Da Brunetti es nicht eilig hatte, zur Arbeit zu kommen, spazierte er von der Haltestelle Vallaresso zur Piazza San Marco, um den so früh am Morgen kaum bevölkerten Platz in Augenschein zu nehmen. Tatsächlich hätte er die Leute dort an einer Hand abzählen können. Er schlenderte umher, erfreute sich an den im Wind flatternden Fahnen und den Pferden, die überm Portal des Doms mit zierlich erhobenen Vorderläufen auf die Piazza hinunterblickten, als überlegten sie, welchen Weg sie einschlagen sollten. Wie wunderschön sie waren, wenn auch nur Kopien, kühn und üppig wie so vieles, was sich ihm hier darbot.
Angesichts der fast menschenleeren Piazza fiel ihm die Mahnung ein, die seine Mutter ihm oft erteilt hatte: Bedenke, was du dir wünschst, es könnte in Erfüllung gehen. Jahrelang hatten wir Venezianer gewünscht, die Touristen sollten verschwinden und uns unsere Stadt zurückgeben. Tja, der Wunsch wurde erfüllt, und was haben wir jetzt davon?
Er schüttelte den Gedanken ab, blieb neben dem Glockenturm stehen und nahm das Panorama in sich auf. Konnte ein gewöhnlicher Sterblicher unempfindlich hierfür sein? Doch das war eine rhetorische Frage; achselzuckend wandte er sich ab und setzte seinen Weg zur Questura fort.
Als Erstes schaute er in Signorina Elettras Büro vorbei, doch die war außer Haus. Er wollte schon gehen, da bemerkte er Vice-Questore Giuseppe Patta, der im Durchgang zu seinem Büro stand und ihn beobachtete. Brunetti war erleichtert, weit genug von ihrem Schreibtisch stehen geblieben zu sein, so dass er nicht den Anschein erweckte, als schnüffle er in Signorina Elettras Papieren.
»Guten Morgen, Vice-Questore«, sagte er. »Ich wollte zu Signorina Elettra.«
»Warum?«, fragte Patta zu seiner Verblüffung; normalerweise zeigte der Vice-Questore keinerlei Interesse an Polizeiangelegenheiten, es sei denn, sie stellten seine Autorität in Frage oder verlangten eine Entscheidung.
»Ich hatte sie gebeten, etwas für mich in Erfahrung zu bringen, Dottore«, antwortete Brunetti vage.
»In welcher Sache?«, fragte Patta so ruhig, dass Brunetti sogleich Unheil witterte.
»Ihr Vater kennt einen sehr guten Uhrmacher auf der Giudecca. Ich habe eine alte Omega, die mein Großonkel …«
»Giudecca?«, fuhr Patta dazwischen. »Haben die nicht einen ganz schlechten Ruf?«
Brunetti gestattete sich ein kleines Lachen. »Ich denke, das geht auf alte Legenden zurück, Dottore. Aus der Generation meiner Eltern.«
»Sie wollen diese Leute doch nicht etwa beschützen, Brunetti?«
Statt zu sagen – wie man es bei jemand Fremdem tun würde –, dass die Giudecchini so schnell vor nichts geschützt werden müssten, antwortete Brunetti mit einem weiteren kleinen Lachen: »Selbstverständlich nicht, Vice-Questore.«
Zufrieden wandte Patta sich ab und verschwand in seinem Büro.
Als Nächstes ging Brunetti zu Vianello. Er betrat den Bereitschaftsraum im Erdgeschoss und sah den Ispettore am hinteren Ende mit zwei Beamten sprechen, alle drei in Uniform. Vianello signalisierte ihm, er komme gleich. Auf Vianellos Schreibtisch lag der neueste Gazzettino, Brunetti begann, in der Zeitung zu blättern. Er überflog eine Meldung über die Festnahme zweier Politiker in der Lombardei, die Wählerstimmen gekauft hatten; in einem anderen Artikel ging es um eine Großrazzia, bei der 138 Mafiakollaborateure festgenommen worden waren: Politiker, Geschäftsleute, Anwälte, ein Banker, alle beteiligt an Kreditwucher und dem Zuschustern von Straßenbauaufträgen. Zur Illustration gab es zwei der längst alltäglichen Fotos von eingestürzten Autobahnbrücken und Nahaufnahmen von bröckelnden Betonpfeilern, die mit ihren an allen Seiten herausstehenden Eisenstangen für Autofahrer nicht gerade vertrauenerweckend wirkten.
Er schob die Zeitung gelangweilt zur Seite; darunter kam La Repubblica zum Vorschein. Da er vom Zustand des Landes genug gelesen hatte, schlug er den Kulturteil auf. Und was erblickten seine staunenden Augen? Die Rezension einer neuen Übersetzung von Tacitus’ Annalen! Die hatte er als Student im Original gelesen – freilich mit Hilfe einer Übersetzung, die ihm schon damals äußerst fade vorgekommen war; dennoch hatte hinter dem schwierigen Latein und der drögen Übersetzung etwas Geniales hervorgeblitzt.
