkenswerte gesprochene Sätze. Und als der Moderator bei einem der Sommerspiele empört ausrief: »Jetzt könnte Löw mal die gelb Belasteten herausnehmen!«, dachte ich eine mir selbst sehr peinliche Sekunde lang, er meine die Spieler mit den gelben Turnschuhen.
Auch mein Vater hatte für Fußball nichts übriggehabt, er verachtete ihn sogar. Früher legte ich ihm seine Fußballverachtung als gesundes Misstrauen gegen Massenveranstaltungen aus – und gegen deren manipulative Kraft. Jetzt fiel mir auf, dass mein Vater außer Rudern fast jeden Sport verachtet hatte, und ich mutmaßte, dass man ihm Sport auf der Napola gänzlich verleidet hatte. Aber vielleicht lag ich auch vollkommen falsch mit allen meinen Mutmaßungen über meinen Vater und sollte endlich anfangen, ernsthafter über meinen eigenen Lebensentwurf nachzudenken. Bald war Weihnachten. Wo würde ich sein? Meine Arbeitswohnung musste ich nicht zuletzt aus finanziellen Gründen verlassen. Ich musste mich in irgendeine Richtung in Bewegung bringen, wollte aber meinen heutigen Nachmittag ausnahmsweise endlich mal wieder der Musik widmen. Nachdem mir meine digitale Musikbox die Playlist »für alle, die eine Trennung glücklich überlebt haben« vorschlug, durchforstete ich lieber meine eigenen Titel. Bach, gespielt von Glenn Gould, das ging immer. Wenn er mitsummte, war auf einmal der Mensch am Klavier sichtbar.
Am Abend nach dem Spiel klingelte Gustav noch bei mir und bat mich durch die Gegensprechanlage hinüber in seine Wohnung. Er klang heiser und glücklich, als er mich begrüßte und noch an der Wohnungstür fragte, ob ich einen heißen Tee mit Rum mit ihm trinken wolle. Auf dem kleinen Tisch am Eingang, wo vor ein paar Wochen noch die runzeligen Kastanien gelegen hatten, entdeckte ich jetzt einen kleinen Plastikweihnachtsbaum, der die Diele in rot-grün-blaues Licht tauchte. Er war nicht nur in der Lage, in angemessenen Abständen seine Farbe zu wechseln, sondern kannte auch verschiedene Modi des Blinkens, was Gustav nicht zu beunruhigen schien. Er redete schon aus dem nächsten Zimmer zu mir, während ich in der Diele noch überlegte, wo genau in seiner ordentlichen Schuhreihe wohl meine vom letzten Wandern verdreckten Treter ihren Platz haben durften.
Drinnen im großen Zimmer brannten ein paar Kerzen. Die Seidentücher an den Wänden hatte Gustav abgehängt. Dahinter kam eine Grafik zum Vorschein, die mir bekannt vorkam: eine Eislaufszene zu einer kleidungstechnisch gesehen eleganteren Zeit, als die Damen mit langen Röcken und die Herren mit Anzug und Krawatte über die gefrorenen Flächen glitten. Ein solcher Herr bückte sich gerade nach dem Handschuh, den vermutlich die Dame vor ihm hatte fallen lassen. Er geriet darüber fast ins Straucheln. Von allen Bildern, die ich kannte, war dies das Bild mit der zartesten Andeutung von Erotik.
Ich war ganz versunken in den Anblick der wunderbaren Eislaufszene, die im Kerzenschein von Gustavs gemütlicher Wohnung besonders winterlich wirkte – aber Gustav wollte Aufmerksamkeit. Er erzählte von dem Fußballspiel mit ganzem Körpereinsatz wie von einem spannenden Theaterstück. Einmal imitierte er den Torwart und sagte: »Das ist das Schwerste: kaum angespielt zu werden, dann aber plötzlich doch ganz da sein, mit aller Konzentration.«
Jetzt, dachte ich. Für manches gab es das richtige Zeitfenster. Ich konnte daran vorbeigehen oder hineingucken. Ich wollte ihn fragen, was ich ihn schon seit dem Tag fragen wollte, als ich ihn das Institut betreten sah – an einem Tag, an dem dieses offiziell geschlossen hatte.
»Verrätst du mir, was du im Institut für Demoskopie zu tun hast?«
Gustav schien überrascht. »Du hast mich gesehen?«
Er war jetzt mit seinem Samowar beschäftigt, was ihn sofort entspannte. Während er Wasser auffüllte und mit den schön geschwungenen Griffen hantierte, holte er aus. Er begann mit der Geschichte seines Elternhauses, das während des Nationalsozialismus unrechtmäßig in den Besitz seiner Großeltern gekommen war, vom Prozess, der sich ewig hinzog, wie so viele dieser Restitutionsfälle.
»Und dann?«, fragte ich.
»Die Kläger kamen aus Amerika. Meine Eltern trafen sie nie. Das ging alles über Anwälte.« Er ließ sich in einen der Sessel sinken und versuchte sich zu erinnern. »Ich war damals Student. Selbst viel zu beschäftigt.« Seine Finger spielten mit dem Fußballschal, den er immer noch umhängen hatte. Die nächsten Sätze sagte er so leise, als spräche er zu sich selbst. »Ich habe damals schon meinen Standpunkt klargemacht. Es gab ein Jahr, da habe ich wegen dieser Sache mit meinen Eltern überhaupt nicht mehr gesprochen. Aber ich konnte sie letztlich nicht zum Umdenken bewegen.«
Die komplizierten Hintergründe deutete er mir nur an. Juristische Strategien, die beide Seiten in wenig gutes Licht rückten. Am Ende wurden die Kläger mit Geldbeträgen abgespeist, die sicherlich weit unterhalb des Werts dieses Hauses lagen.
Nach dem Urteil hatte Gustav sich eine Zeit lang in die Prozessakten vertieft und darauf bestanden, dass seine Eltern das Haus zurückgaben. Aber irgendein Paragraf ließ schließlich keinen weiteren Handlungsspielraum. Falls Gustav das Haus einmal zurückgeben wollte – vermutlich an die Kinder der Kläger, weil deren Eltern bis dahin sicher längst gestorben waren –, dann müsste Gustav warten, bis seine Mutter gestorben war.
»Ich hatte dann sehr viel später diese Stelle hier im Dorf. Die größte Studie, an der ich beteiligt war, war die über den Umgang mit Rechtsextremismus vor ein paar Jahren. Eine totale Fehleinschätzung.«
»Warum?«
»Kaum jemand sah die Gefahr. Die meisten fühlten sich gut beschützt. Es gab überhaupt kein Bewusstsein in der Bevölkerung dafür, dass der Rechtsextremismus zunahm.«
Also bezog er Position und handelte. »Und ja – das war sicher eine Art Ersatzhandlung und nicht richtig, nicht demokratisch.«
Er fälschte Umfragen. Er fing an, Gegenartikel zu schreiben, die er unter die verharmlosenden Publikationen setzte. Er war vom passiven Beobachter zum leidenschaftlichen Warner geworden.
Das flog auf, und er wurde vom Dienst suspendiert.
