Wäre Brunetti das nur erspart geblieben. Duso hatte sich angehört wie sein eigener Sohn: zerknirscht und verängstigt, unsicher, ob er mit seinem Verhalten womöglich der Karriere seines Vaters schadete. Duso sprach nichts davon offen aus, doch in seiner Stimme schwangen vom ersten Wort an Furcht, Respekt und Scham mit, die ihn auch nicht verließen, als das Gespräch beendet war und er mit geschlossenen Augen dasaß, die offene Hand auf dem Tisch – wie ein neuzeitlicher Christus, der sich auf den ersten Nagel gefasst macht.

Brunetti hatte es genossen, dem jungen Mann auf den Zahn zu fühlen, sich mit ihm zu messen und dabei festzustellen, was für ein guter Anwalt der Jüngere eines Tages sein würde. Seine Haltung zu Beginn ihrer Auseinandersetzung hatte ihn beeindruckt. Der junge Mann war nicht auf den Kopf gefallen, ließ sich nicht zu Sarkasmus hinreißen und blieb unerschütterlich höf‌lich.

Wie zerbrechlich junge Menschen sind, dachte Brunetti, wie wenig steckt hinter ihrer Selbstsicherheit. Eine Generation, aufgewachsen Jahrzehnte nach Brunetti und seinen Altersgenossen, viele von ihnen in gepolsterten Nestern, mit erfolgreichen Eltern, die sich ihrerseits auf dem enormen wirtschaftlichen Aufschwung der sechziger Jahre ausruhen konnten.

Brunetti hatte mit den Eltern dieser jungen Leute die Universität besucht. Er erinnerte sich noch, wie sehr er

Er beugte sich vor. »Signor Duso?«

Keine Antwort.

»Signor Duso?«, wiederholte Brunetti.

Duso schreckte auf, sah seine Hand vor sich liegen und zog sie hastig zurück, bevor er sich aufrichtete. Er zupf‌te an seinen Ärmeln und richtete seine Krawatte. »Sì, Commissario?«, fragte er mit mühsam beherrschter Stimme.

»Meinen Sie, wir können weitermachen?«, fragte Brunetti. »Sie haben uns von Samstagabend erzählt«, fügte er hinzu, wohlwissend, dass das nicht stimmte. Aber vielleicht half es Duso, mit seiner Geschichte fortzufahren.

Duso legte beide Hände auf den Tisch, verschränkte die Finger und starrte sie an. »Marcello und ich wollten uns auf dem Campo Santa Margherita nach Mädchen umsehen.«

»Marcello Vio?«, fragte Brunetti.

Duso nickte. »Ja. Das machen wir alle paar Wochen, und vorigen Samstag war es wahrscheinlich zum letzten Mal warm genug, abends länger draußen zu sein.«

»Läuft es gewöhnlich gut für Sie?«

»Meistens«, sagte er, den Blick noch immer auf seine Hände gesenkt. »Manche haben mit mir zusammen studiert

»Und die Mädchen, die Sie am Samstagabend getroffen haben – kannten Sie die?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Die haben wir angesprochen. Ich kann Englisch; Marcello auch, allerdings nur sehr wenig, aber das hat den Mädchen nichts ausgemacht.«

Ob er vorhat, überlegte Brunetti, den zwei jungen Frauen die Schuld in die Schuhe zu schieben? Dass sie darauf bestanden hätten, nachts in die laguna hinauszufahren? Weil das doch so romantisch wäre? Und fahr schneller, bitte fahr schneller? Womöglich hätten die Mädchen auch noch vorgeschlagen, irgendwo an den Strand zu gehen?

»Warum?«, fragte Grif‌foni, vielleicht um derlei Ausreden zuvorzukommen.

»Nun ja, sie waren eben erst angekommen und den ganzen Tag herumgelaufen, waren fasziniert von der Stadt, und dann sagte eine der beiden, sie würde gerne die Kanäle bei Nacht sehen.« Er dachte kurz nach. »Da war es schon nach Mitternacht.«

»Aber Sie sind doch in die laguna hinausgefahren, oder?«, fragte Grif‌foni.

