Beeindruckt von den mandelförmigen Augen und länglichen, ovalen Gesichtern afrikanischer Masken, befasste sich Picasso wiederholt mit seiner aktuellen Arbeit und übermalte die Gesichter der fünf Figuren. Die Vermischung der Maskenformen mit seinem Wunsch, visuelle Realitäten zu abstrakten Formen zu reduzieren und gleichzeitig mehrere Betrachterstandpunkte aufzuzeigen, führten zu diesem bahnbrechenden Werk, das den Künstler aus seiner afrikanischen Periode hin zum Kubismus bewegte. Die Herausforderung diese neue Kunstform weiterzuentwickelnden, wird den Künstler für mehrere Jahre seines langen Lebens beanspruchen. Cézannes Landschaften, ebenso wie seine Badenden, beeinflussten Picassos Darstellung der zerklüfteten Ebenen auf ähnliche Weise, um den Figuren regelmäßige Bewegungen zu verleihen. Das im Titel erwähnte Wort „Avignon“ verweist auf eine Straße im Rotlichtbezirk von Barcelona. Die Gesichter der Frauen (vor allem die zwei auf der rechten Seite) sind ebenfalls deutlich von der afrikanischen Kunst inspiriert. Die Pariser Ausstellung Art nègre 1906 hatte einen großen Einfluss auf Künstler ausgeübt. Ursprünglich hatte Picasso Männer (Matrosen und Studenten) in seinen Entwurfszeichnungen (Bd. 1, S. 94) dargestellt. Erst später entschloss er sich, mit der Darstellung von Frauenkörpern auf den Zuschauer als Eindringling in die Szene zu verweisen.
Les Demoiselles d’Avignon, 1907. Öl auf Leinwand, 243,9 x 233,7 cm. The Museum of Modern Art, New York
Dieses Gemälde ist ein gutes Beispiel für Picassos schnellen Übergang zum analytischen Kubismus. Picasso hob sein Ziel deutlich hervor, indem er mit der traditionellen bildlichen Darstellung brach. Einzigartig ist, dass die Zentralperspektive verschwand; es existieren nun verschiedene, simultane Blickpunkte. Die sitzende Frau, die immer noch Charakteristika afrikanischer und iberischer Skulpturen aufweist, ist auf den ersten Blick dem Betrachter frontal zugewandt. Bei näherem Hinschauen jedoch entdeckt der Betrachter, dass verschiedene Perspektiven auf einer Ebene konvergieren. Zum Beispiel wird die linke Brust der Frau von vorn gezeigt; das steht wiederum im Gegensatz zu ihrem Gesicht, welches aus der Vogelperspektive zu sehen ist. In den folgenden Jahren entwickelte Picasso gemeinsam mit Georges Braque (Bd. 1, S. 155 und S. 162) diesen analytischen Prozess weiter.
Brot und Obstschale auf einem Tisch, 1908-1909. Öl auf Leinwand, 163,7 x 132,1 cm. Kunstmuseum Basel, Basel
In seinen ersten Ansätzen hin zu dem, was später als „Kubismus“ bezeichnet werden wird, zeigt Picasso deutlich seinen Weg zu einem völlig neuen Raumverständnis auf. Wie in seinem Gemälde Frau mit einem Fächer stellt Picasso auch in diesem Bild verschiedene Blickpunkte gleichzeitig dar. So sieht der Betrachter zur gleichen Zeit die Frontansicht einer umgedrehten Tasse und eine Obstschale aus der Vogelperspektive.
Nachdem Picasso den Sommer 1909 in Horta de Ebro verbrachte, wo er einige seiner klassisch-analytisch kubistischen Gemälde malte, kehrte er nach Paris zurück und wandte sich der Bildhauerei zu. Er fertigte ein Porträt seiner Geliebten, Fernande Olivier, in einer analytischen Weise an. Das traditionelle Prinzip der einheitlichen Skulpturmaße nicht verletzend, modellierte Picasso die Oberfläche mit klar hervortretenden Trennungslinien der schiefen Flächen; diese starken Muskelakzente der konstruktiven Fugen setzen ein Spiel der eigenen Rhythmen fort, aber zerreißen die „Haut“ (Kahnweiler) der Skulpturoberfläche. Sich nach Jahrzehnten an den Frauenkopf erinnernd, sagte Picasso zu Penrose: „Ich glaubte, dass die Kurvenlinien, die an der Oberfläche zu sehen sind, sich innen fortsetzen mussten. Ich hatte die Idee, sie aus Draht zu machen.“ „Aber“, bemerkt Penrose, „die Lösung gefiel ihm nicht, da, wie er hinzufügte, ,es zu intellektuell, der Malerei zu ähnlich gewesen wäre’.“ (vgl. Studie dieser Arbeit, Bd. 1, S. 151)
Häuser am Berg, Horta de Ebro, 1909. Öl auf Leinwand, 81 x 65 cm. Museum Berggruen, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin
Picasso und seine Geliebte Fernande Olivier verbrachten den Sommer 1909 in Horta de Ebro. An diesem Ort hatte er die glücklichsten Momente seiner Jugend verbracht („Alles, was ich weiß, habe ich in Horta gelernt“, sagte er einmal). Hier setzte Picasso seine Dekonstruktion der Perspektive fort. In seiner Bewunderung für Cézannes Landschaften, die deutlich sichtbar wird, ging er noch einen Schritt weiter. Die Häuser auf dem Berg sind durch sehr vereinfachte geometrische Formen und aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt. Sogar der Himmel zeigt verschiedenste Facetten auf.
