Rappel à l’ordre
1915-1925

1916 wurde Picasso dem Dichter Jean Cocteau Sergei Djagilew und dem Ensemble des Russischen Balletts vorgestellt. Daraufhin trat er diesem bei und lieferte ab 1924 Entwürfe für fünf Ballettproduktionen, die ihm Kontakte mit einem größeren Publikum ermöglichten. Während seiner Arbeit für das Russische Ballett lernte er die Tänzerin Olga Chochlowa kennen, die er im Jahr 1918 heiratete. Dies fiel zeitlich zusammen mit seiner künstlerischen Abkehr von der radikalen Avantgarde hin zu einer klassisch inspirierten Kunst, der sich auch andere Schlüsselfiguren der Moderne nach dem Ersten Weltkrieg zuwandten. Diese Tendenz wurde von Jean Cocteau als rappel à l’ordre (,Jemanden zur Ordnung rufen’) bezeichnet. In dieser neuen Phase malte Picasso dieses zarte Porträt seiner Ehefrau.

Porträt von Olga in einem Sessel (Detail), 1918. Öl auf Leinwand, 130 x 88,8 cm. Musée Picasso Paris, Paris

Porträt von Max Jacob, 1915. Bleistift auf Papier, 32,6 x 24,8 cm. Musée Picasso Paris, Paris

Picasso traf den Dichter Max Jacob auf seiner ersten Reise nach Paris. Bei seinem zweiten Besuch teilten sie sich ein Zimmer auf dem Boulevard Voltaire und wurden lebenslange Freunde. Während der Jahre, in denen Picassos radikale künstlerische Auseinandersetzungen für kurze Zeit zurücktraten, entstand diese Porträt von Jacob, das beweist, dass Picasso ein großes Talent zum detailgetreuen Zeichnen besaß.

Frau in Weiß, 1923. Öl und Bleistift auf Leinwand, 99,1 x 80 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York

Picasso fertigte diese Malerei auf seiner Rückkehr vom Cap d’Antibes an, wo er mit Olga und dem Maler Gerald Murphy und dessen Frau Sara den Sommer verbracht hatte. Obwohl nicht eindeutigt belegt ist, wen Picasso auf dem Bild malte (einige Autoren glauben, es sei Sara Murphy, andere verweisen auf Olga), schuf er ein großartiges Gemälde, obwohl das Bild unvollendet erscheint. Er benötigte nur wenige Mittel, um ein monumentales und zugleich zärtliches Bild zu gestalten.

Harlekin mit Geige, 1918. Öl auf Leinwand, 142,2 x 100,3 cm. The Cleveland Museum of Art, Cleveland

Die Jahre von 1915 bis 1925 zeigen, dass eine akademische Periodisierung auch für Picasso nicht immer funktionierte. Obwohl er in diesen Jahren neoklassische Werke produzierte, entwickelte er gleichzeitig auch den synthetischen Kubismus in Werken wie Harlekin mit Geige und Die drei Musiker weiter. Während dieser Zeit verwies Picasso konstant auf die Charakteristika des Harlekins, der als eines seiner Alter Egos interpretiert werden kann. Der Teilsatz „Si tu veux“ auf dem Notenblatt kann ein Verweis auf ein Volkslied sein, dessen Textzeile („Wenn du mich glücklich machen willst, Marguerite, so gebe mir dein Herz“) als Anspielung auf die Eheschließung Picassos mit Olga Chochlowa im selben Jahr gesehen werden kann.

Die drei Musiker, 1921. Öl auf Leinwand, 204,5 x 188,3 cm. Philadelphia Museum of Art, Philadelphia

Die zwei Versionen der drei Musiker, die Picasso 1921 malte, sind das Ergebnis seines spätkubistischen Stils (für die andere Version, vgl. Bd. 1, S. 241). Die Zusammensetzung ist ein Nachklang der Ausschneide-und-Aufklebe-Technik seiner synthetischen Kubismusphase in den 1910er Jahren. Das Bildpersonal besteht aus typischen Figuren der commedia dell’arte. Vermutlich leitet sich Picassos erneutes Interesse an dieser Thematik von seiner Zusammenarbeit mit Djagilews Russischem Ballett und seinem Aufenthalt in Italien ab. Die drei Personen wurden als Picasso und zwei seiner engsten Freunde, die er vor kurzem verloren hatte, interpretiert. Somit wäre die Figur des Pierrot (Mitte) Guillaume Apollinaire, der 1918 starb; der Mönch (rechts) wäre Max Jacob, der die Abgeschiedenheit in der St. Benedikt-Abtei in St. Benoît-sur-Loire im gleichen Jahr suchte, und der Harlekin würde nach wie vor für Picasso selbst stehen.

Drei Frauen an einer Quelle, 1921. Öl auf Leinwand, 203,9 x 174 cm. The Museum of Modern Art, New York

Diese drei Frauen veranschaulichen deutlich den Geist des rappel à l’ordre: eine Rückkehr zu den soliden Figuren des Klassizismus. Die Kunst der Antike war eine Quelle für ruhigere Betrachtung nach den gewalttätigen Avantgarden, die dem Ersten Weltkrieg vorausgegangen waren. In diesem Jahrzehnt sahen viele große Künstler der Moderne die Rückkehr zur Figur, einige in einer expressionistischen Weise, andere wie Picasso und Braque in einer modernen Version des Neoklassizismus.