»Das war danach«, antwortete er.

»Wonach?«, fragte sie.

»Wir sind eine Stunde lang in der Stadt herumgefahren, dann meinte Marcello, ihm sei das zu langweilig, er habe Hunger und wolle zu dieser Bar drüben bei der Tolentinikirche, die hat bis zwei Uhr auf. Als ich das den Mädchen

»Um ein Uhr morgens?«, fragte Grif‌foni.

»Wir sind dann«, ging er über ihren Einwand hinweg, »zur Punta della Dogana gefahren und haben uns dort auf die Stufen gesetzt.« Seine Stimme entspannte sich ein wenig. »Sie hatten alles dabei: Salami, Schinken und Käse, zwei ganze Brote, Oliven und Tomaten. Das reichte für uns alle. Und eine Flasche Wein. Ich habe gefragt, wozu sie das alles mit sich schleppten, und sie sagten, sie hätten es am Abend auf ihr Zimmer mitgenommen, wenn sie in der Stadt keinen schönen Platz gefunden hätten.« Er sah zu Brunetti: »Und so veranstalteten wir ein Picknick.«

Lächelnd erzählte er weiter: »Als wir fertig waren, mussten wir alles einsammeln. Essensreste, Servietten, Einwickelpapier und Tüten wanderten in einen Plastikbeutel. Die, die JoJo hieß, legte ihn unter die Sitzbank hinten im Boot und meinte, den sollten wir morgen in die Mülltonne werfen.« Er saugte die Unterlippe ein, schloss kurz die Augen und sagte: »Wir mussten es ihr versprechen.«

»Und wie ging es weiter?«, fragte Grif‌foni.

»Wir sind … in die laguna hinausgefahren.«

»Wohin genau?«, fragte Brunetti, obwohl es letztlich nicht ins Gewicht fiel.

»Richtung Sant’Erasmo.«

»Ganz schön weit«, bemerkte Brunetti. »Und nachts nicht ungefährlich.«

»Ich weiß, ich weiß. Das habe ich Marcello auch gesagt, aber er meinte, jetzt seien wir schon mal unterwegs. Er wolle nur einmal um die Insel herumfahren und dann

»Dann beeil dich wenigstens, habe ich gesagt. Es war kalt und schon nach zwei, aber Marcello hat Salzwasser im Blut, auf einem Boot ist er in seinem Element. Es gibt nichts Schöneres für ihn. Also fuhren wir weiter, den Mädchen wurde kalt, mir auch, aber Kapitän Marcello wollte einfach nicht kehrtmachen.« Duso verstummte.

»Und dann?«, fragte Brunetti.

Duso sah zu Brunetti hinüber, nickte und nahm noch einen Anlauf. »Die beiden waren aufgestanden und hüpf‌ten frierend auf der Stelle, dabei hatten sie schon unsere Pullover über den Schultern.«

Wie er das Entscheidende vor sich herschiebt, dachte Brunetti. Doch dann kam es: »Plötzlich gab es einen Knall«, sagte Duso. »Fast wie eine Explosion, und das Boot kam zum Stillstand. Wasser schwappte über den Bug und die Seiten und durchnässte uns. Wir kamen so abrupt zum Stehen, wie wenn man bei caigo in eine Mauer reinläuft.« Als Venezianer benutzte er das venezianische Wort für sehr dichten Nebel.

»Die Mädchen stürzten. Ich war direkt neben ihnen, wurde aber vom Sitz geschleudert und hatte keine Chance, sie aufzufangen. Eine schlug mit dem Kopf an die Bootswand, die andere fiel lang hin und landete halb auf mir, krachte aber auch an die Wand. Ich glaube, sie hat sich den Arm gebrochen oder das Handgelenk.«

»Und Sie?«

»Ich blieb erst mal liegen. Ich hatte mir den Kopf angeschlagen und war ziemlich benommen. Die zwei fingen zu

Er sah von einem zum anderen. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, wo wir waren und ob das Boot womöglich gleich unterging.« Er schloss die Augen. »Ich weiß nur noch, wie dunkel es war. Ich konnte Lichter sehen, weit weg, vielleicht auf Sant’Erasmo.« Unruhig atmend, fuhr er fort: »Es ist so schwarz da draußen, und alles ist so weit weg.«

Grif‌foni und Brunetti warteten schweigend, dass er sich beruhigte.