»Der Schlüssel«, sagte Gustav, holte ihn aus einer Schachtel und zeigte ihn mir, »den hab ich noch.« Er machte eine lange Pause, die ich nicht zu unterbrechen wagte. Dann sagte er entschuldigend: »Alte Gewohnheit. Manchmal schleiche ich mich noch rein.«
Das Teewasser war längst heiß. Doch wir schienen den Tee mit Rum beide vergessen zu haben. Unsere Tassen neben dem Schälchen mit dem Würfelzucker blieben leer. Zwischen uns stand Gustavs Geschichte über den fragwürdigen Umgang mit Schuld und Verantwortung, über die Verhinderungsstrategien und die Bürokratie, über die Trittbrettfahrer, die für sich oder ihre Institutionen oder Firmen Schwachstellen im System ausnutzten, über die Tatsache, dass man wenigstens im kleinen Rahmen etwas tun konnte und musste.
Warum war das für die Generation unserer Eltern so schwierig gewesen?
Ich hatte Gustav von dem Inhalt der Akte meines Großvaters und von meinen noch immer offenen Fragen erzählt. »Der Totalitarismus ist so totalitär, dass wir ihn kaum erkunden können«, hatte er kommentiert.
Jetzt stand er auf und sagte wieder so einen seiner schwerwiegenden Sätze, die die Stimmung immerhin zu wenden wussten: »Das Gute umkreist das Böse und umgekehrt. Wenn wir so weiterreden, ist der Abend im Nu vorbei.« Er ließ das Teekonzentrat in die Becher plätschern und goss heißes Wasser nach. »Mit?«, fragte er und hielt die Rumflasche hoch.
Ich schüttelte den Kopf. Etwas kreiste noch in meinem Kopf, das ich zu fassen versuchte. »Ich hab mal einen Brausewürfel gestohlen, als ich noch ganz klein war.«
»Und?« Gustav setzte sich wieder zu mir.
»Meine Mutter hat das zu Hause gemerkt und mich in den Laden zurückgeschleppt. War furchtbar für mich.«
»Hat sie richtig gemacht«, sagte Gustav anerkennend.
»Ich hab mich in Grund und Boden geschämt«, sagte ich. »Beziehungsweise war es so: Ich hab mich schon direkt nach dem Klauen so sehr geschämt, dass ich es meiner Mutter zu Hause selbst gestanden habe.«
»Noch besser!« Er prostete mir mit der Teetasse zu. »Dann warst du ja schon gut eingestielt.«
Meine kleine Brausewürfelschuld, wurde mir plötzlich klar, grub sich im Laufe der Jahre in mir ein, und genauso vergrub ich mich umgekehrt in der Schuld, um dieses oder jenes lieber nicht zu tun, was ich eigentlich gerne getan hätte. Ich war zu einem Bartleby’schen »Lieber nicht« in weiblich mutiert, wie in Melvilles Geschichte vom Schreiber Bartleby, der zu arbeiten aufgehört hatte und alle diesbezüglichen, freundlich an ihn herangetragenen Aufforderungen, doch bitte weiterzuarbeiten, regelmäßig mit den jeweils gleichen Worten beantwortete: »I’d prefer not to.« – »Lieber nicht.«
Wie aber hatte dann so eine »Lieber nicht« wie ich überhaupt den Mut aufbringen können, Mutter zu werden?
»Ich kann nicht mal richtig lügen«, seufzte ich.
»Klar«, sagte Gustav. »Wegen der Angst, was falsch zu machen. Angst ist kein guter Berater.« Er beugte sich zu mir rüber und stocherte mir seine Finger in die Rippen. »Auszeit!«, sagte er und wickelte mir seinen »Begegnungsschal« um den Hals. Ich ließ mich von ihm aufs Sofa drücken. Von der Diele her schimmerte immer noch das wechselnd farbige Licht des Plastikweihnachtsbäumchens herein. Später schlief ich in Gustavs Armen ein.
Gustavs schwerer Arm lag halb auf mir, als ich frühmorgens erwachte. Es war noch dunkel und regnete. Die Tropfen peitschten im unregelmäßigen Rhythmus der Windböen gegen die Balkontür. Gustav atmete in mein Ohr. Vorsichtig legte ich seinen Arm beiseite und stand auf. An dem matt gelblich schimmernden Licht, das aus der Diele kam, versuchte ich mich zu orientieren. Das Plastikbäumchen schien über Nacht seine wilde Blinkfähigkeit eingebüßt zu haben und hatte sich auf eine dauerhafte Farbe festgelegt. Leise tappte ich durch Gustavs Wohnung und suchte nach einer möglichst kleinen Lichtquelle, die ich anknipsen könnte, ohne dass sie Gustavs Schlaf störte. Doch ich brauchte gar nicht so leise zu sein. Der Wind war ohnehin so laut, dass meine eigenen Geräusche kaum auffielen.
Angst?, hörte ich plötzlich die Stimme meiner Mutter, die ich schon viel zu lange nicht mehr angerufen hatte. – Welche Angst? – Obwohl bald achtzig, hatte sie ausgesehen wie ein kleines Mädchen, das mich verständnislos anguckte, als ich sie einmal danach fragte, ob sie noch Erinnerungen habe an das brennende Frankfurt – oder so etwas verspüre wie Angst. Der Krieg hatte keinen einzigen Eindruck hinterlassen in ihrem Gedächtnis, das sie notdürftig mit den Erzählungen ihrer Eltern ausgestattet hatte, auf die sie zugriff, wenn sie danach gefragt wurde. – Aber Angst?
Jetzt war ich hellwach. Unter dem Geräusch des immer noch an die Scheibe prasselnden Regens erreichte ich endlich Gustavs Lesepult und fand den Schalter des kleinen Lämpchens darauf. Die Traurigkeit darüber, dass meine Mutter sich weder an Bilder noch an Gefühle erinnerte, dass auch vieles andere ihres Lebens vollständig eingekapselt war und nicht zugänglich, griff nach mir wie eine fern wohnende Freundin, die sich lange nicht mehr bei mir gemeldet hatte. Auf dem Stehhocker, den ich erkletterte, hatte ich Gustav einige Male sitzen sehen, in Arbeit vertieft. Jetzt hörte ich ihn, er schnarchte leise und drehte sich manchmal im Schlaf. Um mir Halt zu geben, schlang ich meine Beine um die Beine des hohen Stuhls. Würde meine Mutter gehen, wüsste ich nicht, wohin mit all dieser Traurigkeit, die in mir war, als wäre es meine und ihre zusammen, ein See, der jetzt in meine Glieder flutete.
Viel länger als sonst ließ ich diese Traurigkeit zu. Aufgestützt auf das Pult spürte ich die leichte Übelkeit, die mit der Traurigkeit kam. Es war gut, gleich hinter der Wand meine eigenen Dinge zu wissen. Ich hörte Gustav atmen, sah durch das Dunkel des Zimmers und wartete lange auf das erste Morgenlicht, in dem ich Gustav deutlicher würde sehen können. Er rekelte sich, schlief aber immer noch tief und fest, und die Wolldecke, die nur noch seine Beine bedeckte, fiel auf den Boden.
Etwas passierte in dieser letzten Stunde. Ich hielt etwas aus und verscheuchte es nicht. Immer noch war der Schlaf ein fernes Land, in das ich wie als Kind umständlich reisen musste. Aber das war ganz egal, denn ich wollte auf einmal mit allen Sinnen leben.
