Beide schwiegen. Vio hielt den Kopf gesenkt und schob sein Handy auf der Bettdecke hin und her. Brunetti versuchte, das Durcheinander seiner Gedanken und Gefühle zu ordnen. Wie würden die Richter entscheiden – sollte es jemals zu einem Prozess kommen? Wie ergründete oder bewies man die Absichten eines Menschen? Nur Taten zählten, und immerhin hatten die beiden die Amerikanerinnen ja wohl zum Krankenhaus gebracht, um ihnen ärztliche Hilfe zu verschaffen.
»Hatten Sie getrunken?«, fragte Brunetti.
Vio klang geradezu entrüstet. »Nein, Signore. Ich trinke nicht, wenn ich mit dem Boot unterwegs bin.«
»Im Gegensatz zu den meisten Ihrer Kollegen«, bemerkte Brunetti trocken.
Vio lächelte verständnisinnig.
»Drogen?«, fragte Brunetti in ebenso sachlichem Ton.
»Mag ich nicht.«
Vertraulich hakte Brunetti nach: »Haben Sie mal welche ausprobiert?«
»Einmal. Da war ich vierzehn. Was das war, weiß ich nicht, aber mir ist schlecht geworden, sehr schlecht. Danach nie wieder.«
»Waren Sie am Steuer, als es zu dem Unfall kam?«
»Selbstverständlich«, antwortete Vio, überrascht von der Frage. Brunettis Miene veranlasste ihn zu der Erklärung: »Abgesehen von zwei anderen Männern, die für meinen Onkel arbeiten, bin ich der Einzige, der das Boot steuern darf.«
Das klang wie der Lehrsatz des Pythagoras, dachte Brunetti, auch wenn er bezweifelte, dass Vio den kannte. »Verstehe«, sagte er. Und dann, neugierig: »Kann denn Duso kein Boot steuern?«
»Doch, Signore. Ich habe es ihm beigebracht. Er kann es gut.«
»Aber nicht gut genug für das Boot Ihres Onkels?«
Vio ließ sich mit der Antwort Zeit. »Es ist gegen die Vorschriften. Er hat keine Zulassung, Boote mit mehr als 40 PS darf er nicht fahren.« Und dann: »Außerdem käme er mit diesem Boot nie zurecht.«
Brunetti dachte, wenn ich Vianello oder sonst irgendwem, der sich mit Booten auskennt, mit der Behauptung käme, dass man nur die in seiner Zulassung angegebenen Boote steuern darf, würden die sich schieflachen. Eine Zulassung war bloß ein Anhaltspunkt, keine Grenze, eine Art nichtbindende Formalität. Manch einer fuhr jedes beliebige Boot, ohne Rücksicht auf die Pferdestärken. Nicht die wirklich großen Transportboote, gestand Brunetti sich ein, aber die kleineren ganz bestimmt.
»In der Questura«, begann Brunetti, »haben Sie erklärt, Ihre Zulassung sei für alle Boote Ihres Onkels gültig.«
Sichtlich stolz auf seine Fähigkeiten, bestätigte Vio: »Ja. Mein Onkel hat mir den großen Führerschein bezahlt. Er will keinen Ärger mit der Wasserpolizei.« Unsicher, ob er den Gedanken aussprechen solle, fügte er schließlich hinzu: »Ich habe alle Prüfungen problemlos bestanden. Auf Anhieb.« Sein stolzes Lächeln machte ihn um Jahre jünger.
»Schön für Sie«, gratulierte Brunetti. »Wie lange arbeiten Sie schon für Ihren Onkel?«
»Seit meiner Kindheit. Boote be- und entladen.«
»Wie alt waren Sie da?«, fragte Brunetti.