In der Geschichte der modernen Kunst ist Ambroise Vollard eine Schlüsselfigur. Er war einer der bedeutendsten Kunsthändler des späten 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er setzte sich für Künstler wie Cézanne, van Gogh und Gauguin, aber auch Picasso und andere Maler seiner Generation wie André Derain und Georges Rouault ein. Dieses Porträt von Vollard ist eines der besten Gemälde aus Picassos analytischer Phase. Zu diesem Zeitpunkt hatte er die Perspektive bereits vollständig zerstört. Nur noch durch Details kann der Betrachter die einzelnen Stücke zusammensetzen, um zu verstehen, dass das, was er sieht, ein Porträt ist. Trotz seines hohen intellektuellen Ansatzes, gelingt es Picasso dennoch, eine lebendige Darstellung von Vollard zu vermitteln.
Mädchen mit Mandoline (Fanny Tellier), 1910. Öl auf Leinwand, 100,3 x 73,6 cm. The Museum of Modern Art, New York
Die Thematik einer Mandoline spielenden Frau verwendete Picasso für seine Untersuchungen, die ihn zum Kubismus führten (vgl. Bd. 1, S. 144). Wie in dem Porträt von Ambroise Vollard bleiben Picassos Sujets seiner ersten analytisch-kubistischen Gemälde identifizierbar trotz der zahllosen Facetten, in die er die Perspektive bricht. Dies behielt er im Entwicklungsverlauf seiner analytischen Phase bei, obwohl seine und Braques Arbeiten fast gänzlich abstrakt wurden. So eng sie auch an der Weiterentwicklung des Kubismus zusammenarbeiteten und je hermetischer ihre Gemälde wurden, in einigen Fällen hatten auch sie Probleme bei der Unterscheidung ihrer eigenen Arbeit von der des anderen (vgl. Bd 1, S.154-155 und S.162-163).
Stillleben mit Flechtstuhl, 1912. Öl und Wachstuch auf Leinwand, mit Seil umrahmt, 29 x 37 cm. Musée Picasso Paris, Paris
Diese Arbeit markiert nicht nur den Beginn des synthetischen Kubismus, sondern ist auch das erste Beispiel für eine Technik, die danach nicht mehr aus der modernen Kunst weg zu denken war: die Collage. Der synthetische Kubismus war eine drastische Veränderung am Ende des analytischen, manchmal auch hermetischer Kubismus genannt, der die Gefahr der reinen Abstraktion, die Picasso unbedingt vermeiden wollte, mit sich brachte. In Stillleben mit Flechtstuhl ging er daher einen Schritt zurück in Richtung Realität, im wahrsten Sinne des Wortes: Picasso verwendet eine mit Wachstuch bespannte Leinwand, auf der ein imaginäres Flechtstuhlmuster gedruckt ist. Dabei wurde dieser Stuhl, ein bereits existierendes Objekt, zu einem Teil seiner eigenen Arbeit. Die Buchstaben „JOU“ können einerseits ein Fragment des Wortes journal (,Zeitung’) sein, aber andererseits auch von dem Verb jouer (,spielen’) stammen, als ob Picasso dieses wegweisende Kunstwerk als reines Kinderspiel betrachtete.
Der synthetische Kubismus war eine Periode, die mehr als nur Gemälde in Collagen transformierte. Ab 1912 fertigte Picasso mehrere Gitarren, die die Idee der Skulptur radikal veränderten. Um sie zu formen, wählte Picasso nicht die traditionelle Vorgehensweise. Weder schnitzte noch modellierte er sie, sondern verwendete eine neue Technik der Assemblage. Für die erste Version dieses Sujets (vgl. Bd. 1, S. 167) benutzte er Teilstücke aus Pappe. Später verwendete er Blech für den Gitarrenkörper und Drähte für die Saiten. Anstelle der traditionellen und edlen Materialien wie Marmor, Holzo der Bronze, wandte sich Picasso alltäglichen Stoffen zu, eine Entscheidung, die so modern war wie die Tatsache, dass das Volumen der Gitarre nicht in drei Dimensionen dargestellt ist, sondern durch verschiedene Ebenen. Jede moderne Plastik hat in irgendeiner Weise Picassos Gitarren zum Vorbild.
Inspiriert von Braques erstem papier collé (vgl. Bd. 1, S. 179), begann Picasso, ähnliche Arbeiten, die aus dem Ausschneiden und Einfügen von verschiedenen Papierstücken bestand, zu fertigen. Der synthetische Kubismus barg nicht nur ein neues Verständnis von Raum: Fragmentarische Bilder fungierten nun eher als Zeichen und nicht als deskriptive Darstellungen der Realität. In den besten Beispielen, wie Geige und Musikblatt, erreicht Picasso klare Kompositionen und schöne Farbkombinationen.