Der amerikanische Manager aus dem Ballett ,Parade’, 1917. Sammlung des Théâtre royal de la Monnaie, Brüssel

Das Ballettstück Parade war Picassos erste Zusammenarbeit mit Djagilews Russischem Ballett. Es war eine gemeinsame Bemühung von Picasso, Jean Cocteau, dem Komponisten Erik Satie und dem Choreografen Léonide Massine. Dieses Ballett war in vielerlei Hinsicht revolutionär. So auch in Bezug auf Picasso, der einige der Kostüme entwarf (wie das des amerikanischen Managers). Diese wurden aus Pappe gefertigt und erlaubten den Tänzern nur wenig Bewegungsfreiheit (vgl. auch Bd. 1, S. 223). Die kubistischen Kostümentwürfe stehen konträr zu dem Bühnenvorhang, den Picasso in einem naturalistischen Stil entwarf (vgl. Bd. 1, S. 230-231).

Schlafende Bauern, 1919. Gouache, Aquarell und Bleistift auf Papier, 31,1 x 48,9 cm. The Museum of Modern Art, New York

Das Bild Schlafende Bauern ist ein deutliches Beispiel für den Klassizimus Picassos in den Jahren von 1915 bis 1925. Die Thematik des Werkes erinnert an die Arbeiten von Jean-François Millet und Vincent van Gogh, allerdings gibt es in Picassos Bild keine Dramatisierung, sondern nur die Ruhe der antiken Kunst. Mit dem beruhigenden und hellen Licht, das die Szene umgibt, assoziierte der Künstler den Süden Frankreichs und den Mittelmeerraum.

Panflöten, 1923. Öl auf Leinwand, 205 x 174 cm. Musée Picasso Paris, Paris

Panflöten ist möglicherweise das Meisterwerk aus Picassos neoklassizistischer Periode. Dieses Gemälde erinnert an die vergangene Welt der Antike auf jedwede Art. Thematisch greift Picasso hier den Mythos von Apollo und Marsyas auf. Die beiden kräftigen, sportlich aussehenden Jugendlichen befinden sich in einer idealisierten mediterranen Landschaft vor einem neutralen Hintergrund, vor dem sie die Freuden des Lebens entfalten können. Die Komposition ist schön in ihrer Einfachheit: Die zwei Streifen in Blau symbolisieren das Meer und den Himmel und bilden einen starken Kontrast zur minimalistischen Architektur und den gesund wirkenden Körpern der beiden jungen Männer. Trotz des klassischen Sujets der Arbeit verstecken sich dennoch moderne Referenzen in diesem Bild: ohne Zweifel drückt die Einheitlichkeit der Szene Picassos Bewunderung für Cézanne aus.

Zwei Frauen laufen über den Strand, 1922. Gouache auf Sperrholz, 32,5 x 41,1 cm. Musée Picasso Paris, Paris

In den frühen 1920er Jahren hatte Picasso Erfolg, und seine wirtschaftliche Lage war durchaus komfortabel. Seine Sommer verbrachte er im Süden Frankreichs, wo er begann, Szenen des Mittelmeerraums in einer zweifellos hedonistischen Stimmung zu malen. Zwei Frauen laufen über den Strand gehört zu seinen ersten großen Strandszenen. In diesem Bild laufen die zwei Frauen, gekleidet wie mythologische griechische Figuren, frei über den Sand, ihr Haar weht im Wind, mit jeweils einer Hand halten sie einander fest. Das Gemälde zeigt eine der modernen Elegien, die das Vergnügen mit dem Sujet des Mittelmeerraumes verbindet.

Büste und Palette, 1925. Öl auf Leinwand, 54 x 65,5 cm. Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid

Dies ist ein weiteres Werk, das sich stark am synthetischen Kubismus orientiert, obwohl es auch in eine andere Richtung weist. Picasso imitiert hier einen papier collé-Effekt, wie er es bereits in anderen Werken wie beispielsweise in Die drei Musiker getan hat. Trotz der kubistischen Moderne spielt auch der Klassizimus eine Rolle in diesem Gemälde, nämlich durch die ruhige Wirkung der Komposition und aufgrund der Tatsache, dass Picasso sich für die Darstellung einer griechisch-römischen Büste entschied.

Harlekin (Der Maler Salvadó), 1923. Öl auf Leinwand, 130 x 97 cm. Musée national d’Art moderne, Centre Georges-Pompidou, Paris

Dies ist eines der beiden Porträts, die Picasso von dem katalanischen Maler Jacinto Salvadó als Harlekin verkleidet anfertigte. Wie andere Werke jener Zeit (S. * und S. **) zeigen, war dies ein typisches Sujet Picassos während seiner gesamten Künstlerkarriere, vor allem aber in diesen Jahren. Im neoklassizistischen Stil der 1920er Jahre gemalt, scheint Salvadó vollständig in seine eigenen Gedanken versunken. Was jedoch große Aufmerksamkeit in dem Bild auf sich zieht, ist die Tatsache, dass Picasso diese große Leinwand unvollendet ließ.

Die Quelle, 1921. Bleistift auf Papier, 153,3 x 201 cm. Musée Picasso Paris, Paris

Erneut greift Picasso die klassische mythologische Bildsprache in dieser Arbeit auf. Die Frau versinnbildlicht eine Wasserquelle, die sich allegorisch auf Musen und poetische Inspirationen bezieht. Im 19. Jahrhundert war dieses Thema Jean-Auguste-Dominique Ingres vorbehalten, ein von Picasso bewunderter Künstler, der eines seiner berühmtesten Gemälde dazu schuf.