Ich dachte an Paul und mein Gekränktsein, das in mir so arg gewütet hatte, dass ich einfach auf und davon gegangen war. Aber Paul war auch derjenige in meinem Leben, dessen Arm ich schon oft von mir heruntergenommen hatte, wenn ich morgens früher wach wurde. Er war derjenige, der nicht ging, wenn ich unruhig war oder stur auf meine Meinung pochte, der bis auf seine Affäre, die ihn – wie meine mich – manches lehrte, keinen Moment lang an uns gezweifelt hatte – aber vielleicht nie zu mir hatte durchdringen können? Weil ich mein Innerstes vor mir selbst verschloss?
Als Gustav noch einmal tief eingeschlafen war, griff ich nach dessen immer noch etwas eingeschränkten Füllhalter auf dem Lesepult und schrieb: einen Brief an Paul. Der Füller lag gut in meiner Hand. »Lieber Paul«, schrieb Gustavs Füller, und jeder Buchstabenstrich war deutlich zu erkennen, so langsam schrieb ich. Dann faltete ich den Brief zusammen und steckte ihn in einen von Gustavs gepolsterten Umschlägen.
DORA 1953
Überall der vom Regen angeklebte Staub auf den Straßen, als Dora vom Einkauf kam. Auch heute saß das Nachbarsmädchen auf dem Mauerrest mitten im Nieselregen. Sie war sicher schon zehn oder elf, spielte aber immer noch mit Puppen, besser gesagt mit Teilen von Puppen, die sie vermutlich von dem Trümmergrundstück um die Ecke hatte, um das sich niemand zu kümmern schien. Die Puppen waren in ihrem Spiel Versehrte, denen Gliedmaßen fehlten. Das Mädchen hatte sie Dora einmal alle mit Namen vorgestellt. Wie es mit seinem Korb voller Puppen dasaß, erinnerte es Dora an Rotkäppchen. Heute fühlte sie sich unter den Blicken des Mädchens besonders unwohl. Es sah ihr nach, als wäre Dora Wild, das es zu erlegen gälte.
Dora hängte ihren schwarzen Mantel auf einen Kleiderbügel und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Herb, ja, das graue, eng geschnittene Alltagskostüm betonte ihre herben Züge und die hohen, kantiger werdenden Wangenknochen. Sie war immer noch eine attraktive Frau. Mit Grübchen, wenn sie lächelte, die hatte ihr der Krieg nicht nehmen können. Zufrieden besah sie sich den frisch erworbenen Sack: Kona-Kaffee.
Der bittere, leicht rauchige Geschmack lockte sie jeden Morgen in den Tag. Kaum aufgewacht entzündete sie direkt vom Bett aus die Kerze unter dem schon mit Wasser befüllten Glaskolben und sah auf der Seite liegend zu, wie das heiße Wasser nach oben in den Trichter gezogen wurde. Das war der Zeitpunkt, an dem sie sich im Bett aufrichtete, Kaffeepulver in den Aufsatz gab, umrührte und sich am nächsten technischen Wunder erfreute: Wie der Kaffee nämlich durch den Baumwollfilter wieder in den bauchigen Kolben zurückgezogen wurde. Sie goss den fertigen Kaffee in die bereitstehende Tasse und trank. Alles ganz leise. Max wachte erst vom Duft auf. Meist grummelte er etwas wie: »Chemisches Experiment, kein Kaffee!«, und schlief wieder ein, bis sein Wecker ging – wenn er nicht zu Hause bleiben musste wie jetzt. Die Augenoperation war gut verlaufen. Tagelang hatte er danach noch im Krankenhaus bewegungslos liegen müssen. Das andere Auge stand noch aus. Auf dem war er auch fast blind.
Dora nahm die Zigaretten aus der Manteltasche und ging in ihr Zimmer. Die Möbel, die sie damals samt Bronzekopf und Gemälde zum Glück noch rechtzeitig hatten auslagern können, gefielen ihr immer noch gut. Sie sorgten für Gemütlichkeit in ihrem Rückzugsraum, den sie seit Gottfrieds und Rudolfs Auszug eigentlich gar nicht mehr brauchte. Wie oft wünschte sie sich die beiden zurück. Es war einsam ohne sie. Zum Glück kamen sie heute gleich beide auf Besuch. Als Erstes würde sie sie Kaffee mahlen lassen.
Sie schaltete die Lampe an und ließ sich auf dem Sofa nieder. Erst jetzt merkte sie, wie erschöpft sie war. Inzwischen war Max ja immer öfter im Krankenhaus, nicht nur wegen der Augen. Und letztens fiel das böse Wort, eine nicht gesicherte Diagnose, aber die Untersuchungen dazu standen an, sobald die Augen sich wieder erholt haben würden. Sie war im Zweifel, ob er im kommenden Jahr sein vierzigjähriges Dienstjubiläum bei der Firma würde feiern können. Für die Werkszeitung hatte er kürzlich mit ihrer Hilfe und ihren gesunden Augen noch einen Artikel geschrieben, einen Überblick über die letzten Jahre, über die Zerschlagung der I.G. Farben und die neuen Herausforderungen auf dem internationalen Markt. Von ihr war die Idee gekommen, den Beitrag etwas epischer beginnen zu lassen: »Wenn wir heute vom Großen Tor in den Hof unseres Werkes schauen, fängt sich der Blick an einem Gebäude, das durch seine helle Fassade und die repräsentative Gestaltung seines Eingangs aus dem Rahmen seiner durch Kriegsschäden stark mitgenommenen Umgebung fällt.« – Die »helle Fassade« stammte von ihr. Es war jetzt wichtig, aufmunternde Worte zu benutzen. Sie wollten jetzt alle lieber einen Strich unter die Vergangenheit ziehen. Niemandem wäre damit geholfen, an das Schreckliche, Unaussprechliche zu erinnern und dabei stehen zu bleiben. Es gab ja so viel Neues und Aufbruch überall!
Nervös stand sie auf, um im Nebenzimmer nach Max zu schauen. Aber er lag unbewegt in der gleichen Stellung wie vorhin – die Zündholzschachtel neben sich, obwohl er doch striktes Rauchverbot hatte. Doras Hand fuhr geübt in seine Hemdtasche, ohne dass er es merkte. Keine Zigarren zu fühlen. Er hatte also ein neues Versteck.
Zurück in ihrem eigenen Zimmer legte sie sich Gottfrieds altes Tagebuch auf die Knie und überblätterte die ersten Seiten, sah ihre eigene, dicktintige Handschrift, die das Buch eröffnete; sie erinnerte sich gut: Eine Zusammenfassung der verstrichenen Kriegsjahre hatte sie damals für den frisch Konfirmierten verfasst. Die leeren Seiten danach sollte er selbst füllen. Sie las noch mal durch, was alles geschehen war. Nichts hatte sie ausgelassen, sogar den schweren Tag in Kitzingen vermerkt, als Maritz’ Sohn Karl starb. Sie hatte mit diesen Worten an Gottfried geendet, die sie immer noch richtig fand: Du wirst und musst Dein Leben tapfer in die Hand nehmen, auch wenn es noch so schwer wird. Wir wollen Dir helfen und Dich führen, solange wir es können und dürfen.
Und jetzt? – Wollte er ihre Hilfe nicht. Rückte energisch von ihr ab. Erstarrte, wenn sie ihn umarmte. Lebte fern von ihr und kam viel seltener als Rudolf nach Hause. Sie wusste gar nicht, ob er überhaupt konzentriert studierte – oder ob er wieder auf dem Weg war zum gedankenlosen Prinzen von damals. Der Krieg und Doktor Vogt hatten Gottfrieds Fantasiebäume ja zum Glück gestutzt. Gottfried hatte nie durchschaut, dass sie, die Eltern, hinter diesen Philosophiestunden standen. Nach seinem Auslandsjahr in England – er durfte bei der jüdischen Familie wohnen, die Max noch von früher her kannte – war er verantwortungsvoller und weltoffener und nun Student der Jurisprudenz geworden.