»Fünfzehn. Vorher hat er mich nicht gelassen.«
»Weil Sie zur Schule gingen?«
Vio lachte, stöhnte aber gleich vor Schmerzen auf. »O nein. Man darf erst mit fünfzehn als Lehrling anfangen. Die Schule war ihm egal.« Er sah Brunetti mit offenem Mund an. »So etwas sollte ich Ihnen nicht erzählen, oder?«
Jetzt war Brunetti mit Lachen an der Reihe. »Ich war auch fünfzehn, als ich meinem Vater beim Entladen von Booten geholfen habe. Also vergessen Sie’s.«
»Er hat mich bezahlt«, sagte Vio mit einem Ernst, als sei der private Anstand ein Ausgleich dafür, dass der Neffe die Schule hatte abbrechen müssen.
Brunetti lachte aus voller Kehle. »Das wäre dem Boss meines Vaters niemals eingefallen.«
»Wo haben Sie denn gearbeitet?«, fragte Vio neugierig.
»Überall und nirgends. Mein Vater war Tagelöhner, mal hier, mal da. Meistens in Marghera, manchmal am Rialto. Ich bin mitgegangen, um ihm unter die Arme zu greifen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Vio.
»Mein Vater war lungenkrank, die Arbeit war eigentlich zu schwer für ihn, aber er hatte einen guten Ruf: Jeder wusste, dass er niemals etwas stehlen würde. Deswegen holten ihn die Bootsbesitzer, und er nahm mich mit, damit sein Tagewerk auch wirklich getan war.« Vio schien beeindruckt, ja überrascht, als hinter dem Polizisten ein Mensch aus Fleisch und Blut zum Vorschein kam.
»Irgendwie sind sie sich ähnlich, mein Vater und Ihr Onkel«, sagte Brunetti lächelnd.
Vio wirkte verwirrt. Erst nach einer Weile sagte er mit Bedauern in der Stimme: »O nein, keineswegs.« Er nahm erschrocken die Hand vor den Mund, als sei ihm das herausgerutscht.
Brunetti wollte gerade nachhaken, als es kurz anklopfte und eine Schwester ins Zimmer kam. Eine kräftig gebaute Frau mit rundem Gesicht, alt genug, um Vios Mutter zu sein. Sie nickte Brunetti wortlos zu und wandte sich an Vio.
»Ich habe eine mitgebracht, Marcello. Ich musste erst die richtige Größe finden.« Lächelnd hielt sie ihm etwas entgegen, das wie eine Art kugelsichere Weste aussah, dunkelbraun und aus einem steifen Material. »Wenn du das tagsüber trägst, garantiere ich dir, dass du wieder arbeiten kannst«, erklärte sie, stolz auf ihren Fund. Sie klappte die Weste auf, näherte sich dem reglos Liegenden und sagte: »Bitte sehr. Willst du sie nicht gleich mal anprobieren und sehen, ob es hilft?« Sie drehte sich zu Brunetti um. »Die ist stabil, Signore, und hält ihn aufrecht, so dass die Rippen nicht an seine Lunge kommen.« Sie schwenkte die Weste vor Vio hin und her, als wolle sie eine Überraschung herausschütteln.
Vio rührte sich nicht und schenkte der Weste kaum einen Blick.
»Na komm schon, Marcello, probier sie mal an. Ich bin mir sicher, die passt perfekt. Ich habe mir in der Reha alles Mögliche zeigen lassen und hatte fast schon aufgegeben, als diese auftauchte.« Wieder hielt sie ihm die Weste aufmunternd hin.
Der junge Mann richtete sich auf und rutschte mit den Beinen an die Bettkante. Vorsichtig stellte er einen Fuß auf den Boden, dann den anderen, stützte sich mit den Händen am Bett ab und erhob sich.
»Dreh dich um, und streck den rechten Arm aus.« Vio gehorchte, und die Schwester schob die Weste darüber. Einmal dabei, angezogen zu werden, schlüpfte er mit dem anderen Arm hinein und drehte sich, um ihr das Ergebnis zu zeigen. Brunetti dachte an die Szene in der Ilias, wo Achilles einen »Harnisch, den strahlenden, heller denn Feuer« angelegt bekommt.
Die Schwester ging um Vio herum und prüfte den Sitz von allen Seiten. »Wie gesagt: perfekt.« Sie half ihm mit dem Klettverschluss, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war.
