Das Abendessen, das Paola und Chiara gerade servierten, als er nach Hause kam, half Brunetti nicht aus seiner niedergedrückten Stimmung. Es gab Kürbissuppe, die er liebte, und dann gegrillten branzino, doch selbst diese traditionell Wunder wirkende Kombination versagte an diesem Abend: Er saß nur da, hörte zu, was gesprochen wurde, wollte sich aber nicht an der Unterhaltung beteiligen.
Chiara beklagte sich über eine neue Vorschrift, die nächste Woche in Kraft trat: Die Schüler sollten ihre telefonini vor Unterrichtsbeginn in Schließfächer ablegen – jeder bekam einen eigenen Schlüssel. In der Mittagspause durften sie ihr Handy benutzen, aber nicht im Klassenzimmer und auch nicht in den Nachmittagsstunden.
Chiara fand das skandalös und sprach von ihrem »Recht«, tagsüber mit der Welt in Kontakt zu bleiben, sie sei alt genug, sich ihre Zeit selbständig einzuteilen. »Wir werden behandelt wie Sklaven«, meinte sie mit jenem gerechten Zorn, wie ihn jene an den Tag legen, deren Privilegien in Gefahr sind.
Brunetti bezwang sich und legte seine Gabel geräuschlos auf den Teller. »Entschuldige?«, fragte er.
Chiara sah verwirrt zu ihrem Vater, dessen ruhige Stimme ihren Redefluss gebremst hatte: »Wofür?«
»Du hast gesagt, ihr werdet behandelt wie Sklaven«, erklärte Brunetti.
»Genau«, erwiderte sie. Sein beherrschter Tonfall hätte sie eigentlich warnen müssen. »Wie Sklaven behandeln die uns.«
»Sklaven?«, wiederholte Brunetti.
»Sklaven«, bestätigte Chiara mit derselben Inbrunst wie Foxe im Buch der Märtyrer.
»Inwiefern?«, fragte Brunetti und griff nach seinem Glas.
»Hab ich doch gesagt, papà. Die schreiben uns vor, unsere Handys in der Schule nicht mehr zu benutzen.«
Brunetti registrierte den Widerspruch zu dem, was sie vorhin erzählt hatte, unterließ es jedoch, seine Tochter darauf hinzuweisen.
Er trank einen Schluck Wein, stellte das Glas ab und schob es auf dem Tisch hin und her. Paola und Raffi waren verstummt und beobachteten ihn, genau wie Chiara, gespannt. Er wandte sich zu seiner Tochter. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Vergleich verstehe«, sagte er sanft.
»Aber ich sag’s dir doch, papà. Die verbieten uns, in der Schule unsere Handys zu benutzen.«
Brunetti lächelte. »Das habe ich gehört, mein Engel. Aber den Vergleich verstehe ich nicht.«
»Was gibt’s da zu verstehen?«, fragte sie. »Die nehmen uns unsere Freiheit.«
Er ließ den Wein im Glas kreisen, nahm einen winzigen Schluck und nickte, wobei nicht klar war, ob dieses beifällige Nicken dem Wein oder Chiaras Erklärung galt. Schließlich fragte er: »Und das ist eine Definition von Sklaverei?«
Raffi und Paola saßen stumm wie Eulen. Brunetti sah bewusst nicht zu ihnen hin, aber auch nicht direkt zu Chiara, die nun aber die Gefahr im Verzug witterte, ihre Gabel ablegte und ihm ihre volle Aufmerksamkeit zuwandte.
»Papà«, sagte sie lächelnd. »Du willst mir eine deiner Fallen stellen, richtig?« Ihr Kinn in die Hände gestützt, sah sie ihn an. »Als Nächstes verlangst du eine Definition von Sklaverei, und ich kann dir keine geben, die alles abdeckt, und sowie ich es versuche, zeigst du auf die Löcher, die sie hat, groß wie Melonen.«
Sie richtete sich auf, streckte den linken Arm, wie um den Lauf eines unsichtbaren Gewehrs zu stützen, und krümmte den Zeigefinger der rechten Hand um den imaginären Abzug. Sie zielte auf etwas über Brunettis Kopf, drückte ab und rief »Peng!«, bevor der Rückstoß sie nach hinten warf.