Als Vianello neben ihm auftauchte, ließ Brunetti die Zeitung sinken.
»Der Gazzettino ist dir wohl nicht gut genug?«, fragte Vianello und wies mit dem Kinn nach der beiseitegeschobenen Zeitung.
»Der ist für niemanden gut genug«, antwortete Brunetti.
»Warum liest du ihn dann jeden Tag?«
»Stimme des Volkes«, gab Brunetti zurück. »Er spricht von dessen Sorgen, Vorlieben, Verbrechen.«
Vianello machte ein skeptisches Gesicht.
»Außerdem«, gab Brunetti zu bedenken, »steht dort immer, welche Apotheken am Sonntag offen haben.« Er schob die Zeitungen zusammen.
Vianello nahm vor dem Schreibtisch Platz. »Also, was gibt’s?«
»Ich möchte dir etwas erzählen«, sagte Brunetti.
Vianello nahm Brunettis veränderten Tonfall wahr und rückte mit dem Stuhl näher.
»Ich war heute früh auf der Giudecca, um mir die Stelle anzusehen, wo Vios Onkel sein Transportgeschäft hat. Aber vorher habe ich mit dem Müllmann gesprochen, der für die Gegend zuständig ist.«
»Mit dem Müllmann?«, fragte Vianello überrascht.
»Er hat mir erzählt, Borgato besitze neue Boote, die aber nicht dort festgemacht sind«, erklärte Brunetti und berichtete dann, was er von Cesco über die Motoren erfahren hatte, über ihre Größe, viel zu groß für normale Transporte.
Vianello hatte sofort verstanden: »Wenn er kein Fischer mit einem sehr großen Boot ist, braucht er so starke Motoren nicht.« Sein Interesse war geweckt. »Ist das alles, was er dir erzählt hat?«
Brunetti antwortete zögernd: »Im Prinzip ja, aber es hat sich nicht so angehört, als ob er besonders viel für Borgato übrig hat.«
»Also kein zuverlässiger Zeuge.«
Brunetti ging darüber mit einem Achselzucken hinweg; er wusste selbst, wie wenig zuverlässige Zeugen es gab. »Er ist klug und ein guter Beobachter. Er hat zwei Männer gesehen, die die Motoren – mindestens 250 PS, wie er sagt – installiert haben. Seine Meinung über Borgato ändert nichts daran.«
Vianello lehnte sich zurück und verschränkte ohne ein Wort die Arme.
»Schon gut, schon gut, Lorenzo«, räumte Brunetti ein. »Es sind große Motoren auf Booten von jemand, der in der laguna Sachen befördert – von dem allerdings gemunkelt wird, er sei an Schmuggelgeschäften beteiligt.«
»Vielleicht braucht er die einfach zum Transport größerer Mengen«, sagte Vianello; nach einer langen Pause fügte er versöhnlich hinzu: »Meinetwegen. Ich werde ein paar Leute bitten, die Augen offenzuhalten.«
»Es könnte auch sein, dass er mit diesen Booten auf die Adria hinausfährt, um diese größeren Mengen abzuholen«, meinte Brunetti.
»Und worum könnte es sich handeln?«, fragte Vianello.
»Ich fürchte, da werden wir die Guardia Costiera um Unterstützung bitten müssen.« Ein Lächeln huschte über Brunettis Gesicht, als ihm ein Freund einfiel, der in dieser Angelegenheit nützlich sein könnte.
Brunetti hatte im Lauf der Jahre viele Freundschaften geschlossen: Manche hatten jahrzehntelang gehalten, andere hatten ihn eine Zeitlang begleitet und sich dann aufgelöst, oder genauer gesagt, er hatte das Interesse daran verloren und sich einfach nicht mehr gemeldet. Zu seinen Freunden zählten auch einige, die Paola »Guidos Streuner« nannte, Männer und Frauen, die auf den ersten Blick nicht in das Leben zu passen schienen, das sie sich ausgesucht hatten oder in das sie hineingestolpert waren. Aber Außenseiter waren sie nicht, denn die meisten von ihnen hatten ihren Platz gefunden und lebten dort durchaus zufrieden. Nur ihre Umwelt mühte sich vergeblich zu verstehen, warum sie sich dort eingerichtet hatten.
Brunetti wusste aus Erfahrung, wie Menschen am falschen Platz im Leben gefangen sein können. In seiner Schulzeit hatte er Giovanni Borioni kennengelernt, Sohn des Marchese einer Kleinstadt im Piemont, deren Namen Brunetti immer wieder vergaß. »Rocca Soundso« hatte Giovanni sie genannt, und dieser Name hatte den richtigen verdrängt. Giovanni lebte mit seiner Mutter nach deren Scheidung von dem Marchese in Venedig. Der Marchese war in Turin geblieben, bestand aber darauf, dass sein ältester Sohn eine klassische Ausbildung machen sollte: Also kam Giovanni auf das auch von Brunetti besuchte liceo classico und musste Latein lernen, wofür er wenig Begabung zeigte.