Dora klopfte auf das Tagebuch. Eine Buchdecke aus Holz! Immer noch originell. »Die Neugier steht immer an erster Stelle eines Problems, das gelöst werden will.« Wer hatte das noch mal gesagt? Galileo Galilei? Sie sah auf die Wanduhr. Es war noch Zeit. Sie war ein wenig aufgeregt, zog eine Zigarette aus dem schmalen Etui und entzündete sie mit einem Streichholz. Ein winziges Stück glimmender Schwefel fiel auf ihren Handrücken und hinterließ ein Brennen. Sie rieb sich die Hand und wog das Buch, das wegen des Holzumschlags einiges Gewicht hatte. Erst kürzlich hatte sie es wiederentdeckt. Die vergangenen Jahre hatte es offenbar unberührt in einem Flechtkorb gelegen. Gottfrieds letzter Eintrag war fünf Jahre her. Wollte sie es wirklich wissen? Ihre eigenen, das Buch einleitenden Einträge zu lesen war ja noch vertretbar. Aber seine?
Die Verführung war einfach zu groß. Es war doch in ihre Hände gefallen. Vielleicht sollte es so sein. Sie ließ den Zufall entscheiden, wo das Buch aufschlug.
6.11.46
Manchmal könnte ich wirklich verzweifeln. Träume und fantasiere den ganzen Tag, die einzige Unterhaltung, die ich auch leidenschaftlich betreibe. Zum größten Teil höre ich alles von Musik ab, von leichter und schwebender Musik, wie zum Beispiel die träumende Geige, fantastische Melodien, die mich so in Bann schlagen, dass meine ganze Träumerei damit zusammenhängt.
Was für ein romantischer Ton! Das Verzärtelte hatte er ja zum Glück inzwischen abgelegt. Ob er überhaupt noch zum Musikhören kam? Früher war das Bubenzimmer täglich mit Orgelmusik oder Streichkonzerten erfüllt gewesen. Welches Stück gehört werden sollte, war das Reizthema Nummer eins gewesen zwischen Rudolf und Gottfried. Dora blies Rauch aus, stand auf, öffnete eines der Fenster, setzte sich wieder und ließ das Buch erneut irgendwo aufblättern.
Träume von meinem späteren Leben, besonders von meiner Freiheit, von der Welt, die ich bereisen werde, von fernen Länder … Aber wie das alles erringen?
Dora versuchte sich zu erinnern, wovon sie selbst in jenem Alter geträumt hatte. Eine Bewegung stieg in ihr hoch, seltsam vertraut, aber Dora hatte vergessen, wofür sie stand. Nur ihr Brustkorb bewegte sich, als wäre sie eine Marionette und jemand zöge ihre Rippen an Schnüren. Es kicherte in ihr. Aber nicht mit ihr – so lange hatte sie schon nicht mehr offen in die Welt hinausgelacht wie damals mit Maritz.
Dora drückte die Zigarette aus und begann erneut zu lesen.
Aber immer macht mich die Schule verrückt, nehme mir viel vor und … (!). Begreife alles im Moment, und später … (!) Es ist furchtbar. Sehe meine Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes schwarz.
Ein Miesepeter war er schon immer gewesen. So schwarz war es ja nun zum Glück nicht gekommen. Und wenn sich bald eine nette Schwiegertochter einstellen sollte, wäre sie ihr hochwillkommen. Endlich noch eine Frau im Haus! – Sie zog erneut eine Zigarette aus dem Etui und rauchte rasch. Die zweite Zigarette des Tages. Hätte sie mehr Ruhe, hätte sie sie stilvoll mit Zigarettenspitze geraucht. Sie lehnte sich zurück, die Beine übereinandergeschlagen, und atmete tief durch. Über dem Tisch die Porträts ihrer Buben, zwei Bleistiftzeichnungen, der Künstler hatte sie gut getroffen. Darüber sie selbst auf dem großen Ölgemälde, das ihr Beerwald später, als sie wieder in Kontakt standen, zukommen ließ. Wie behutsam er damals beim Porträtieren vorgegangen war; als wollte er sie nicht verletzen, als sollte ihr Wesen, ihr Menschsein von ganz allein Einzug halten in das Porträt.
Manchmal vermisste sie die alten Malutensilien. Die Kohlestifte und die rostrote Kreide, mit der sie Akte gezeichnet hatte. Vor allem an eines erinnerte sie sich. Das üppige Modell lag hingegossen auf einer Chaiselongue. Im Hintergrund hatte Dora eine bauchige Phiole gemalt, aus der Wasser floss. »Der Fluss des Lebens«, hatte Beerwald dazu gesagt. Seine ermunternden Worte hatten sie lange Zeit wie ein Mantra getragen. Sofort saß Dora wieder im Essener Stadtgarten, zeichnete Pulsatillen und ereiferte sich über den Zusammenhang zwischen Schönheit und Macht, als hinge davon das Leben ab. Mit Maritz hatte sie unlängst darüber gesprochen. Maritz, die nie aufgehört hatte zu zeichnen. An ihr sollte sie sich mal ein Beispiel nehmen! Ob Maritz noch oft an Frantek dachte? Er war so ungestüm gewesen und immer so voller Ideen, mit denen er die Welt verändern wollte. Nie könnte sie ihn vergessen.
Ein letztes Mal griff sie nach Gottfrieds Tagebuch. Doch auf einmal hatte sie die Lust am Stöbern verloren. Es würde ja sicher im selben Ton weitergehen. Und wer weiß, ob sie selbst nicht auch einmal darin vorkam. Seine damalige Wut zeichnete sie sicherlich nicht in schönen Farben. Das wollte sie lieber nicht lesen. Sie drückte auch diese Zigarette aus, lief durchs Haus, legte das Buch wieder zurück und ging in die Küche, um nach dem Gebäck zu sehen. Falls Max aufstehen konnte, wären sie wieder einmal vollständig bei Tisch.
Schon hörte sie den Türgong. Rasch träufelte sie sich ein paar Tropfen Parfüm auf den Hals und die Handgelenke. Heute würde sie ihren beiden Prinzen mal ordentlich die Leviten lesen, dass sie sie öfter besuchen sollten. Sie atmete noch einmal durch und entschied sich für einen Extratropfen ihres Dufts. Dann öffnete sie die Tür.
ISA 2014
»Der Füllhalter schreibt ja doch noch.«
Ich hörte Gustav, noch bevor ich meine Augen öffnete. Mein Kopf lag verrenkt auf meinem Arm. Mühsam hob ich ihn und rieb meinen Nacken. Ich war am Lesepult eingeschlafen, an dem ich den Brief an Paul geschrieben hatte. Ein Wunder, dass ich nicht vom Stuhl gerutscht war. Den Umschlag mit meinen Zeilen an Paul sah ich in Gustavs Händen. Langsam strich er über das Adressfeld, die dicke Tinte, die sein kaputt geglaubter Füller abgegeben hatte.