Plötzlich hatte sie ein Taschentuch in der Hand und wedelte damit vor ihm herum.
»Versuch, mir das wegzunehmen«, sagte sie.
Brunetti erschauderte, als er sah, wie tief sie es plötzlich hielt und was sie von Vio verlangte, aber der junge Mann bückte sich gehorsam, und als er zugreifen wollte, bückte sie sich mit ihm und hielt das Taschentuch noch tiefer. Vio folgte der Bewegung und nahm es ihr lachend aus der Hand. Dann schwenkte er es über seinem Kopf, gab es ihr zurück und sagte: »Ein Wunder. Mit dem Ding tut mir nichts mehr weh.«
Die Schwester sah zu Brunetti, der ihr an Alter und Erfahrung näher war. »Die Jungen wollen nie hören.«
Brunetti erwiderte lächelnd: »Brava, Signora.«
Ans Bett gelehnt, fragte Vio: »Darf ich sie anbehalten?«
»Ja. Lass sie über Nacht an und morgen früh zum Röntgen. Und nach der Entlassung solltest du sie auch noch ein paar Tage tragen.«
»Heißt das, ich kann früher nach Hause?«, fragte Vio.
»Natürlich, du kommst bald hier raus«, sagte sie lächelnd.
»Gut«, sagte Vio. »Ich muss wieder an die Arbeit.«
Die Schwester legte ihm eine Hand auf den Arm. »Aber nichts überstürzen, Marcello.« Sie wartete, bis er wieder unter der Decke lag, verabschiedete sich von beiden und verließ den Raum.
»Tut es wirklich nicht mehr weh?«, fragte Brunetti.
Vio hielt den Kopf schief und nickte kaum merklich. Er war ein richtiger Mann, und richtige Männer kennen keinen Schmerz. »Ist schon okay, und ich werde versuchen, vorsichtig zu sein«, sagte er, sah Brunettis besorgte Miene und fügte hinzu: »So schlimm ist das gar nicht. Ich hab mir mal den Fuß gebrochen: Das war schlimm.«
»Ja, Füße sind grauenhaft«, bestätigte Brunetti, um ein wenig Mitgefühl zu bekunden. Selbst wenn es einer früheren Verletzung galt, könnte das helfen. Oder etwas, wo es ihnen ähnlich ergangen war? »Es muss schön für Sie sein«, sagte er, »eine feste Arbeitsstelle zu haben.«
Vio sah ihn entgeistert an. »Warum?«, fragte er. »Was reden Sie da?«
»Meine Freunde erzählen mir ständig, ihre Kinder fänden keine Arbeit, sosehr sie sich auch bemühen.«
Vio schien schockiert. »Das habe ich nicht gewusst«, sagte er schließlich.
»Manche sind schon seit Jahren mit der Schule fertig und hatten noch kein einziges Vorstellungsgespräch.«
»Das ist schlimm«, sagte Vio voller Mitgefühl. »Ein Mann muss doch Arbeit haben.«
»Das finde ich auch«, sagte Brunetti, froh, dass er dabei keine Hintergedanken hatte. Den Hinweis, dass auch Frauen Arbeit brauchen, sparte er sich. »Ihre Freunde haben es besser?«, fragte er.
»Es gibt immer Arbeit, man muss nur wollen«, sagte Vio. »Boote müssen repariert werden, man braucht Leute, die sie beladen, und überall in der Stadt sieht man Männer, die Bestellungen ausliefern, die Kisten von den Booten holen und vor den Supermärkten aufstapeln. Bei Sanierungsarbeiten werden auch immer Leute gebraucht, aber da wird die schwere Arbeit schon von den Bosniern und Albanern gemacht. Wenn man einen kennt, der eine Firma hat – oder vielleicht kennt in der Familie jemand so einen –, kann man auch auf dem Bau noch einen Job bekommen, und sei es, dass man Schutt auf die Boote lädt oder Zement zu den Baustellen bringt.« Vio ließ den Kopf ins Kissen sinken und schloss die Augen. »Geschäfte wie Ratti oder Caputo, die suchen immer Leute, die die Herde und Waschmaschinen ausliefern und anschließen.« Er richtete sich bequem ein. Schon wollte er noch mehr Jobs aufzählen, von denen junge Männer in den Ketten ihrer Universitätsabschlüsse nicht einmal wussten. Doch da fielen ihm auch schon die Augen zu, und sein gleichmäßig gehender rauer Atem verriet, dass er eingeschlafen war.