Drei Jahre lang gab Brunetti seinem Freund Giovanni Nachhilfe in Latein und anderen Fächern. Gemeinsam machten sie das Abitur, und Brunetti war nicht weniger stolz als der Marchese, dass Giovanni es geschafft hatte; auf der Abschlussfeier hatte er ihn umarmt, als der Name aufgerufen wurde. Dass Giovanni da schon längst nichts mehr von »amo, amas, amat« wusste, spielte weiter keine Rolle. Giovanni ließ darauf die lateinische Grammatik endgültig hinter sich, durchkreuzte die Pläne, die sein Vater mit ihm hatte, und studierte Agrarwissenschaft an der Universität Modena. Heute war er nicht nur Marchese, sondern auch Landwirt und bewirtschaftete die gewaltigen Ländereien seiner Familie in Rocca Soundso als Experimentierfeld für biologischen Anbau. Brunettis Kinder hatten in den Sommerferien auf Giovannis Ländereien gearbeitet und waren fit und braungebrannt nach Venedig zurückgekehrt, mit noch größerem Respekt vor dem unermesslichen Wert der Natur, als sie ohnedies schon hatten.
Aber genug davon, denn hier geht es nicht um Brunettis Freundschaft mit Giovanni, sondern mit dessen jüngerem Bruder Timoteo, einem auf Seerecht spezialisierten Rechtsanwalt und Berater von Marine und Guardia Costiera, jenen Kräften, die für die Verteidigung von Italiens Seegrenzen zuständig sind.
Wenn Brunetti und Timoteo gelegentlich miteinander zu tun hatten, bekundete der Anwalt jedes Mal aufrichtiges Interesse an Brunettis Arbeit und tat seine eigene »als stumpfsinniges Aktenwälzen« ab. Brunetti seinerseits, sehr belesen in venezianischer Geschichte, war stets an seerechtlichen Fragen interessiert. Und da es in der Natur des Menschen liegt, jemanden zu mögen, der Interesse an der eigenen Arbeit zeigt, ergab es sich, dass diese zwei Männer, die sich zwar selten sahen, aber einander regelmäßig schrieben, sich als gute Freunde betrachteten.
Nicht verwunderlich also, dass Brunetti seinen Freund Timoteo anrief und ihn bat, ihn mit dem Leiter der Guardia Costiera in Venedig zusammenzubringen, und ebenso wenig verwundert es, dass Capitano Ignazio Alaimo, Chef der Capitaneria di Porto, den Anruf von Commissario Guido Brunetti entgegennahm, nachdem sein Freund Timoteo Borioni ihn darum gebeten hatte.
Die Mühlen der Götter mahlen außerordentlich langsam; die der italienischen Bürokratie jedoch sind zu enormem Tempo fähig, je nachdem, von wem sie in Gang gesetzt werden. Im Falle eines Anwalts für Seerecht, der nicht nur der Bruder eines Marchese war, sondern auch mehrere Admirale zu seinen Freunden zählte – von denen einer für den zusätzlichen goldenen Streifen auf Capitano Alaimos Rangabzeichen gesorgt hatte –, kam die an eben diesen Capitano gerichtete Bitte um einen Gefallen einem Befehl gleich. Und so wurde Brunettis Anruf unverzüglich zu dem Capitano durchgestellt, und dieser erklärte dem Commissario, er sei herzlich willkommen, wenn er ihn noch am heutigen Nachmittag besuchen wolle. Lieber morgen Vormittag? Jederzeit. Um elf? Perfekt.
Paola war einmal vom Fachbereich Italienisch der Universität Oxford, wo sie studiert hatte, eine Gastprofessur angeboten worden – das Thema blieb ihr überlassen, Hauptsache, es ließen sich Parallelen zu Italien ziehen. Lange hatte sie überlegt, welchen Roman von Henry James sie nehmen sollte, bis sie im Urlaub zufällig auf Maria Edgeworths Patronage stieß. Brunetti erinnerte sich noch, wie er in Sardinien am Strand lag und versuchte, Livius zu lesen, während Paola ihm immer wieder ganze Absätze vorlas, in denen geschildert wurde, wie Dummköpfen, Schurken und Faulpelzen dank der Begünstigung durch einflussreiche Freunde ihrer Eltern der gesellschaftliche Aufstieg gelang.
Anfangs hatte Brunetti befürchtet, das Buch werde sie zu endlosen politischen Moralpredigten anstacheln – all diese niederträchtigen Söhne, schwachsinnigen Vettern und haarsträubend arbeitsscheuen Gestalten, deren Karriere allein durch Verwandte in hohen Regierungsämtern, Schwiegereltern mit guten Beziehungen oder schlicht durch Erpressung befördert wurde.
Doch dazu ließ Paola sich nicht hinreißen, nur hin und wieder blickte sie von der Lektüre auf und bemerkte: »Ah, genau wie mein Onkel Luca!« – »Ja, genau so ist Luigino an seinen Job gekommen!« Oder: »Exakt wie der, der seinen Botschafterposten verloren hat, weil er eine Affäre mit der Frau des Landwirtschaftsministers hatte.«