»Es geht, wenn man langsam schreibt«, sagte ich. »Die Verkäuferin hatte wohl recht.«
Ich kletterte vom Stuhl und nahm Gustav verlegen den Brief aus der Hand. Auch im Hellen glänzte seine aufgeräumte Wohnung wieder einladend. Ich suchte nach Staub, irgendwo musste welcher sein. In den Stoffen sicher. Oder unter dem Bett.
»Dein Mann?«, fragte Gustav.
Ich nickte überrascht.
»Er war hier.« Gustav strich mir die schweißverklebten Haare hinters Ohr.
»Er war hier?!« Ich horchte auf.
»Ja, ich glaube, das war dein Mann.«
Der Paketbote, dachte ich sofort.
Aber Gustav ergänzte: »An dem Tag warst du in Ludwigshafen, glaube ich.«
Also doch nicht der Paketbote. Gustav reichte mir ein Glas Wasser. Aber ich konnte keinen Schluck trinken und fragte unsicher: »Hast du mit ihm gesprochen?«
»Nein«, sagte Gustav, »die unter dir haben aufgemacht und es mir später erzählt. Er hat sich ihnen als dein Mann vorgestellt und wohl ewig bei dir geklingelt. Dann sind sie noch ins Café gegangen und hatten es danach wohl noch mal bei dir versucht.«
»Wer ›sie‹?«
»Er und ein anderer, der das Auto lenkte, mit dem sie kamen.«
»Ein alter Volvo?«, fragte ich.
»Beige. Ja. So sagten sie. – War er das?«
Er musste es gewesen sein. Mit Stefan, seinem Kollegen aus den Streichern, mit dem er immer zusammen fuhr, weil nicht alle in den kleinen Orchesterbus passten, schon gar nicht die Kontrabässe. Meines Wissens traten sie nur bis in den Stuttgarter Raum auf. Es war also ein ziemlich aufwendiger Abstecher bis hierher.
»Hast du mir gar nicht erzählt.« Ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, wenn Paul mich in meiner damaligen Verwirrung angetroffen hätte. Vermutlich ein Desaster.
Gustav hatte sich hingesetzt. Er schien so ruhig, dass ich nicht abschätzen konnte, wie es ihm wirklich ging.
»Weißt du, Isa, ich hatte eigentlich schon aus dieser Wohnung ausziehen wollen, als du kamst.«
»Wirklich?« Ich zog einen Hocker heran und setzte mich ihm gegenüber. Der Brief an Paul lag zwischen uns auf dem kleinen Tisch, meine Handreichung in mein altes Leben, das ich anders leben wollte als zuvor, denn ich hatte Paul in dieser Nacht deutlich wie lange nicht mehr gespürt, so ganz und gar, mit seinen Absencen, die ich oft schwer aushielt, aber auch mit seinem Witz, seinem Charme, seinen Ideen, die aus seiner kleinen Paketkomposition herausblitzten. Wir hatten eine Geschichte, eine gemeinsame, lange Geschichte. Sie war eingefroren, und es waren gewiss viele unschöne Nebengeschichten dazugekommen. Aber ich wollte nicht weiter davor weglaufen, wie ich es gemacht hatte, wie Dora es machen musste und in einer Beziehung gestrandet war, die auf Bewunderung beruht hatte, vielleicht aber nicht auf Liebe. Was das war? Wie sollte ich das denn wissen? Aber ich wollte die angefangene Geschichte mit Paul weitererzählen können und hatte die Hoffnung, dass wir das alte Gefühl würden freilegen konnten. Es war uns beiden abhandengekommen. Mir, weil ich mich durch das jahrelange Training mit meinem Vater viel zu schnell angegriffen fühlte und sofort in Verteidigung ging, Paul, weil auch sein Verhalten zuletzt nur noch aus Angriff und Verteidigung bestanden hatte.
Leicht hatte ich es mir mit dem langen Brief sicher nicht gemacht. Und leicht würde es auch nicht werden. Aber ich hatte mich endlich entschieden und hätte es Gustav heute ohnehin gesagt.
»Ich wollte die Wohnung hier eigentlich kündigen«, fuhr er fort. »Aber dann warst du auf einmal hier, und ich wollte nicht weg, nicht weg von dir. Weil …«, er suchte nach Worten, »du diese Art hattest, sofort mit der Tür ins Haus zu fallen, an dem Abend, als du mich über den Balkon gerufen hattest, weil du so unbedingt von deinem Vater erzählen wolltest.«
Plötzlich wurde mir die Dimension meines Verhaltens der letzten Wochen bewusst, und mir war, als hätte mir jemand in den Magen geschlagen. Ich erinnerte mich an den Abend, natürlich erinnerte ich mich, war daraus nicht alles Weitere zwangsläufig erfolgt?
»Es ist nur«, stammelte ich, »es wird aufhören. Es wird anders werden. Du wirst weghören, weggehen. Stimmt es nicht?« Ich konnte nicht mehr weitersprechen, denn wie Gustav mich jetzt ansah, war es, als würde er sich jetzt schon von mir verabschieden, und ich merkte auf einmal, wie ich auch Gustav trotz meiner getroffenen Entscheidung festhalten wollte. In jeder Entscheidung steckt die Angst, etwas zu verlieren. Das spürte ich in diesem Augenblick bis tief in mein Inneres. Ich wollte zurück zu Paul, aber es tat verdammt weh, Gustav zu verlassen.
Langsam sprach er weiter: »Ich wollte hier also längst weg aus dem Dorf und bin stattdessen geblieben, mit dir nebenan.« Die nächsten Worte kamen schneller, als müsste er sie hinter sich bringen. »Diesmal wird es anders, dachte ich. Anders als das letzte Mal. Und das Mal davor. An dem Tag, als dein Mann kam, bin ich weggefahren. Das war dir gar nicht aufgefallen, du warst ja weg, und als du wieder zurück warst, warst du so vertieft in diese Akte.«
Ja, das war ich. Weil ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte. Weil die Akte informierte und log. Es kam mir vor wie ganz lange her. Ich hatte währenddessen an niemanden aus der Gegenwart gedacht.
»Wo ich war«, sagte Gustav, »den Ort kennst du nicht. Aber es ist ein besonderer Ort, ich bin dort oft. Wo ich war, habe ich gemerkt, dass ich gerne in deiner Nähe bin. Dass ich bleiben will, ganz egal, wie es werden wird. Du hast mich angesteckt mit deiner Suche, mit deinen Fragen.«
»Nicht genervt?«, fragte ich.
»Nein, im Gegenteil!« Gustav lachte. Er lachte jetzt wirklich! »Ich war vorher so faul gewesen! Aber ich konnte endlich wieder arbeiten!« Er lachte, als läge der Brief an Paul nicht zwischen uns, so laut und offenherzig, dass ich fast mitgelacht hätte. Dann wurde er wieder ernst, sehr ernst. »So hätte es weitergehen können.«
»Aber wir waren in einem Glashaus hier«, sagte ich und zeigte mit dem Brief auf den See. »Das ist nicht das Leben.«
Gustav nickte. »Und jetzt ist es so weit, stimmt’s, Isa?«
Ich nickte traurig. Gustavs Worte machten alles so schwer. Oder machten sie es leichter?
»Du nimmst den Brief und wirfst ihn ein«, sagte er bestimmt. »Und ich kündige die Wohnung, so, wie ich es im Frühling schon vorhatte.«
»Wo willst du hin?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich habe ein paar Ideen und Angebote.«
»Aber wir sehen uns noch einmal«, sagte ich.
»Wir sehen uns noch einmal«, sagte Gustav.