»Ich habe die Mädchen gefragt, ob alles in Ordnung mit ihnen sei.« Er versuchte zu lachen, aber es kam nur ein erstickter Laut heraus. »Vermutlich wollte ich in Wirklichkeit wissen, ob sie am Leben waren.«

»Sie jammerten. Irgendwie konnte ich sie nebeneinander hinlegen und mit den Pullovern zudecken. Dann ging ich zu Marcello und fragte, was mit ihm los sei. Er sagte, er sei an die Kante der Sitzbank gekracht und habe schlimme Schmerzen. Ich sagte, wir müssten zum Krankenhaus, wegen ihm und den Mädchen.« Duso spürte, dass ihm die Stimme zu versagen drohte, und holte mehrmals mit geschlossenen Augen tief Luft, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.

»Aber womit ist das Boot zusammengestoßen?«, fragte Grif‌foni.

»Mit einer briccola. Viele dieser Holzpfähle reißen sich los, weil die Gezeiten immer stärker werden, und dann treiben sie in der laguna umher. Die sind ziemlich groß, und es kommt ständig zu Unfällen.«

»Marcello sagte, wir müssten zurück, ganz egal, wie. Ich wusste nicht, wo wir waren, und konnte das Boot nicht steuern. Also musste er das tun.«

»Und dann?«, fragte Brunetti.

»Die Mädchen lagen unten im Boot und jammerten leise vor sich hin, und ich saß neben Marcello und hielt ihn im Arm, um ihn warm zu halten. Der Motor funktionierte noch. Marcello sagte, wir bringen die Mädchen zurück, und dann müsste ich ihm helfen.«

»Wie hat er das gemeint?«

»Er sagte, wir bringen die Mädchen zum Pronto Soccorso.«

»Wie lange haben Sie zum Krankenhaus gebraucht?«, fragte Brunetti.

»Keine Ahnung, eine halbe Stunde vielleicht. Ich konnte nicht mehr klar denken, aber ich fand, es dauerte viel länger als auf dem Hinweg.«

»Und als Sie dort angekommen sind?«

»Marcello sagte, er könne auf den Steg klettern und das Tau halten, aber ich müsse die Mädchen hochheben und dort hinlegen. Er selbst habe zu starke Schmerzen.«

»Und so haben Sie es gemacht?«

Duso nickte mehrmals. »Er hat am Steg angelegt und ist raufgeklettert, wobei ich ihn von hinten stützen musste, damit er die Leiter hochkam. Dann gab ich ihm das Tau.«

»Und Sie konnten die beiden Mädchen hochheben?«, fragte Grif‌foni.

»Und Marcello?«

»Der blieb unterdessen oben. Ich sagte, er solle den Alarmknopf neben dem Eingang drücken, aber er stand da wie gelähmt. Also bin ich raufgeklettert und habe selbst den Alarm betätigt, damit jemand kommt und sich um die Mädchen kümmert.« Er sah zu Brunetti, dann zu Grif‌foni. »Marcello stand nur da, hob eine Hand, als wollte er mich aufhalten, sagte aber nichts.« Da keine Zwischenfragen kamen, fuhr er fort: »Ich bin wieder ins Boot geklettert, und kurz darauf kam Marcello mir nach. Dann sind wir weggefahren.«

»Verstehe«, sagte Brunetti.

Duso starrte mit weit aufgerissenen Augen die Wand hinter Brunetti an. Er öffnete den Mund, setzte zum Sprechen an, hielt inne, öffnete ihn wieder und sagte schließlich: »Ich habe ihr Gesicht gesehen, als ich sie ablegte.«