Dann drehte sie sich nach rechts, hob das Gewehr und rief: »Da ist noch eine. Eine Schlechte Definition!« Sie visierte am Lauf entlang, und schon ging die zweite Schlechte Definition auf den Tisch nieder. Abermals »Peng!« und wieder ein Opfer, das mit Getöse zu Boden ging, indem sie das Gewehr weglegte und mit der flachen Hand auf den Tisch schlug. Noch eine erledigte Schlechte Definition.
Brunetti sah ihr schweigend zu, schockiert wie alle Eltern, wenn sie berechtigten Protest ihrer Kinder vernehmen. Er senkte den Kopf auf den Tisch, presste die Wange ans Tischtuch und murmelte auf Englisch: »How sharper than a serpent’s tooth …« Doch ehe er mehr sagen konnte, brachten Chiara, Paola und Raffi den Satz im Chor für ihn zu Ende: »… it is to have a thankless child.«
Die Ankunft des Nachtischs stellte wieder so etwas wie Ordnung her.
Punkt neun Uhr am nächsten Morgen traf Brunetti in der Questura ein. Auch wenn er Patta nichts zu berichten hatte, hielt er es für taktisch klug, sich bei seinem Vorgesetzten blicken zu lassen und ihn zu dem aktuellen Fall zu konsultieren. Man bekam Patta leichter unter Kontrolle, wenn er selbst alles unter Kontrolle zu haben glaubte. Signorina Elettra saß im Vorzimmer und blätterte in Il Sole 24 Ore, der einzigen Zeitung, die sie nach eigenem Bekunden für lesenswert hielt. Er hatte keine Ahnung, was sie an dieser Wirtschaftszeitung interessierte: Nie hatte sie davon gesprochen, Reichtum anhäufen zu wollen. Aber dafür kannte sie sich mit den großen nationalen und internationalen Firmen bestens aus und äußerte sich positiv oder negativ, aber stets fundiert, über jene Manager oder Mitarbeiter dieser Firmen, die sich in den Gerichtssälen – seltener in den Gefängnissen – im Nordosten Italiens die Klinke in die Hand gaben.
»Guten Morgen, Signorina«, sagte er. »Ist der Vice-Questore zu sprechen?«
»Ah«, hauchte sie und wurde förmlich, wie immer, wenn sie Pattas Abwesenheit zu vermelden hatte. »Ich fürchte, Dottor Patta kommt erst morgen Nachmittag wieder ins Haus.« Brunetti schickte sich mit einem Lächeln bereitwillig in sein Schicksal.
Sie faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. »Kann vielleicht ich Ihnen weiterhelfen?«
Brunetti ließ sich das nicht zweimal sagen. »Vorgestern haben Commissario Griffoni und ich mit einem Capitano Alaimo von der Guardia Costiera gesprochen«, begann er und registrierte befriedigt, dass Signorina Elettra einen Notizblock heranzog. »Den könnten Sie mal unter die Lupe nehmen.«
»Was Bestimmtes?«, fragte sie, schon neugierig geworden.
»Alles, was Sie finden können«, meinte er, »alles, was für uns interessant sein könnte. Bisher weiß ich nur, dass er Neapolitaner ist.«
Signorina Elettra pflegte den kleinsten Happen Information mit demselben Eifer zu betrachten, mit dem ein Hai ein Bein beäugt, das von einem Surfbrett baumelt.
»Dann fange ich mit seiner Leistungsbeurteilung an«, sagte sie. Nicht, dass sie, beide Hände am Boden, in Startposition ging wie eine Sprinterin, aber ihr Atem wurde schneller, und so beeilte sich Brunetti, sie mit ihrem Computer allein zu lassen.
Doch bevor er ging, berichtete sie ihm noch, das Krankenhaus in Mestre habe angerufen und gebeten, der für die Ermittlungen zu den verunglückten Amerikanerinnen zuständige Commissario möge sich bitte bei ihnen melden. Sie habe versichert, dass er baldmöglichst zurückrufen werde. Brunetti nickte.
Im Flur rief er Griffoni an und sagte nur ein einziges Wort: »Kaffee?«
Griffoni kam in die Bar, bestellte am Tresen etwas bei Bamba, dem senegalesischen Einwanderer, der seinem Chef Sergio mittlerweile fast die ganze Arbeit abnahm, dann setzte sie sich zu Brunetti in die Nische.