»Wir nehmen richtig Abschied«, sagte ich.
»Das machen wir«, sagte Gustav.
Als ich wieder in meiner Wohnung war, schaute ich an mir herunter und entdeckte Flecken auf meiner Strickjacke. Tagelang war ich nicht zum Waschen gekommen. Jetzt war der richtige Moment. Statt Trübsal zu blasen, fing ich sofort an, die Wohnung aufzuräumen. Was ich noch brauchte, blieb auf dem Tisch. Der Rest kam in Ordner, weil ich die Umzugskiste endlich auflösen wollte.
Da rief meine Mutter an.
»Bist du fertig?«, fragte sie.
»Womit?«
»Du wirst nie fertig werden«, sagte sie geheimnisvoll. Dann erzählte sie mir ihren Traum: Sie sei auf dem Main gerudert, immerzu den Main entlang, immer rudernd, immer weiter. »Schau, so!«
»Mama, ich kann dich doch nicht sehen.«
»Ich weiß.« Sie lachte leise vor sich hin.
Ich stellte mir vor, wie sie mit ihren Armen ruderte. Meine Mutter in ihrem Haus, das sie wegen des bevorstehenden Umzugs in die kleine Wohnung im Stift beständig zu leeren versuchte. Ein endloses Unterfangen. Ich müsste endlich helfen kommen.
»Isa«, hörte ich und lochte dabei einige der alten Briefe, den Telefonhörer auf dem Tisch liegend und laut gestellt. »Du hattest von euch allen dreien übrigens die größte Angst vor Dora. Obwohl du noch so klein warst.«
»Wirklich?« Ich hielt inne.
»Seit sie dich einmal so furchtbar streng angesehen hatte und du sofort losgeplärrt hast. Als du laufen konntest, hast du dich versteckt, wenn sie kam. Immer hinter meinen Beinen. Ich habe dich kaum hervorbekommen. Sie sprach mit Engelszungen auf dich ein, aber ohne Erfolg.«
»Das hast du mir nie erzählt!«
»Jetzt weißt du’s.«
Ich konnte meine Mutter laut atmen hören. Sie klang erkältet.
»Angst ist kein guter Berater«, zitierte ich Gustav. Aber sie verstand mich zum Glück nicht, weil ich gerade wieder anfing, einige dicke Stapel zu lochen.
»Was machst du denn da eigentlich die ganze Zeit?!«
»Na, sortieren!«
Dafür hatte sie ein Einsehen. »Dann mal gutes Vorankommen«, sagte sie und verabschiedete sich.
Es war bereits dunkel, als ich an diesem Abend den letzten Stapel sichtete: alte, dunkelgrüne Taschenkalender meines Vaters aus den Fünfzigerjahren.
Auch mein Vater war hier am Bodensee gewesen, vor über sechzig Jahren. Er fuhr mit dem Fahrrad um 9.30 Uhr los, im Juli 1948. Er war damals gerade siebzehn geworden. Er war vielleicht nicht allein. Hergard könnte dabei gewesen sein. Ein paar Monate nach der Radtour am Bodensee hatte er Hergard »nach ihrer Freundschaft gefragt« und die Antwort in sein Tagebuch notiert:
Sie hat Ja gesagt und gefroren.
1953 war für den damals einundzwanzigjährigen Jurastudenten – von Dora offenbar unbemerkt – in Liebesdingen ein besonders ereignisreiches Jahr. Mit Eva verlobt, stand mit Kuli ins Papier eingedrückt und dick unterstrichen unter dem 13. Januar 1953. Es war Winter wie jetzt, und auch mit Eva hatte er, wie mit Hergard, kurz vorher einen schönen Ausflug in den Sachsenwald gemacht. Am 16. Februar kaufte er Verlobungsringe. Sie kam selten. Vor allem kamen und gingen wechselseitig Briefe. An einem Tag sogar 2 x von Eva. Am 1. März ein Pullover von Eva. Dann lernte er Annette kennen. Mit Annette auf einem Ball. Mit Annette rudern. Briefe von und an Annette. Immer weniger von und an Eva. Dazwischen kaufte er sich endlich das Motorrad, das er drei Jahre zuvor so begehrt hatte:
Eine Zündapp mit 20 650 km Tachostand übernommen.
Hergard schien aus dem Rennen geworfen. Hergard, die fror, als er sie um Freundschaft bat und sie Ja sagte. Ob er sich später noch an sie erinnerte?
Sie ist zu fein und anmutig und schwer, so eigen, ein reicher Mensch – ein echtes Mädchen!
Dass die Beziehungen meines Vaters zu Frauen mit dem Besitz seines ersten Motorrads beschleunigt wurden, war schriftlich fixiert. Die neue Zündapp musste weit über das Jahr 1954 hinaus Eva und Andrea durch den Wald getragen haben, vielleicht sogar noch einmal bis an den Bodensee wie damals das Fahrrad. Im Taschenkalender von 1955 tauchte sie gleich vorne auf, unter »Persönliches«, eine Zündapp DB 200, mit Fahrgestellnummer 701532. Von der Zündapp wusste er die Maße genau. Von den Frauen nicht – das letzte Kalenderblatt, ein Vordruck mit der Überschrift »Geschenk-Memorial«, das klang, als wäre die Herzensdame schon tot, blieb unausgefüllt. Gefragt war, was man von »ihr« wissen sollte. Die Kalendermacher fanden: die Konfektionsgröße, Maße, Schuh- und Strumpfgröße sowie die Handschuhgröße, falls man »ihr« dergleichen schenken wollte. Aber sowohl »Lieblingsschmuck« als auch »Hochzeitstag« warteten im Jahr 1955 auf einen Eintrag des inzwischen Vierundzwanzigjährigen, der jede Woche gewissenhaft die perforierte, halbrunde Ecke an der rechten Seite des Kalenderblatts abriss; am Anfang oder jeweils am Ende der Woche? War er froh, dass sie begann? Er hätte wahrscheinlich lieber einen Haken dahinter gesetzt, so wie hinter Eva und zunehmend Andrea: erledigt.
Am Ende der Geschichte seiner Fahrzeuge sah ich ein motorisiertes Seniorenmobil. Andere seines Alters, die nicht mehr gut zu Fuß waren, beneideten ihn um die Möglichkeit, mit diesem feuerroten Scooter lange geteerte Wege durch die Felder zu fahren, den Bodensee im Blick, als er hier einmal zur Reha war. Durch eine Flasche, die im Frontkorb mitfuhr und mit zwei kleinen, durchsichtigen Plastikschläuchen mit seinen Nasenlöchern verbunden war, strömte reiner Sauerstoff in seine Lungen.
Einmal – wir machten in der Nähe Urlaub – hatten wir uns an dem fünf Kilometer entfernten Wildpark verabredet. Wir gingen den Weg zu Fuß. Mein Vater nahm einen anderen Weg mit seinem schicken, roten Auto, auf dem er saß, so, wie er früher in seinem großen Garten zu Hause auf dem fahrbaren Rasenmäher gesessen hatte, nur tiefergelegt. Auf dem Rasenmäher war er Gott. Auf dem Elektromobil war er ein notdürftig angetriebener kranker Mann, der versuchte, Haltung zu bewahren. Er fand aber den Eingang in den Wildpark nicht, sondern immer nur den hochgezogenen Draht, der das große Gehege umspannte.