Von Schmerzen befreit und mit seinen im Schlaf entspannten Zügen sah er aus wie ein großer kleiner Junge. Brunetti erschauderte bei dem Gedanken, dass er ohne die Witwenpension, die seine Mutter erhielt, als er noch ein Teenager war, selbst froh gewesen wäre um solch einen Job oder wenn ein alter Freund seines Vaters ihn irgendwo empfohlen hätte. Erst letzte Woche hatte er gelesen, dass sich auf ein Stellenangebot von Veritas für drei Müllmänner fast zweitausend Bewerber gemeldet hatten, die meisten davon mit Universitätsabschluss.
Die Heimat von Dante, Michelangelo, Leonardo, Galileo und Columbus – und zweitausend junge Männer konkurrierten um ein paar Jobs als Müllmänner. »O tempora, o mores«, flüsterte er und verließ leise das Zimmer.
Vor dem Krankenhaus rief er Vianello an und erkundigte sich, was dessen Freunde auf der Giudecca über Pietro Borgato gesagt hatten. Nicht viel, wie sich herausstellte. Nach dem, was Vianello so unauffällig wie möglich herausgebracht hatte, galt Borgato zwar als Rauhbein, aber als geschäftstüchtig. Seine Exfrau, die aus einer Kleinstadt in Kampanien stammte, war mit einer ihrer beiden Töchter wieder dort hingezogen. Die andere lebte mit ihrem Mann in Venedig. Sein Neffe arbeitete für ihn, doch war man sich einig, dass Marcello das Geschäft niemals übernehmen werde – und sei es nur, weil sein Onkel ihn nicht für geeignet hielt. Niemand, mit dem Vianello gesprochen hatte, sah das anders. Allgemein war man der Überzeugung, Marcello sei ein guter Junge, nur leider in einer Welt, wo gute Jungen für ein Geschäft wie das seines Onkels oder dafür, wie sein Onkel das Geschäft betrieb, nicht gemacht waren. Mehr hatte Vianello nicht zu berichten; Brunetti dankte ihm und beendete das Gespräch.
Als Brunetti in die Questura kam, ließ der Wachmann am Empfang die zum Gruß erhobene Hand in der Luft, um ihn zu stoppen. »Da ist jemand, der Sie sprechen möchte, Commissario. Ein Venezianer. Ich habe ihn gebeten, dort drüben zu warten«, sagte er und wies ans andere Ende der großen Eingangshalle.
Filiberto Duso erhob sich von einem der vier Stühle vor dem verblichenen Foto eines früheren Questore, das noch niemand in der Questura sich je genauer betrachtet hatte.
Der junge Mann machte ein paar Schritte in Brunettis Richtung, hielt inne und machte noch ein paar Schritte auf ihn zu.
»Ah, Signor Duso. Womit kann ich Ihnen behilflich sein?«, sagte Brunetti und legte mit ausgestreckter Hand den Rest des Wegs zurück.
Duso lächelte schwach, ließ Brunettis Hand los, räusperte sich ein paarmal und sagte schließlich: »Ich möchte mit Ihnen sprechen, Commissario.« Er sah sich nervös um und fügte hinzu: »Ich muss.«
»Selbstverständlich. Worum geht es?«
»Marcello«, stieß er heiser hervor, fast, als ob der Name ihm Angst machen würde.
Brunetti fragte besorgt: »Stimmt was nicht?«
»Er hat Angst, dass man ihm etwas antun will.«