Bevor er sie auf den neuesten Stand bringen konnte, kam Bamba an den Tisch und servierte Brunetti einen Kaffee und Griffoni eine Kanne heißes Wasser. »Verbena haben wir leider nicht, Dottoressa, aber suchen Sie sich hiervon etwas aus«, sagte er und stellte ihr eine Untertasse mit vier oder fünf verschiedenen Teebeuteln hin. Er deutete eine Verbeugung an und ging wieder hinter die Theke zurück.
»Kein Kaffee?«, fragte Brunetti und riss ein Zuckertütchen auf.
Eine Hand über den Teebeuteln, erwiderte Griffoni: »Noch einen mehr, und ich erhebe mich in die Lüfte und fliege ins Büro zurück.«
»Das Fenster ist zu klein«, sagte Brunetti. »Da passt du nicht durch.«
»Das hatte ich nicht bedacht«, meinte sie und tauchte einen Beutel in das heiße Wasser. »Was hast du gestern erfahren?«
Er berichtete ihr von seinen Gesprächen mit Borgato und dessen Neffen. Seine Schilderung, wie er sich verkleidet und den verschüchterten Beamten gespielt hatte, brachte Griffoni zum Lachen. Dann erzählte er, was er von Duso gehört hatte. Zu seiner Überraschung wollte sie nirgends etwas genauer wissen und schien es kaum erwarten zu können, dass er fertig wurde.
Er sah sie fragend an. »Was möchtest du mir sagen?«
Sie lächelte. »Bin ich so leicht zu durchschauen?«
Brunetti nickte, wie wenn jemand gleichzeitig mit ihm in eine schmale calle einbog und er ihm den Vortritt lassen wollte.
»Ich habe mich in Borgatos Vergangenheit umgesehen: Wo er sich in den Jahren aufgehalten hat, nachdem er von hier verschwunden war«, sagte sie, ihren Eifer bezwingend.
»Und?«, spornte Brunetti sie an.
»Er hat seinen Wohnsitz nie geändert, war die ganze Zeit unter seiner hiesigen Adresse gemeldet. Also habe ich mir überlegt, was für Spuren ich hinterlassen würde, wenn ich anderswo leben würde als dort, wo ich gemeldet bin.«
»Und das Ergebnis?«, fragte Brunetti, gespannt auf ihre Entdeckung.
»Etwas, worauf ein Venezianer niemals kommen würde«, antwortete sie.
»Darf ich dreimal raten?«
»Du kommst nie drauf, Guido, glaub mir.«
»Warum?«
»Weil Venezianer nicht Auto fahren und darum auch selten die Geschwindigkeit überschreiten, weil ihr keine Stoppschilder überfahrt und nicht in Autounfälle verwickelt seid.«
Als ihm endlich ein Licht aufging, musste er lachen.
»Während wir nichtsnutzigen Neapolitaner alle diese Dinge pausenlos tun. Weshalb mir so etwas natürlich einfällt.«
Brunetti fiel ein Stein vom Herzen, dass sie wieder so locker miteinander über Neapel sprechen konnten. »Du hast Borgato aufgespürt? Wunderbar. Wo?«
»Castel Volturno«, antwortete sie und fügte, obwohl sich das eigentlich von selbst verstand, hinzu: »Sitz der nigerianischen Mafia.«
»Erzähl.«
»Vor vierzehn Jahren hat er dort einen Auffahrunfall verursacht – an einer roten Ampel. Vor zwölf Jahren bekam er eine Buße, weil er in Villa Literno, etwa zehn Kilometer von Castel Volturno, bei Rot über eine Kreuzung fuhr. Und vor zehneinhalb Jahren bekam er in Cancello, auch keine zwanzig Kilometer entfernt, ein Bußgeld wegen Raserei. Seitdem nichts mehr, überhaupt kein Ärger mehr mit der Polizei.«
»Das lässt tief blicken«, warf Brunetti ein.
Griffoni nickte. »Denkst du dasselbe wie ich?«, fragte sie.