»Ich bin jetzt bei den Bären!«, tönte es aus unserem Handy, das er ständig anklingelte, um neue Ortspositionen durchzugeben.
»Jetzt bin ich bei den Hirschen!«
Schließlich trafen wir ihn im Gasthaus am ganz anderen Ende des Geheges, wo er endlich eine Lücke im scheinbar undurchdringlichen Drahtzaun gefunden hatte. Mein Vater war vergnügt und wütend zugleich; vergnügt, weil er durch seinen kleinen Trick den Eintritt in den Wildpark gespart hatte; wütend, weil er den Weg nicht gefunden hatte. Ersteres überwog, denn er konnte über sich selbst lachen. Was für eine skurrile Szene: ein Mann, der auf einem roten Mobil mit seiner Sauerstoffflasche den großen Wildpark umrundete, um seine Frau und seine drei erwachsenen Töchter Anne, Friederike und Isa samt Anhang zum Essen zu treffen. Darauf erst einmal einen großen Schoppen Wein.
Ich klappte die Notate meines Vaters zu und öffnete ein Fenster, um die Nachtluft hineinzulassen. Alles überlagerte sich. Die donnernde Stimme meines Vaters in jüngeren Jahren. Und die brüchige am Ende, als sein Körper sich gegen das Sterben wehrte. Dazwischen seine Tagebuchstimmen. Nichts war in Einklang zu bringen. Doch eines ahnte ich: Seine Lust an der Sprache hatte mein Vater nie wirklich begraben. Sie floss in alle seine übertriebenen Reden und Meinungen, deren Standpunkte ständig wechselten, weshalb ich ihn nie verstand.
An einem Abend im Herbst 1972, als in unserem Haus die Uhren nach und nach stehen blieben, stieg mein Vater allein und wie in Trance ins Auto, um zur Pathologie des Unfallkrankenhauses zu fahren. Seine Mutter lag in der Gerichtsmedizin, da sie keines natürlichen Todes gestorben war. Man musste klären, ob der nachkommende Autofahrer, der sie überfahren hatte, eine Mordabsicht hegte. Die Aufgabe meines Vaters war es, seine tote Mutter zu identifizieren.
Er verließ das Haus ohne Jackett, obwohl es kühl war in dieser Oktobernacht. Während er sich vom Dorf wegbewegte, lenkte er das Fahrzeug mit unbestimmter Aggression. Er hatte schon mehr als einen Toten gesehen, aber diese Leichen hatten schon kaum mehr Gesichter. Jetzt sollte er genau hinschauen. Und diese Tote, hatte der Polizist gesagt, sehe schlimm aus. »Person hinter Tür«, fiel ihm dazu aus seiner Referendariatszeit ein: Das war der Code für Fälle wie diese, von denen man wusste, dass ihr Anblick den Betrachter schockierte.
Angekommen in der Pathologie wurde mein Vater von einer Dame in Empfang genommen. Er hatte Angst vor berufstätigen Frauen, weil sie schneller und entschiedener waren als er und die meisten seiner männlichen Kollegen. Als er später selbst in der Lage war, seine eigene Sekretärin unter zahlreichen Bewerberinnen auszuwählen, entschied er sich für die, die auf die Frage nach möglichem Kinderwunsch antwortete: »Keiner. – Solange sie nicht in die Schreibtischschublade passen.« Es kam ihm nicht in den Sinn, dass es unverschämt war, eine solche Frage überhaupt zu stellen. Ihm fiel überhaupt wenig auf. Die Pathologin führte ihn in die Kühlkammer. Erst hier muss mein Vater sein Jackett vermisst haben. Vielleicht fühlte er die Kälte aber auch nicht, als er an den Tisch trat und alles wiedererkannte: die Kleidung, den Schmuck, die Handtasche seiner Mutter. »Der Kopf war weg«, war das Einzige, was er sagte, als er wieder zu Hause angekommen war und wir immer noch schliefen.
Auf dem schwach beleuchteten Parkplatz der Gerichtsmedizin stieg er in sein Auto und drückte auf den Zigarettenanzünder. Er wartete auf das klickende Geräusch, das anzeigte, es habe sich genug elektrische Wärme am Anzünderköpfchen gesammelt. Er hielt das glühende Metall an die Spitze seiner Lord Extra und zog die Luft ein. Und noch während der Rückfahrt begann sein Gehirn damit, ihm einen inneren Dienst zu erweisen und die schockierenden Bilder auszulöschen.
Sie gingen stattdessen auf uns über und veränderten sich in der Familienlegende wie bei der »Stillen Post« die weitergeflüsterten Botschaften: Lange Zeit war ich davon ausgegangen, dass der Kopf vom Rumpf abgetrennt oder überhaupt schon als Solitär nach dem Aufprall in hohem Bogen durch die Luft geflogen war.
Zwei Tage später war der Unfall meiner Großmutter in der Ortspresse beschrieben. Die sachlichen Informationen, die der Polizist meinem Vater durchs Telefon vorlas, hatten sich zu einem kleinen Text gerundet, der so endete:
Dora Schubert wurde dabei aus dem Wagen geschleudert. Autofahrer, die die Verletzte von der Fahrbahn ziehen wollten, mussten zur Seite springen, da ein nachfolgender Pkw heranbrauste. Der Fahrer überrollte den Kopf der Frau. Sie war auf der Stelle tot. Die Polizei vermutet, dass dieser Fahrer nicht bemerkte, dass er einen Menschen überfuhr, sondern annahm, es handele sich um ein Fahrzeugteil des verunglückten Mercedes.
»Hallo.« Die Stimme meines Vaters klang trotzig. Ich besuchte ihn auf der Intensivstation, wieder einmal – wie oft eigentlich schon? – herbeigerufen, um Abschied zu nehmen kurz vor seinem von Ärzten angekündigten Tod. Mein Vater war zäh. Überall waren Schläuche, zwei führten aus den Nasenlöchern heraus, einer aus der Braunüle am Handrücken. Die Haut um die Einstichstelle schimmerte blau und war dünn wie Pergament.
»Die haben mich überall aufgespießt«, sagte er. »Fühl mich wie ein Brathähnchen im Ofen.«
Ich bestaunte ausgiebig die Ein- und Ausgänge an seinem Körper. Er schlug die Decke zurück und zeigte seine Wunden. Ein Held ohne Kreuz und Nägel. Sein Körper schrumpfte von Mal zu Mal. Ich dachte: Jetzt ist er ungefährlich. Das Tier ist durch Krankheit gezähmt. Vorübergehend. Es könnte wieder zu Kräften kommen, bei Genesung in einigen wenigen Wochen. Es atmete schwer.
Später fuhr ich meinen Vater im Rollstuhl zum Röntgen. Wenn er keine Luft bekam, legte ich ihm die Hände auf den Rücken und bewegte sie vorsichtig hin und her. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er hielt sich an den Rollstuhllehnen fest, bis die Adern hervortraten. Der Anfall dauerte eine ewige Minute. Er sagte etwas, aber ich konnte ihn nicht verstehen. Ich fragte nach, da konnte er mir nicht folgen. Wir standen so eine Weile auf dem Flur herum. Niemand kam vorbei, die Pfleger und Schwestern waren beschäftigt, und so ließ ich ihn stehen, um Hilfe zu holen, weil der zweite Anfall anhielt und ich Angst hatte, dass er mir hier auf dem Krankenhausflur erstickte.