»Ja, jedenfalls wenn du denkst, er hat mit der nigerianischen Mafia zu tun, weil die Polizei ihn dann nämlich in Ruhe lassen würde.«
»Für wen sonst könnte er dort gearbeitet haben?«, fragte Griffoni. »Die ist der einzige Arbeitgeber dort. Nur mit kriminellen Geschäften kann man dort Geld verdienen.«
Beide verfielen in Schweigen, bis Griffoni die Geduld verlor und fragte: »Was unternehmen wir?«
»Nichts«, antwortete Brunetti prompt. »Wenn wir davon ausgehen, dass er da mitmischt, können wir nur abwarten und die Ohren offen halten.«
Griffoni sah ihn verwundert an. »Das habe ich von dir noch nie gehört: dass wir nichts machen können.«
Auch Brunetti fand es unerträglich, doch davon wurde es nicht weniger wahr. Er hatte – wie jeder Polizist im Land – seit Jahren von der nigerianischen Mafia gelesen und gehört: undurchdringlich, brutal, allgegenwärtig in der Gegend um Castel Volturno. Ein Kollege hatte ein Jahr dort durchgehalten und war dann in den vorzeitigen Ruhestand getreten. Über das, was er dort erlebt hatte, hüllte er sich in Schweigen, zu entlocken war ihm nur, die Stadt liege »in einem anderen Land«.
»Wir können nur weiter nach Informationen suchen. Wir brauchen mehr, als dass er in Castel Volturno gelebt hat: Das macht ihn nicht zum Verbrecher. Bis wir eine Verbindung finden …«, bekräftigte Brunetti, »können wir nichts tun.«
Griffoni ballte frustriert die Fäuste im Schoß.
»Immerhin war Borgatos Boot in den Unfall mit den Amerikanerinnen verwickelt«, meinte Brunetti.
Beide dachten schweigend nach, bis Brunetti sagte: »Ich habe im Krankenhaus in Mestre angerufen.«
»Und?«, fragte sie überrascht.
»Ich habe mit einem Arzt gesprochen, der nicht genauer Bescheid wusste. Er hat den Hörer an eine Schwester weitergegeben, die sagte, sie glaube, das Mädchen sei wach.«
»Die müssen doch wissen«, sagte Griffoni fassungslos, »wie es um sie steht. Oder ist das eine Verwechslung?«
»Wie meinst du das?«
Sie nahm ihre Teetasse in die Hand, betrachtete sie, als wundere sie sich, wie sie dort hingekommen war, und stellte sie wieder zurück. »Als ich gestern früh dort anrief, hieß es, sie sei immer noch bewusstlos.«
»Dann ist sie mittlerweile vielleicht aufgewacht«, sagte Brunetti, auch wenn er genau wusste, wie wenig man telefonischen Auskünften von Krankenhausmitarbeitern trauen konnte.
»Was hast du vor?«, fragte Griffoni.
»Zum allermindesten will ich mit ihrem Vater sprechen«, sagte Brunetti. »Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
»Vor zwei Tagen bin ich auf dem Heimweg vorbei. Sie war nicht bei Bewusstsein. Die Schwester meint, das könnte an den Schmerzmitteln liegen«, sagte Griffoni skeptisch.
»Wie lange warst du da?«, fragte Brunetti.
»Eine Stunde, vielleicht etwas weniger.« Angesichts Brunettis überraschter Miene erklärte sie: »Ihr Vater war da, und ich schlug ihm vor, in der Cafeteria etwas zu essen, ich könnte so lange bei ihr bleiben.«
Sie schenkte sich eine zweite Tasse Tee ein und nahm einen Schluck. Ein paar farblose Tropfen waren auf den Tisch gefallen. Griffoni verband sie mit einem Finger zu Kreisen, wischte die Hand an ihrer Serviette ab und erzählte: »Der Assistent des operierenden Arztes hatte Dienst, aber er konnte mir nicht viel sagen. Man könne nur abwarten. Sie werde schon aufwachen, wenn sie bereit dazu sei.«
»Was soll das denn heißen?«, fragte Brunetti.
»Das soll heißen«, erklärte Griffoni, »dass sie keinen Schimmer haben, was mit ihr los ist.« Sie trank einen Schluck und stellte die Tasse wieder hin.
»Angeblich haben sie für ihre Nase das Menschenmögliche getan«, sagte sie.