»Haben Sie denn Ihr Spray nicht dabei?«, fragte die Schwester, die endlich kam. »Das müssen Sie immer mit sich führen.«
Der alte kranke Mann war plötzlich ein kleiner Schuljunge, den sie wegen Ungezogenheit rabiat vor sich herschob. Ich lief hinterher. Der Abstand wurde größer, sie machte gewaltige Schritte hinter dem Rollstuhl, ein Krankhausflurpflug, der ihr den Weg freimachte, vorbei an Betten, in welchen andere Patienten lagen.
Mein Vater gehörte zu den bestaufgeklärten Patienten aller Krankenhäuser, in denen er je notgelandet war. Der Jurist war neben dem Journalisten unter Anästhesisten der gefürchtetste Berufsstand. Auch hier musste er sich jeden Risikopunkt vorlesen lassen. Der Anästhesist machte seine Sache sehr genau.
»Gehen Sie mir doch weg mit den Details«, sagte mein Vater. Aber der Anästhesist ließ nicht locker. Er nuschelte das Risikoregister pflichtschuldigst herunter. Vielleicht lenkte sich mein Vater mit Gedanken an die Pfalz ab, wo es guten Wein gab und ein Gesetz, das Weintrinken als Kulturtechnik schätzte. Die Trauben so prall. Die Blätter über den Höfen der Weingüter wie ein dichtes Herbstblattdach, durch das kein Regentropfen drang, wenn man an gelben Klapptischen darunter saß und mit Freunden gesellig pfälzelte. Auf seinem Nachttisch stand ein Plastikbecher mit einer gelblichen Flüssigkeit, sie hatte fast die Farbe von trockenem Gutedel. »Das müssen Sie aber vor dem Schlafengehen noch trinken«, sagte der Anästhesist.
Wie »ging« man schlafen, wenn man bereits lag und nicht wusste, ob man morgen nach der mehrstündigen Operation wieder aufwachte?
Morgen früh, so Gott will.
Später hatte ich einen Traum. Ich öffne im Haus meiner Kindheit die Tür zum Arbeitszimmer im oberen Geschoss. Da sitzt mein Vater am geschlossenen Klavier, vor ihm ein Glas mit Wein oder Whiskey, in der Hand eine halb gerauchte Zigarette. Ein Aschenbecher. Der Arm, der die Zigarette hält, ruht mit dem Ellbogen lässig auf dem hellbraunen Klavierdeckel. Mein Vater mit seinen Utensilien, die er zum Leben und Sterben so dringend braucht. Als er mich hört, schaut er hoch. Er ist gebeugter als sonst und schweigt. Ich weiß, er ist tot. Schnell schließe ich die Tür wieder, aber da sehe ich ihn schon auf der anderen Seite unseres u-förmigen Flurs aus der Schlafzimmertür treten, viel größer, als er in Wirklichkeit ist. Ich bekomme große Angst, renne nach unten und setze mich im Nachthemd vor die Haustür auf die Stufen. Ich rufe meine Mutter an und erzähle ihr von den Auftritten des Toten, der hier doch längst nicht mehr wohnt.
Mein Vater starb im Herbst. Als er noch sprechen konnte, verlangte er nach einer Zigarette, die wir ihm an den trockenen Mund hielten. Sein Pflegebett stand in seinem Arbeitszimmer. Einmal schaute er uns alle der Reihe nach an, lange und eindringlich zwischen vielen Absencen. Vielleicht nahm er Abschied. Vielleicht hatte er Angst.
Andauernder Frost hatte seit Tagen alles im Griff. Der See war an den Rändern bereits gefroren. Im Hintergrund die Berge der Schweiz. Die Grashalme der Wiesen steckten in einer durchsichtigen Eishaut. »Klareis«, belehrte mich Gustav, als wir unser Café betraten. Wir waren die einzigen Gäste. Morgen würde ich abreisen und über dieselbe Autobahn fahren, auf der Dora verunglückt war. Wir saßen an unserem Lieblingstisch und löffelten stereo die Schlagsahne vom heißen Kakao. Wir sprachen, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Einmal kam ein Junge hinein und ging zur Toilette. Auf dem Rückweg schlugen seine umgehängten Schlittschuhe gegen unseren Tisch. Das helle Pling erschreckte uns. Wir sahen ihn durch die Glastür in die Kälte verschwinden.
»Hast du inzwischen herausgefunden, wann ein Leben gelingt?«, fragte ich Gustav. Sein Gesicht hellte sich schlagartig auf. Das war Gustav, dachte ich. Licht und Schatten. Obwohl er mir seinen Schatten nie zumutete. Er wartete ab, bis ich selbst danach fragte, als hätte er großen Respekt vor dessen Wirkung.
»Ich habe zumindest eine Idee, was beim Gelingen hilft«, sagte er und legte seine Hand auf meine. Dann zog er auf einmal ein kleines Päckchen hervor. »Ich hab was für dich. Vom Trödel.« Er räusperte sich verlegen. »Ich dachte, du könntest es gebrauchen.«
Das Ding in Gustavs langen Fingern war aus Metall und Glas. Ich hatte keinerlei Idee, was es sein könnte.
»Eigentlich eine Spielerei«, sagte er, als ich es entgegennahm. Es entpuppte sich als eine Art aufklappbare Lupe, handlich klein. Alles Kleine erhielt sofort meine vollste Aufmerksamkeit. Allein wegen seiner Winzigkeit. Ich war entzückt.
»Eine Lupe?« Ich drehte das Gerät fasziniert hin und her. »So schön klein.«
»Nicht wahr? Ein Fadenzähler.« Gustav nahm ihn mir aus der Hand, klappte ihn auf und zu und drehte ihn in seinen Fingern wie einen Schatz. »Braucht man im Textilgewerbe zur Beurteilung der Qualität der Stoffe. Einfacher Trick. Man nimmt nur ein ganz kleines Stück, das man mit dem Gerät stark vergrößert. Es fällt einem im Detail mehr auf, weil man sich stärker konzentriert.« Vorsichtig klappte er den Fadenzähler wieder zusammen und legte ihn zurück in meine Hand.
»Und warum heißt das Ding ›Fadenzähler‹?«
»Wenn du Textilien untersuchst, kannst du damit die Kett- und Schussfäden zählen.« Gustav strich sich durchs Haar. »Manchmal braucht man eben einen Fadenzähler. – Und manchmal wieder etwas Abstand.«
Ich war gerührt, dankte und hatte nichts zurückzugeben, aber das schien nebensächlich. Es wurde dunkel. Die freundliche Serviererin stellte überall Kerzen auf. Die Tische um uns herum hatten sich bald gefüllt, und wir rückten näher zusammen, um uns besser verstehen zu können. Ich sank langsam in eine große Stille hinein. Auf einmal war ich mir ganz sicher, dass ich die Geschichte nicht nur mir, meinem Vater und meiner Familie zurückerzählt hatte, sondern auch Gustav, der sie hören wollte und von dem ich mich jetzt verabschieden musste. Mein Kopf gab endlich Ruhe. Ordnung würde nie eintreten. Nur ein halb gesichtetes Chaos.
Wir standen auf, umarmten uns lange und machten es so, wie wir es besprochen hatten. Wir gingen die Spazierrunde, auf der wir so oft gemeinsam unterwegs waren – aber getrennt. Ich ging in die eine Richtung, Gustav in die andere Richtung. Einmal noch würden wir uns in der Mitte treffen, uns zunicken und weitergehen.