»Ja?«
Griffoni strich sich mit dem Zeigefinger über die Augenbraue. »Er sagt, die Platzwunde über dem Auge war kein Problem, die werde in sechs Monaten kaum noch zu sehen sein. Die haben sie mit Tape geschlossen.«
Sie sah aus dem Fenster nach den Leuten auf der riva. »Dann hat er erklärt, die Nase hätten sie gerichtet und provisorisch verarztet. Operieren können sie erst, wenn sie wieder bei Bewusstsein ist«, erzählte sie hastig, um das Thema hinter sich zu bringen.
Brunetti starrte immer noch auf Griffonis Augenbraue, während er an das Foto vom Gesicht des Mädchens dachte. Ohne seinen Blick zu bemerken, hob Griffoni eine Hand vor die Augen, als wolle sie sich vor den inneren Bildern schützen. »Mehr können sie nicht tun, zumindest vorläufig«, sagte sie, ließ die Hand sinken und sah ihn mit leerem Blick an. »Später habe ich gedacht, er hat geredet wie ein Archäologe, der einem erklärt, wie man eine antike griechische Vase rekonstruiert.« Und dann: »Gott, wie seltsam Chirurgen doch sind.« Sie senkte den Blick auf den Tisch und schüttelte ungläubig den Kopf.
Ihr Blick saugte sich an Brunettis Augen fest. »Er konnte gar nicht mehr zu reden aufhören. Wir waren im Schwesternzimmer – ihr Vater war mittlerweile wieder bei ihr –, und der Arzt wollte mir am liebsten alles aufzeichnen, was sie getan hatten.«
»Hat er eine Vorstellung, wie sie aussehen wird?«
»Das habe ich ihn auch gefragt«, antwortete Griffoni. »Er sagt, die Braue könnte möglicherweise in der Mitte nicht mehr genau dieselbe Höhe haben wie vorher, aber die Behandlung sei Routine, erfahrungsgemäß würde das später kaum auffallen. Er sagt, die Nase sei ein komplizierterer Fall, die werde womöglich nicht mehr so sein wie früher. Dann aber hat er lächelnd hinzugefügt, die könne sie sich in einem Jahr chirurgisch richten lassen und dann sähe sie wieder aus wie vor dem Unfall.«
Sie wollte sich Tee nachschenken, aber die Kanne war leer. »Gehen wir«, sagte sie, erhob sich aus der Nische, ging zur Theke und wechselte beim Bezahlen ein paar Worte mit Bamba. Im Gegensatz zu Sergio, seinem Arbeitgeber, tippte der senegalesische Barmann den korrekten Betrag in die Kasse und gab Griffoni die Quittung: Sergio hingegen nahm meistens nur das Geld, bedankte sich und gab keine Quittung; er ging davon aus, die Guardia di Finanza würde niemals einen Polizeibeamten anhalten und sich von ihm den Beweis dafür zeigen lassen, dass er die Rechnung und damit auch die Steuer bezahlt hatte.
Brunetti erkundigte sich bei Bamba nach Frau und Tochter und erfuhr, Pauline sei Klassenbeste in Mathematik und Erdkunde und seine Frau gehe dreimal die Woche vormittags bei zwei alten Leuten im selben Haus putzen.
»Gut, dass alle zu tun haben«, meinte Brunetti.
Griffoni fügte hinzu: »Und gut, dass alle hier sind.«
Bamba lächelte und schien sie am Arm berühren zu wollen, ließ die Hand dann aber auf den Tresen sinken. »Das ist Ihnen zu verdanken, Dottoressa«, sagte Bamba und bedachte Griffoni mit einem so innigen Blick, wie Brunetti ihn noch nie an ihm gesehen hatte.
Er hatte keine Ahnung, was für Strippen Griffoni bei ihren Freunden in Rom gezogen hatte, aber das Wunder war geschehen: Nachdem Bambas Antrag auf Familiennachzug jahrelang unbearbeitet liegengeblieben war, hatte die Einwanderungsbehörde binnen zwei Monaten nach Bambas tränenreichem Gespräch mit Griffoni den Antrag plötzlich bewilligt.
Als Brunetti sie einmal gefragt hatte, mit welchem Trick ihr dies gelungen sei, hatte sie kategorisch abgestritten, sich in »das systematische Zermalmen der Hoffnung« eingemischt zu haben – ein Ausdruck, mit dem sie das Vorgehen der Bürokraten im Innenministerium bei der Bearbeitung von Einwanderungsangelegenheiten zu bezeichnen pflegte. Schweigend gingen sie zur Questura zurück.